Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 51
22. Ich hasse Portale
ОглавлениеAlex’ Kopf schwirrte.
Gemeinsam mit Jen hastete er durch Nostradamus’ Refugium, dem Portal entgegen. »Ich wusste nicht, dass wir einen so weiten Weg zurückgelegt haben.«
»Raum ist relativ.« Sie räusperte sich. »Verdammt, warum sind wir nicht früher darauf gekommen, dass es einen Verräter gibt?«
»Na ja, so was ist wohl kaum normal.«
»Eigentlich gibt es das ständig«, widersprach sie. »In Firmen oder der Politik fallen sich Verbündete immer wieder in den Rücken.«
»Jaaa«, gab er zu. »Aber doch nicht bei einer so großen Sache. Man ist gut oder böse.«
Sie stiegen Steinstufen hinab.
»Du wirst bald feststellen, dass einfaches Schwarz-Weiß-Denken dich nicht weiterbringt. Es mag oft klar und deutlich erscheinen, ist in Wahrheit aber vielschichtig und kompliziert. Das durften wir beide heute ja erleben.«
Ein Knoten bildete sich in seinem Magen. Der Gedanke, dass jemand miterlebte, was er damals getan hatte, war schrecklich. Der Hass und die Wut, geboren aus so vielen Jahren des Überlebenskampfes in der Gosse, hinterließen ihre Spuren.
Umgekehrt erging es Jen wohl nicht besser. Sie war geschlagen worden, hatte Leid verursacht und schließlich sogar Tod. Er konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, durch welche innere Hölle sie gegangen war.
Vor einigen Jahren, als er Abends durch die Stadt gejoggt war, war er einem alten Mann begegnet. Dieser hatte aus der Ferne beobachtet, wie ein paar Jugendliche einen anderen aufgrund seiner Hautfarbe zusammenschlugen. Da in diesem Augenblick die Bobbys aufgetaucht waren, hatte Alex nicht eingreifen müssen. Eine solche Szene war traurigerweise nicht unüblich. Der alte Mann sah ihn traurig an und sagte: »Wir stehen vor dem Fenster, blicken hinaus und sehen da diesen Anderen. Er ist nur auf seinen Vorteil bedacht, denkt in Schubladen und hegt Vorurteile gegen alles und jedem. Wir bilden unsere Meinung über ihn und verurteilen ihn innerhalb von Sekunden, halten ihn für arrogant, oberflächlich und vieles mehr.« Er lächelte traurig. »Und dann bemerken wir, dass es kein Fenster ist, sondern ein Spiegel.« Ohne ein weiteres Wort ging er davon.
Damals hatte Alex nicht begriffen, was der Alte ihm hatte sagen wollen. Heute verstand er es.
Sein Blick erfasste Jen. »Wie hast du das nur überlebt?«, flüsterte er. Zu spät wurde ihm klar, dass er die Frage laut ausgesprochen hatte.
Jen wusste sofort, was er meinte. »Nun ja, das Castillo hat einen guten Psychologen.«
»Was?«
»Das heißt, ›wie bitte‹«, korrigierte sie ihn frech schmunzelnd. »Aber ernsthaft: Wir erleben im tagtäglichen Kampf furchtbare Dinge. Da benötigt man ab und zu Hilfe.«
»Oh, warte«, er hob die Hand, »lass mich raten: Doktor Sigmund Freud persönlich?«
Lachfalten umrahmten Jens Augen, als sie kicherte. »Nein, da liegst du falsch. Lass dich überraschen. Bestimmt bist du auch früher oder später fällig. Seine Heilmethode ist auf jeden Fall etwas Besonderes.«
Sie steuerten auf den Raum mit dem Portal zu.
»Wer, glaubst du, ist der Verräter?«, fragte Alex.
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Jen. »Das Problem ist, dass ein guter Verräter eben als Freund durchgeht. Weißt du, nach dem großen Kampf vor einhundertsechsundsechzig Jahren lag das halbe Castillo in Trümmern. Sogar bis in das Archiv waren sie vorgedrungen, die Schattenkämpfer. Die Archivarin hat die Räume separiert, doch zwei wurden fast vollständig zerstört.«
»Klingt übel.«
»War es auch«, bestätigte Jen. »Ein Kraftschlag hat die Hälfte der eingelagerten Mentigloben vernichtet. Erinnerungen, Wissen, es ging so viel verloren. Das alles, weil sie einem der Ihren vertraut hatten. Und wir sprechen hier von Unsterblichen mit einem immensen Wissensschatz.«
»Du willst sagen, dass der Blödmann verdammt gut war. Verstanden. Aber mal so ganz nebenbei, was sollen wir denn tun, wenn wir zurück sind?«
»Darüber habe ich auch nachgedacht. Abgesehen von unserem Bericht wissen wir ja recht wenig. Allerdings hoffe ich auf den Folianten.«
»Was genau hast du gesehen?«
Sie betraten den Raum, in dem das Pentagramm auf dem Boden in das Holz gebrannt war.
