Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 60

7. Idiotie

Оглавление

»Das ist lächerlich!« Kevin stand mit in die Hüfte gestemmten Fäusten vor Leonardo. Es fehlte nicht viel und er würde auf den Unsterblichen losgehen.

»Beruhig' dich«, sagte Chloe.

»Beruhigen?! Mein Bruder wurde von zwei übereifrigen Ordnungstrotteln fast umgebracht!«

Chris war in den Krankenflügel geschafft worden, von wo er direkt in eine Zelle weiterverfrachtet werden würde. Nach einem Wahrheitszauber wollten Eliot und seine Männer Antworten liefern, doch dazu musste Theresa ihn erst einmal wieder zusammenflicken.

»Es ist die Aufgabe dieser ›Ordnungstrottel‹, uns alle zu schützen.« Leonardo wirkte müde. Tiefe Ringe lagen unter seinen Augen. Die dunklen Locken fielen wellig auf die Schultern des Unsterblichen, wie immer trug er sein Lederhalsband mit dem kobaltblauen Stein und die dazugehörige Ledermanschette am linken Handgelenk, in der ein zweiter kleinerer Stein eingefasst war. »Immerhin wurde Chris ertappt, wie er die Sigilklinge in seinen Händen hielt.«

»Die kann doch jeder hier versteckt haben!« Kevins Wangen waren vor Zorn gerötet. »Mein Bruder ist der loyalste Lichtkämpfer, den es gibt. Na ja, das sind wir genau genommen alle. Welcher Verräter, der sich scheinbar wochenlang tarnt, macht so einen dummen Anfängerfehler?«

Leonardo zögerte.

»Da muss ich ihm recht geben.« Chloe deutete auf die geöffnete Schublade von Chris' Schreibtisch. »Ich meine, ehrlich, die Klinge war in der Schreibtischschublade! Die Ordnungsmagier hätten sie doch bei einer simplen Durchsuchung sofort gefunden.«

»Ihr glaubt, man hat sie ihm untergeschoben?«, fragte Leonardo. Der Unsterbliche wanderte im Zimmer umher. Chris' Schreibtischplatte beherbergte ein chaotisches Sammelsurium an Gegenständen, welches Chloe nicht genauer in Augenschein nehmen wollte. Für einen Moment glaubte sie, zwischen den Essensresten, die auf einem Teller langsam zum Leben erwachten, etwas krabbeln zu sehen.

Im Regal stapelten sich Bücher über Motorräder und Sportwagen. An den Wänden hingen Poster von Pin-up-Girls. Rechts des breiten Doppelbettes stand eine Hantelbank, daneben lagen Eisenstangen mit verschiedenen Gewichten.

Leonardo griff nach einer 100-Kilo-Hantel. Mühelos hob er sie hoch, wobei sich seine Muskeln unter dem Hemd spannten. Im Geiste sah Chloe, wie die Knöpfe davonflogen.

»Holla«, sagte sie anerkennend. »Wenn da mal nicht ein Clark Kent die Brille ablegt.«

Der Unsterbliche schmunzelte. »Warum? Dachtet ihr, weil ich ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel habe, gehöre ich zum alten Eisen?«

»Magie?«

»Nicht frech werden, Miss O’Sullivan«, sprach er sie tadelnd mit dem Nachnamen an. »Aber zurück zum Thema.« Er legte die Hantel wieder ab. »Ich denke ebenfalls, dass dein Bruder unschuldig ist, Kevin. Hier versucht jemand, falsche Spuren zu legen und Misstrauen zu schüren. Gryff ist tot, Clara liegt im Heilschlaf, Chris ist außer Gefecht gesetzt.« Er ging langsam auf und ab. »Jen und Alex sitzen außerhalb des Castillos fest, solange wir das Siegel nicht aufheben. Das Chaos breitet sich aus. Glücklicherweise haben fast alle Gruppen ihre Aufträge erfüllt, bald ist also jeder in sicheren Häusern untergebracht.«

»Was uns beim aktuellen Problem kaum weiterbringt.« Kevin wirkte noch immer aufgebracht, jedoch richtete sich seine Wut nicht länger gegen Leonardo. Eliot allerdings musste aufpassen, wenn er ihm das nächste Mal über den Weg lief.

»Was tun wir also?«, fragte Chloe. »Irgendwo hier rennt ein Mörder rum. Er besitzt seine Tatwaffe nicht mehr, aber das wird ihn kaum davon abhalten, Schaden anzurichten. Um zu töten, benötigt er keine Sigilklinge. Aktuell würde ein neuer Erbe schutzlos dort draußen rumrennen und wir würden weitere Freunde verlieren.«

Leonardo stand mit verschränkten Armen am Fenster. »Das ist mir bewusst. Sobald Chris mit einem Wahrheitszauber überprüft wurde, ist er rehabilitiert – oder eben nicht. Clara kann ebenfalls als unschuldig betrachtet werden, da sie die ganze Zeit über im Krankenflügel lag. Auch in anderen Teams konnten Lichtkämpfer als Tatverdächtige ausgeschlossen werden. Der Kreis wird enger.«

Chloe war weniger optimistisch. Bisher legte der Verräter eine ziemliche Pfiffigkeit an den Tag, wenn es darum ging, seine Identität zu verschleiern. Das Ganze gepaart mit absoluter Bösartigkeit. Er würde jede Intrige aus einem zweifellos reichhaltigen Repertoire anwenden. Solange sie nicht wussten, um wen es sich handelte, war er ihnen zwangsläufig immer einen Schritt voraus. Diese Sache musste von sehr langer Hand geplant worden sein.

