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11. Eine Prise Minze

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Alex öffnete die Augen.

Im ersten Moment erwartete er, seine Mutter aus dem angrenzenden Raum rufen zu hören. Normalerweise klang das in etwa nach: »Kaffee ist fertig, schwing deinen faulen Arsch von der Matratze.« Das war natürlich Spaß, sie wusste, dass er hart an einem beruflichen Erfolg arbeitete. In diesem Moment hätte er alles für jene Worte gegeben und die dazugehörige Tasse Kaffee. Am besten im Zwillingsmodus mit einer Kopfschmerztablette. Seine wirren Gedanken lichteten sich zäh.

Er fuhr in die Höhe. »Jen?!«

»Aua«, erklang es hinter einem umgestürzten Schreibtisch. »Schrei nicht so.«

Eine Armeslänge entfernt lag eine Holzkugel am Boden, in die vier Öffnungen gebohrt worden waren. »Was war das?« Hektisch tastete er nach seinem Essenzstab. »Er ist weg.«

»Meinst du deinen Intellekt? Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber der war nie da.«

»Mein Essenzstab!«, brüllte er. Der Verlust ließ das Sigil panisch aufflackern.

Ein Fluchen erklang. »Dito.« Jen kam in die Höhe. Sie wirkte zerzaust, doch nicht verletzt. Ihr Blick wanderte umher. »Die Unterlagen sind ebenfalls fort.«

Alex ging in die Knie und hob die Holzkugel auf. »Was ist das?«

Jen betrachtete sie mit ungläubigem und gleichermaßen faszinierten Blick. »Ein sehr altes Kampfartefakt. Früher verwendeten die Lichtkämpfer Hohlkugeln aus Holz, transformierten Gas zu Flüssigkeit, taten sie hinein und versiegelten die Löcher durch Eisenpfropfen. Die waren über Eisenornamente untereinander verbunden. Sie brannten magische Symbole in das Metall. Sobald man sie in einer bestimmten Abfolge berührte, floss das Eisen zurück und die Flüssigkeit transformierte wieder zu Gas. Diesen Effekt hast du eben kennenlernen dürfen.«

»Cool. Was hatten die denn sonst noch so?«

Jen verdrehte die Augen. »Echt jetzt? Das Ding hat dich gerade umgehauen. Was ist daran cool?«

Er ignorierte die Frage, schenkte ihr lediglich ein freches Grinsen, von dem er wusste, dass er sie damit zur Weißglut trieb. »Und?«

»Du bist echt so durchschaubar«, erwiderte sie. »Ein Klischee auf zwei Beinen. Ein Höhlenmensch.«

»So, glaubst du? Wenn ich so leicht zu durchschauen bin, dann nenn mir doch mal mein Lieblingshobby«, forderte er. »Du kommst sicher nicht drauf.«

Jen schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Herausforderung angenommen. Aber vielleicht sollten wir uns erst darum kümmern.« Sie deutete auf die Holzkugel. »Ich hätte meinen Essenzstab gerne wieder. Und danach den direkten Weg zum Ausgang.«

Sie taumelte.

»Hey, alles klar?«, fragte Alex besorgt. Er wollte sie stützen, doch Jen lehnte ab.

»Ist okay. Nachwirkungen von dem Zeug.«

Er legte die Holzkugel auf den Tisch. »Können wir es wie bei Nostradamus machen, ein Aufspürzauber?«

»Nein, leider nicht. Hier haben wir keine Körperflüssigkeit. Und wage es nicht, jetzt zu grinsen oder irgendeinen zweideutigen Witz zu machen.«

Alex grinste. »Käme mir doch nie in den Sinn.«

»Höhlenmensch.«

»Bist du mit dem Hobby schon weiter?«

»Lesen ist es auf jeden Fall nicht«, sagte Jen süffisant, nur, um sofort das Thema zu wechseln. »Wir werden das Castillo durchsuchen müssen. Ganz klassisch. Immerhin dürfte der Weitblick hier gut funktionieren.«

»Oh, hm.«

»Du bekommst ihn noch nicht hin?«

»Nein«, gab Alex widerwillig zu. »Anfangs klappt es, aber dann wird alles unscharf. Als hätte ich eine viel zu starke Brille auf der Nase.«

Jen sank auf die Kante des Tisches. Sie wirkte blass und müde. Ein leichter Schweißfilm stand ihr auf der Stirn. Das Betäubungsgas hatte bei ihr scheinbar deutlich agressiver gewirkt. »Das Problem ist in diesem Fall nicht der Weitblick selbst, sondern die Justierung. Du kommst nicht zur Ruhe, veränderst den Zoom ständig und dadurch werden Dinge unscharf. Du musst dich entspannen.«

Er schaute sie erwartungsvoll an. Doch Jen schwieg. »Das ist alles? Ich soll mich entspannen.«

»Ja.«

»Du bist ein toller Yoda. Hey, alles gut, entspann dich einfach, dann klappt’s mit der Macht.«

»Hast du mich gerade mit einem kleinen, grünen, runzeligen Alien verglichen?« Jen warf ihm einen warnenden Blick von der Sorte Sag jetzt nichts Falsches zu.