Jen blieb stehen. »Ich konnte sehen, nein: fühlen, was ich machen muss. Meine Hand lag auf dem Folianten, die Schrift kroch über meine Haut. Und plötzlich war alles lesbar. Ich verstand, was Joshua niedergeschrieben hat.«
»Und?«
»Natürlich war ich nicht wirklich da, aber ich weiß nun, wie es geht. Aber da war noch mehr.«
»Ja?«, hakte Alex neugierig nach.
»Nur ein Gefühl. Angst. Der Foliant enthüllt etwas Gefährliches, das die Welt in ihren Grundfesten erschüttern kann. Frag mich nicht, woher ich das weiß.«
»Warum verbrennen wir das Ding nicht einfach? Also so richtig. Magisch.«
»Weil er uns möglicherweise einen Vorteil im Kampf gegen die Schattenkrieger bringt«, erklärte Jen. »Es ist mein Erbe und vielleicht der Weg zu einem endgültigen Sieg. Dann wäre dieser ewige Krieg endlich vorbei.«
»Das wäre eine feine Sache«, sagte Alex.
In Gedanken sah er sich in einem Pool schwimmen, ringsum in der Luft hingen Sekt- und Champagnerflaschen. Halbnackte Blondinen rekelten sich auf den Liegestühlen. Er sah zu Jen. Gut, ein paar brünette Schönheiten wären auch dabei.
»Will ich wissen, was du gerade denkst?«, fragte Jen mit geschürzten Lippen.
»Hä?«
»Typisch Mann. Manchmal kann man eure Gedanken auf dem Gesicht ablesen. Und das Sprachzentrum leidet meist gleich mit. Also, wollen wir? Du hast die Ehre.«
Alex malte mit seinem Finger das Symbol für die Portalmanifestation in die Luft. Seine Spur loderte bernsteinfarben auf. Zwar war der Portalzugang immer hier – ein Magier hätte ihn sonst nicht einfach so erschaffen können –, doch die Manifestation musste stets neu durchgeführt werden.
Er beendete den Zauber mit den Worten: »Porta aventum.«
Ein Wabern in der Luft kennzeichnete die Position, an der der Zugang sich geöffnet hatte. Es wirkte, als flimmerte die Luft in der Mittagshitze über Asphalt.
»Ich hasse Portale«, stöhnte er.
»Ach was.« Jen winkte ab. »Du hast dich nicht mal mehr übergeben. Noch ein, zwei Mal und alles ist gut.«
Sie machte einen Schritt nach vorne und verschwand.
Alex sah sich ein letztes Mal um, dann tat er es ihr gleich.
Er wurde herumgeschleudert, als befände er sich auf einer Abenteuerrutschbahn im Schwimmbad. Im Dunkeln. Tintige Schwärze umgab ihn. Sein Körper fühlte sich zerquetscht, zerfetzt und falsch zusammengesetzt an. Minuten wurden zur Ewigkeit zu Sekunden.
Das Portal spie ihn aus.
Alex flog durch die Luft, krachte mit der Nase nach unten auf den Stein. »Aua. Echt, und das fandest du jetzt nicht schlimm?« Er erhob sich.
Vor ihm stand Jen. Sie hielt die Spitze des Essenzstabes auf sein Herz gerichtet.
»Woah.« Er sprang zur Seite. »Was tust du?«
Wütend erwiderte sie: »Endlich! Wo warst du?!«
»Ähm. Da drin.« Er deutete auf die Stelle, an der das Flimmern gerade verschwand.
»Aber …«
»Kannst du das Ding bitte nach unten richten«, sagte er. Als Jen der Aufforderung nachkam und die Spitze in Alex’ Schritt deutete, ergänzte er: »Ah, nein. Noch weiter. Richtung Boden. Mein Sack ist mir heilig.«
Erst jetzt bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Tiefe Risse klafften in den Wänden, Steinbrocken lagen herum. »Das ist nicht das Castillo.«
»Nein, ist es nicht. Ich habe die letzten drei Stunden damit zugebracht, einen Ausgang zu finden, aber vergeblich.«
»Drei Stunden?!«, echote Alex. »Ich war direkt hinter dir.«
Jen ließ den Essenzstab hinter ihrem Gürtel verschwinden. »Die Schattenfrau. Sie muss das Portal manipuliert haben. Wir sind so dumm.«
Er begriff. »Ein Wunder, dass wir noch leben.«
»Möglicherweise war das nicht geplant«, flüsterte sie. »Wenn sie das Tor hat entarten lassen, sollte es uns vielleicht für immer auf Reisen schicken. Keine Ahnung. Auf jeden Fall weiß ich nicht, wo wir gelandet sind. Um das festzustellen, müssen wir aus diesem dämlichen unterirdischen Gangsystem raus.«
Alex sah umher.
Dass die Decke noch nicht herabgestürzt war, glich einem Wunder. Wo sie auch herausgekommen waren, es handelte sich um einen alten Ort.
Gemeinsam verließen sie den Raum.
Seine Gedanken wanderten zu Chris, Clara, Kevin und Max ins Castillo.
Haltet durch, Leute. Wir kommen so schnell es geht und werden euch helfen.
Es blieb nur die Hoffnung, dass die Schattenfrau ihren Verräter nicht sofort aktivierte.
Eine Hoffnung, die enttäuscht wurde.