Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 59
6. Die Spur zum Verräter
ОглавлениеChloe ließ ihren Blick über die Suchgloben schweifen. Normalerweise dienten sie dazu, schwarze Magie und schwarzmagische Artefakte aufzuspüren, waren auf verschiedene Länder der Welt ausgerichtet. Bedauerlicherweise konnte das Castillo selbst nicht einfach so überprüft werden. Hierfür war eine Freigabe durch einen der Unsterblichen notwendig. Johanna hatte diese mittlerweile erteilt, doch nun galt es, erst noch die Störstrahlung der Artefakte auszugleichen.
»Manchmal ist Magie schlimmer als Technik«, kommentierte jemand neben ihr.
Chloe musste nicht hinsehen, um ihn zu erkennen. »Eliot.«
Der bisherige Vertreter von Gryff Hunter war zum neuen obersten Ordnungsmagier aufgestiegen. Er war regelversessen, neugierig und zweifellos paranoid. Mit seiner bleichen, hochgewachsenen Statur, dem dunklen, strähnigen Haar und den stets etwas zusammengekniffenen Augen löste er einen Schauer bei ihr aus. Sie konnte ihn nicht ausstehen.
»Wir sind gleich soweit.« Er deutete auf die Globen. »Meine Leute stehen bereit auszuschwärmen. Normalerweise hätte ich dich ja nicht teilnehmen lassen.«
Oh ja, das wusste sie. Immerhin durfte man kaum jemandem vertrauen. Einzig jenen, die sich einem Wahrheitszauber unterwarfen. Genau das hatte sie getan. Damit war sie in den Kreis derjenigen aufgerückt, auf die Eliot Sarin zurückgreifen wollte. Auch Johanna war mittlerweile von jedem Verdacht freigesprochen, ebenso Tomoe. Einstein fehlte noch, ebenso Leonardo. Die anderen Unsterblichen befanden sich nicht im Castillo. Die rehabilitierten Ordnungsmagier waren zu diesem Zeitpunkt über das gesamte Gebäude verstreut.
»Was machen die Befragungen?«, wollte sie wissen.
»Es geht zu langsam voran«, erwiderte er verärgert. »Den Leuten ist ihre Privatsphäre wichtiger als das Auffinden eines Verräters. Dabei geht es nur um einen Wahrheitszauber. Das ist lächerlich.«
Womit Eliot erneut bewies, dass Empathie ihm fremd war. Ein solcher Zauber verhinderte, dass der Betroffene Lügen aussprechen konnte. So weit, so gut. Außerdem entstand jedoch ein innerer Drang, auf Fragen zu antworten. Damit war der jeweilige Lichtkämpfer dem Fragenden ausgeliefert. Eine unangenehme Erfahrung, wie sie nun selbst wusste.
»Ja, sie sind schon schlimm«, gab sie ironisch zurück. »Privatsphäre. Schrecklich.«
Eliots Lippen kräuselten sich. »Reden wir noch einmal darüber, sobald das nächste Opfer zu beklagen ist.«
Goldgelbes Licht umwaberte den eingesetzten Suchglobus, Funken flirrten durch die Luft. Ein Punkt entstand an jener Stelle, an der sich das Castillo befand. Chloe aktivierte den Zoom. Sie stürzten der Oberfläche entgegen. Das Gebäude wurde von außen sichtbar. Es gab nur wenige Globen, die so nahe an das gesuchte Objekt herankamen. Die meisten anderen zeigten nur das Land oder die Region. Die Ansicht tat einen weiteren Satz und erlosch.
»Was war das?«, fragte Chloe.
»Eine Tarnung«, fluchte Eliot. »Die Sigilklinge wurde maskiert. Wir können sie auf diese Art nicht aufspüren.«
»Keine Möglichkeit?«
»Nein«, sagte der oberste Ordnungsmagier. »Ein Artefakt besitzt vordefinierte Eigenschaften, die nur aktiviert oder deaktiviert werden können. Verbesserung ist unmöglich. Der Globus ist nutzlos.«
Das weiß ich, du Idiot. Chloe hatte wissen wollen, ob es eine andere Möglichkeit gab, den Aufenthaltsort aufzuspüren. Bedauerlicherweise besaß Eliot zwar Akribie und Ausdauer, aber null Fantasie. Wenn es darum ging, Probleme mit Kreativität zu lösen, versagte er völlig. Er und Gryff hatten ein sehr effektives Team ergeben, doch Chloe glaubte nicht eine Sekunde daran, dass er auf gleichem Niveau würde weiterarbeiten können.