»Oh, du kennst Star Wars. Na ja, er ist agil und stark und … wollten wir nicht auf die Suche gehen?«

»Tolle Idee, Kent.«

Sie gingen gemeinsam zur Tür, traten vorsichtig auf den Gang hinaus. Da die Essenzstäbe fort waren, konnten sie die Magie des Sigils nicht mehr verstärken oder in Material einwirken lassen. Andererseits hatte ihr Gegner sie am Leben gelassen, was Anlass zur Hoffnung gab.

»Reiten«, tippte Jen.

»Nein«, erwiderte Alex. »Falls du von Pferden sprichst.«

»Sei einfach still.«

Sie pirschten die Brüstung entlang. Immer wieder kniff sie die Augen zusammen, die daraufhin glasig wurden. So wirkte der Einsatz des Weitblicks nach außen immer. Alex gab ebenfalls sein Bestes, konnte eine bestimmte Stelle jedoch nur für Sekunden halten, bevor alles unscharf wurde. Das sorgte zunehmend für ein Schwindelgefühl.

Es stellte sich recht schnell heraus, dass in den Räumen der oberen Stockwerke niemand war. Sie schlichen weiter, arbeiteten sich nach unten vor. Alex hielt seinen Zeigefinger erhoben, um blitzschnell einen Schutz erschaffen zu können. Die benötigten Worte sagte er sich innerlich immer wieder vor, damit sie im Fall der Fälle sofort herauskamen.

»Riechst du das?«, fragte Jen.

Er schnupperte. »Minze.«

»Küche«, entschied sie daraufhin.

Sich gegenseitig Deckung gebend, steuerten sie die Küche des ersten Castillos an. Tatsächlich hörten sie von Weitem, dass dort jemand rumorte. Töpfe und Pfannen schepperten, Gläser klirrten, der Geruch nach Kräutern wurde intensiver.

Alex lugte um die Ecke.

Eine kleine runde Frau ließ soeben die beiden Essenzstäbe in einen Kochtopf fallen. Sie mochte Anfang fünfzig sein, trug das Haar zu einem Dutt gebunden und grummelte vor sich hin. Er konnte die Worte nicht genau verstehen, was einfach daran lag, dass sie zu leise schimpfte. Flüche waren es aber auf jeden Fall, so herzhaft, wie sie herausgepfeffert wurden.

Die Frau öffnete eine Schublade und im nächsten Augenblick lag ein seltsamer länglicher Eisenstab in ihrer Hand, der von Ornamenten bedeckt war. Sie drückte einen kleinen Hebel hinunter, worauf am oberen Ende eine Flamme heraussprang, und führte diese an die Stäbe im Topf heran.

Alex keuchte auf, als er begriff, was die Unbekannte vorhatte.

»Das lassen wir mal bleiben!«, rief Jen.

Sie sprang in die Küche, hob ihre rechte Hand und malte blitzschnell ein Symbol in die Luft. Magentaessenz erschuf einen Wirbel, der die beiden Stäbe aus dem Topf hervorreißen sollte.

Die Unbekannte griff nach einem Deckel und schmetterte ihn auf den Topf, der Zauber erlosch sofort. »Ha! Da müsst ihr Gesocks schon früher aufstehen!« Sie schnappte sich eine Bratpfanne. »Kommt nur her!«

»Echt jetzt?«, fragte Alex.

Jen wollte ein weiteres Symbol zeichnen, doch die Unbekannte zog blitzschnell ein Messer aus einem Holzblock und warf. Jen konnte knapp ausweichen, stolperte jedoch und krachte gegen einen Holztisch an der Wand.

Während Alex noch begriff, dass die Frau zwar lediglich mit Küchengeräten auf sie losging, diese ihnen aber durchaus gefährlich werden konnten, sprang sie auf ihn zu.

Er hob den Finger, um den Schutz zu erschaffen, doch da sauste die Bratpfanne heran. Als schmetterte sie einen Tennisball mit einem Schläger, schlug sie ihm das Eisen frontal gegen den Kopf. Ein greller Schmerz explodierte hinter Alex' Stirn und löschte sein Bewusstsein aus.

Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik

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