Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 52
23. Es beginnt
ОглавлениеJohanna gähnte.
Mochte die Unsterblichkeit auch ein Segen sein, hielt sie ihren Körper jung und agil, so war die Müdigkeit trotzdem ein elementarer Bestandteil der Existenz. Kein Zauber konnte das Bedürfnis nach Schlaf neutralisieren. Ebenso wenig etwas Nichtmagisches.
Da kann Leonardo noch so viele Dark Monster in sich hineinkippen, dachte sie mit Ekel.
Sie war auf dem Weg durch das Castillo, konnte einfach keinen Schlaf finden. Sie hatte vom Eindringen Claras und Chloes erfahren. Die beiden hatten begriffen, dass es einen Verräter gab, wollten Nachforschungen anstellen.
Johanna war nicht dumm. Im Laufe ihrer Existenz war sie mit ähnlichen Situationen konfrontiert worden. Eine solch explosive Information ließ sich keinesfalls auf Dauer verheimlichen.
Hinter ihr erklang ein Geräusch.
Sie fuhr herum.
Doch da waren nur Schatten.
»Ich werde noch paranoid. Kein Monster im Dunkeln, das dich töten will, Johanna«, murmelte sie.
Sie dachte zurück an die zahlreichen Kämpfe, die sie gegen den dunklen Rat oder seine Abgesandten ausgefochten hatte. Manchmal war sie als Siegerin daraus hervorgegangen, andere Male nicht. Immer wieder hatte sie Verletzungen davongetragen, manchmal gar lebensbedrohliche. Doch ihr Körper heilte stets.
»Warum habe ich nicht einfach das Alter eines Teenagers bekommen?«, grummelte sie.
Wenn das erste Leben als Nimag endete und die Unsterblichkeit einem als Geschenk gemacht wurde, konnte man nicht wirklich wählen. Das wurde für einen übernommen. Johanna selbst war weiter gealtert, bis sie schließlich in den Vierzigern unsterblich geworden war. Bei Leonardo war es umgekehrt gewesen.
Als alter Mann war er gestorben, dann jünger geworden und nun in den Dreißigern eingefroren. Albert würde wohl für immer in den Sechzigern hängen. Der Arme.
»Es ist eben doch stets Segen wie Fluch«, seufzte sie.
Sie nickte zwei Lichtkämpfern zu, die von einem Einsatz zurückkehrten und bog in den nächsten Gang ein. Hier lag ihr Ziel.
Aus den Augenwinkeln glaubte sie, einen Schatten vorbeihuschen zu sehen. Doch bei genauerem Hinsehen war da nichts. »Es wird wirklich Zeit fürs Bett.« Sie erkannte bereits von Weitem, dass die Tür offen stand. »Komisch.«
Im Nähergehen zog Johanna den Essenzstab.
Etwas stimmte nicht. Ihr Instinkt, durch Jahrhunderte des Kampfes geschärft, sprang an. Gleichzeitig versuchte ihr logisches Denken zu beschwichtigen. Sie befand sich im Castillo Maravilla. Niemand konnte hier eindringen, das Kristallnetz bildete eine nicht zu überwindende Sphäre. Und der Verräter würde sie kaum so offen angreifen. Oder doch?
Johanna erreichte den Raum.
Ein weiterer Schritt und sie stand inmitten von Chaos. Bilder waren von den Wänden gerissen worden, das Bett war zerfetzt. Möbel lagen in Trümmerstücken oder als Aschehäufchen am Boden.
Der Lichtkämpfer lag im Zentrum des Raumes, mitten in einer Blutlache.
Zuerst begriff Johanna gar nichts.
Wenn er gestorben wäre, hätte es doch längst ein Aurafeuer gegeben. Jeder hätte seinen Tod gespürt, ein neuer Erbe wäre erwacht.
»Er lebt noch«, flüsterte sie.
Sie rannte zu dem am Boden liegenden Körper. Gleichzeitig griff sie nach ihrem Kontaktstein und sandte eine Schockwelle zu den anderen Ratsmitgliedern, verwoben mit dem Bild, das sie sah.