»Ich bin in meinem Büro«, verkündete Leonardo. »Bei dem Gewusel im Krisenraum kann man keinen klaren Gedanken fassen. Informiert mich sofort, sobald ihr etwas heraus findet. Und gönnt euch auch ein paar ruhige Minuten, sammelt Kraft. Es nutzt niemandem etwas, wenn ihr zusammenbrecht.« Damit ging er hinaus.

»Sammelt Kraft«, äffte Kevin ihn nach.

»Das habe ich gehört«, erklang in der Ferne die Stimme des Unsterblichen.

Chloe konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Dafür musst du bestimmt ein paar Vorlesungen Ingenieursmagie besuchen.« Doch Kevin war humorresistent. »Hey, mach dir keine Sorgen. Chris kommt durch.«

»Diese verdammten Ordnungsheinis. Erst mal einen Doppelkraftschlag abfeuern und danach Fragen stellen.«

»Vergiss nicht, dass ihr Anführer getötet wurde. Zum einen hat jeder hier Gryff verehrt, zum anderen fehlt eine starke lenkende Hand. Eliot will sich beweisen, daher geht er sehr rigoros vor.«

»Johanna wird ihn niemals dauerhaft zum neuen obersten Ordnungsmagier machen«, war Kevin überzeugt. »Jetzt erst recht nicht mehr.«

Chloe schwieg. Möglicherweise tat sie genau das. Obgleich Eliot nicht beliebt war, verstand er doch etwas von seinem Fach. Und es gab durchaus Stimmen unter den Lichtkämpfern, die ein wenig mehr Regeltreue anmahnten. Ein rotes Tuch für sie. Gedankenverloren strich sie über das Krallen-Tattoo und das Piercing. Ihre eigene Art, ein Statement abzugeben und auszubrechen.

Nachdem Jamie damals im Krankenhaus gelandet war, Liam aber ohne Anklage davonkam, hatte sie ihr Vertrauen in die Behörden verloren. Nicht nur das. Dieses Heile-Welt-Abziehbild namens Gesellschaft, das bis ins Mark verdorben war, schien ihr plötzlich falsch. Niemand erhob die Stimme, keiner sagte ein Wort. Alle ließen sich in Konventionen zwängen, schwammen mit dem Mainstream und gingen brav ihrer Arbeit nach. Hauptsache die eigene kleine Welt blieb erhalten. Da schaute man auch schon mal weg, wenn etwas Schlimmes geschah. Es betraf ja nur die anderen.

»Die grauen Herren regieren die Welt«, murmelte sie in Erinnerung an ein altes Kinderbuch.

»Was?«

»Nichts.« Sie winkte ab. »Wir können Eliot keinesfalls die Ermittlungen überlassen. Momentan sind nur noch du, Max und ich übrig.«

»Stimmt.« Kevin verstaute seinen Essenzstab im Gürteletui. »Er ist auch irgendwie komisch.«

»Was meinst du? Habt ihr Probleme?«

»Nein.« Der Freund winkte ab. »Er ist nur irgendwie geheimniskrämerisch. Das ist untypisch für ihn. Er wollte mir nicht erzählen, was sein Team gerade macht, als ich ihn danach gefragt habe.«

»Vermutlich ist er im Stress. Bei jedem hier liegen die Nerven blank, aber jeder reagiert anders darauf, geht anders damit um.«

»Stimmt wohl. Vielleicht sollten wir es machen wie Leonardo.« Nachdenklich sah er zur Tür, durch die der Unsterbliche verschwunden war. »Einfach eine kleine Auszeit nehmen. Ein paar Minuten Ruhe. Ich kann schon nicht mehr klar denken.«

Chloe war ebenfalls müde, wusste aber doch, dass sie innerlich nicht entspannen konnte. Sie war viel zu aufgewühlt. »Vielleicht setzen wir uns kurz zusammen in den Wohlfühlflügel.«

So nannten die Lichtkämpfer den Freizeitbereich des Castillos, in dem gegessen und getrunken wurde und durch Dimensionsfalten allerlei andere Freizeitaktivitäten möglich waren.

»Geh du schon vor. Ich schaue noch mal nach Chris. Holst du mir einen Kaffee?«

»Wird gemacht.«

Sie ging davon, darüber grübelnd, was sie tun konnten, um den Mörder aus seinem Versteck zu locken. Die Uhr tickte. Denn eines war klar: Er würde erneut zuschlagen.

»Wenn wir uns nicht vorher durch Paranoia selbst zerfleischen.«

Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik

Подняться наверх