Während Eliot über den Kontaktstein leise mit seinen Leuten sprach und Anweisungen erteilte, ließ sie ihre Gedanken schweifen. Es musste eine Möglichkeit geben, die verfluchte Klinge aufzuspüren. Und wo diese war, war der Verräter nicht weit.
»Sie ist gesichert«, murmelte sie, »aber das war sie nicht immer. Sie wurde schließlich eingesetzt.«
»Was sagst du?«, fragte Eliot.
»Ein Zeitschattenzauber«, erwiderte sie voll neu erwachtem Elan. »So können wir prüfen, wo die Klinge sich befunden hat, bevor sie maskiert worden ist.«
Der oberste Ordnungsmagier nickte beeindruckt. »Das ist eine ausgezeichnete Idee.«
Sie überließ ihm den Vortritt. Alle Lichtkämpfer, die sich für diese Spezialisierung entschieden hatten, beherrschten Zeitschattenzauber aus dem Effeff. Eliot zog seinen Essenzstab und malte die Worte der Macht in die Luft, verband sie miteinander und wob ein komplexes Gebilde. Kurz vor der Vollendung sagte er: »Tempus revellio.«
Das Symbolgebilde schwebte zur Wand, wo eine mit Tusche angefertigte Karte der Zimmerfluchten des Castillos hing. Die Energie verdichtete sich zu einem Tuschepunkt, über dem eine Zeitangabe prangte.
»Da, direkt vor den verbotenen Katakomben.« Eliot deutete auf die Karte.
»Vorgestern«, ergänzte Chloe. »Da muss er die Klinge gerade geholt haben.«
Der Punkt bewegte sich durch die Eingangshalle in Richtung der Treppe. Er verschwand – und tauchte kurz darauf an anderer Stelle wieder auf.
»Ein Tag später«, stellte sie fest. »Er hat ihn maskiert, aber dann für die Verwendung demaskiert. Das ist einige Minuten bevor Gryff starb.«
Der Punkt wanderte den Gang entlang, erreichte das Zimmer des Geliebten von Clara. Der Gedanke an die Freundin, die traumatisiert auf der Krankenstation schlief, versetzte Chloe einen Stich. Sie wollte in das Bild springen, das Verhängnis aufhalten, doch das war unmöglich. Kurz darauf verließ der Tuschepunkt das Zimmer. Er verschwand.
»Verdammt«, fluchte Eliot. »Wie macht er das? Dazu gehört wirklich starke Magie, und selbst die wirkt nur wenige Minuten. Er muss die Klinge von dort zu einem abgeschirmten Ort bringen. Aber wo im Castillo gibt es einen? Hm. Möglicherweise ist es einer der Unsterblichen. Das wird immer wahrscheinlicher. Wir haben zuerst Johanna und Tomoe überprüft, Leonardo steht gleich an. Ebenso Albert.«
Aus dem Nichts heraus erschien der Punkt erneut. Flimmerte, verschwand, entstand neu.
Chloe ging näher heran. »Der Tarnzauber hat fluktuiert.«
Eliot starrte nicht minder verblüfft auf die Karte. »Das war vor wenigen Minuten.«
Der Punkt wanderte auf die Räumlichkeiten eines Lichtkämpfers zu, kam dort zur Ruhe und verschwand. Eine Gänsehaut überzog Chloes Arme, als sie sah, wessen Räume es waren. »Das ist unmöglich.«
Eliot griff nach seinem Kontaktstein. »Wir wissen, wo die Klinge ist. Holt sie.«
Chloe zog ihren Essenzstab. Ohne auf den Protest des obersten Ordnungsmagiers zu hören, rannte sie aus dem Globenraum. Sie musste dorthin, sehen, ob er wirklich der Verräter war. Türen flogen an ihr vorbei, Treppenstufen, das Geländer. In Gedanken legte sie sich den Angriff zurecht. Die Tür zu seinen Räumen stand offen. Sie blieb stehen, starrte auf den Mann, in dem sie einen Freund gesehen hatte. Er hielt die Sigilklinge in der Hand, hatte sie soeben aus seinem Versteck geholt.
»Chris«, hauchte sie.
Zwei Ordnungsmagier stürmten herein, die Stäbe in die Höhe gereckt. Fast gleichzeitig riefen sie: »Potesta Maxima.« Der synchron abgefeuerte maximale Kraftschlag aus den Essenzstäben krachte gegen den Verräter. Die Sigilklinge flog aus seiner Hand.
Knochen brachen, Blut spritzte, als Chris mit voller Wucht gegen die Wand geschmettert wurde. Bewusstlos sackte er zu Boden.
Eliot kam hereingestürmt. »Tut mir leid, Chloe.«
Sie nickte nur, starrte wie betäubt auf den Freund, unter dem sich eine Blutlache ausbreitete.