Neben dem Lichtkämpfer ging sie in die Knie.
Kein Puls war zu spüren, keine Atmung. Er war tot. »Aber wie ist das möglich?«
Auf der gesamten Welt gab es nur eine Handvoll Artefakte, von denen sie wusste, dass sie einen endgültigen Sigiltod einleiten konnten. Ein eisiger Schauer rann ihr Rückgrat hinab, als sie begriff. Eine solche Waffe war hier im Castillo eingelagert worden. In den verbotenen Katakomben. Jemand musste sie entfernt und eingesetzt haben.
Irgendwo auf der Welt war im gleichen Augenblick ein Schattenkrieger gestorben, damit das Gleichgewicht erhalten blieb. Doch das war kein Trost.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie.
Sanft strich sie dem Toten über die Wange.
Hinter ihr erklangen Schritte. Leonardo betrat den Raum, dicht gefolgt von Tomoe.
»Nein«, kam es von der japanischen Unsterblichen.
»Er ist tot«, sagte Johanna.
Leonardo ging neben ihr in die Knie. »Aber wie kann das sein? Niemand hat etwas gespürt.« Sie sah in seinen Augen, dass er begriff. »Verdammt!«
»Der Verräter schlägt also los«, konstatierte Tomoe. »Ihr hattet recht.«
Johanna erhob sich.
In ihrem Inneren brodelte Wut.
»Er muss etwas herausgefunden haben«, sagte Leonardo. »Deshalb wurde er umgebracht.«
»Vielleicht.« Tomoe besah sich den Toten genau. »Oder es ist die erste Attacke einer ganzen Reihe.«
Stille breitete sich aus.
»Du weißt, was zu tun ist«, sagte Leonardo nach einer Weile.
Johanna nickte.
Sie berührte den Kontaktstein und leitete Zauber ein, die für einen solchen Fall hinterlegt worden waren. Das Castillo wurde hermetisch abgeriegelt, die Ordnungsmagier wurden aus den Betten geholt, Sicherheitsregeln griffen. Lichtkämpfer, die außerhalb unterwegs waren, sich im Einsatz befanden, mussten sich in sichere Häuser zurückziehen. Das Portalnetz wurde versiegelt, die Eingänge waren nicht länger zugänglich.
»Wer immer du auch bist, ich schwöre dir, ich finde dich«, flüsterte Johanna.
»Was ist denn hier los?«, erklang eine Stimme.
Leonardo, Tomoe und sie sahen gleichzeitig auf.
Im Türrahmen stand Clara Ashwell. Ihr Blick fiel auf den Toten. »Gryff?!«
Ihre Augen wurden groß wie Murmeln. Sie beugte sich zitternd zur Seite und erbrach sich, während Tränen über ihre Wangen rannen. Sie rannte zum Leichnam des ersten Ordnungsmagiers, brach schluchzend über ihm zusammen. »Nein! Oh, bitte, bitte, nein!«
Tomoe schenkte Clara einen Blick voller Mitleid. Leonardo schaute betreten zu Boden.
Johanna stand da, mit der rechten Hand am Kontaktstein, und betrachtete die Szene mit tiefer Traurigkeit. Einmal mehr hatten die Schattenkrieger gezeigt, wozu sie in der Lage waren. Wieder zerschmetterten sie die Hoffnung eines Menschen auf sein persönliches Glück.
Ich weiß, wie du dich fühlst, Clara, dachte Johanna. Ich finde den, der für das alles verantwortlich ist.
Doch abgesehen davon konnte sie nicht viel tun. Nur dabei zusehen, wie eine der Ihren den Tod eines Mannes betrauerte, den sie liebte. Tief in ihrem Inneren spürte Johanna, dass sie heute an einem Scheideweg standen.
Etwas begann.
Das Böse holte zum Schlag aus. Und wenn sie all ihre Erfahrungen aus diesem ewigen Krieg etwas gelehrt hatten, dann, dass es niemals bei nur einem Opfer blieb.
Ende des 2. Teils