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7. Hinter dem Schleier
ОглавлениеNachdenklich starrte Leonardo auf die Steintische. Bis auf einen waren alle leer. Bei der Explosion des Herrenhauses am Rand von London waren alle Mitglieder der Wächtergruppe zu Asche verbrannt – mit Ausnahme von einem. Ein Schutzamulett hing um seinen Hals, das ihn vor dem magischen Feuer bewahrt hatte.
Er betastete das kleine Notizbuch, das er selbst in Leder gebunden hatte. Auf der Rückseite war ein Haken angebracht, mit dem er es an seinem Gürtel befestigen konnte. Bis tief in die Nacht hatte er alte Unterlagen studiert, die er über die Jahre dicht beschrieben hatte. Obgleich er fasziniert war von moderner Technik, Computern, Smartphones, Pads, bevorzugte er doch Papier.
Die Art und Weise, wie der Wächter zu Tode gekommen war, erinnerte ihn an etwas. Leider konnte er nicht festmachen, was besagtes Etwas war. Im Laufe seines langen Lebens hatte er so viel erlebt, so viele Orte bereist, gegen Schwarzmagier gekämpft und Artefakte geborgen – er wusste einfach nicht mehr alle Details.
Er erinnerte sich glasklar an die Gassen von Florenz. Den Geruch des Sommers, das Lachen der Mädchen, das Feiern am Lagerfeuer. Seine Knabenjahre gehörten zu den schönsten Lebensabschnitten.
Auch die Stunden vor seinem herannahenden Tod, das Ende seines ersten Lebens, waren präsent. Die zitternde Kerzenflamme, seine Hand, die den Federkiel über das Pergament führte, um seinen Nachlass zu regeln. Das Kratzen der Spitze, während sie Worte niederbannte.
Doch das Ende war nicht gekommen. Stattdessen ein zweites Leben, eine zweite Jugend, Verantwortung. Seitdem nutzte er sein Wissen und seine Magie, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Er ließ das Notizbuch los, kehrte zurück in die Wirklichkeit.
Ein Mediker untersuchte den Toten gerade, tastete ihn mittels Machtsymbolen ab, warf Mineralstaub auf ihn und prüfte magische Einflüsse. Bisher erfolglos.
»Und?«, erklang die Stimme Johannas. Wie immer war es ihr gelungen, lautlos an ihn heranzuschleichen.
»Nichts.« Leonardo blieb nur zu hoffen, dass sich das nicht änderte. Die ganze Sache wurde zur Katastrophe. »Wie konnten die wissen, wo der Foliant ist?«
Johanna zuckte mit den Schultern. »Das wüsste ich auch gerne. Als Jennifer diesen Alexander Kent hierherbrachte, dachte ich schon …«
»Ich auch«, unterbrach Leonardo. »Zugetraut hätte ich es den Schattenkämpfern. Aber seine Aura ist Bernstein. Das Sigil können wir leider nicht mehr prüfen, doch die Stärke liegt im oberen Drittel.« Er schnaubte. »Wir hätten in den Folianten schauen sollen.«
»Wie?«
»Egal wie!«, entfuhr es Leonardo. »Irgendein Zauber hätte es schon möglich gemacht.«
Johanna schüttelte den Kopf. »Das hat die Wächtergruppe seit Jahren versucht. Weder wir noch die Schattenkämpfer konnten die Linien verfolgen. Und das ist gut so. Andernfalls würde jeder versuchen, einzugreifen.«
Der andere Unsterbliche betrachtete den toten Wächter. »Bist du dir denn absolut sicher, dass sie es nicht können?«
Johanna rang mit sich. »Ja, das bin ich.«
Er wollte bereits etwas über Irrtümer sagen, die einen auf den Scheiterhaufen bringen konnten – obgleich das natürlich unfair gewesen wäre –, als er zusammenzuckte.
»Ich habe etwas«, verkündete der Mediker im gleichen Augenblick.
Gemeinsam traten sie näher.
In der Luft entstand ein Wabern, dann fiel der Illusionierungszauber zusammen.
»Wow.« Leonardo wich einen Schritt zurück.
Johanna hob die Hand vor die Nase. »Wie lange ist er schon tot?«
»Wochen«, sagte der Mediker.
»Todesursache?«
»Noch unbekannt.«
Johanna nickte. »Danke.«
Gemeinsam verließen sie den Untersuchungsbereich. Von hier würde der Körper – die Überreste davon – zu einem der modernen Labore im oberen Bereich gebracht werden. Während hier unten die magischen Untersuchungen stattfanden, war es dort oben an der Wissenschaft, Antworten zu finden.
Auf dem Gang blickte Leonardo sich vorsichtig um. Sie waren alleine. »Wenn die Gruppe schon länger tot war, haben sie wohl kaum einen Kampf gegen den Bund des Sehenden Auges ausgefochten. Das war eine Falle. Jemand hat den Bund auf den Folianten aufmerksam gemacht, nachdem die Wächtergruppe schon tot war. Bis auf einen, der scheinbar tagelang überlebt hat. Der Angriff auf Mark …«
»Niemand wusste, dass er und Jennifer es sein würden, die nach England gehen. Es kann nichts mit ihm zu tun haben.« Johanna seufzte. »Beim Rest stimme ich dir zu. Aber warum hätten die Schattenkämpfer den Folianten zurücklassen sollen?«
Leonardo ließ seine Gedanken schweifen. »Möglicherweise ging es tatsächlich um Mark. Den Grund für die Angriffe der letzten Zeit konnten wir nie klären.«
»Eine Spezialtruppe hat ihn heimlich überwacht, er wusste nicht einmal, dass wir das Muster entdeckt hatten«, sagte Johanna. »Soweit mir bekannt ist, hat er seinem Team nichts davon erzählt.«
»Wenn du allerdings recht hast und Mark nur ein Kollateralschaden war, dann ging es um den Folianten. In dem Fall ergibt ihr Verhalten keinen Sinn. Es sei denn, die Schattenkämpfer konnten den Illusionierungszauber nicht alleine lösen.« Er schnippte. »Natürlich. Sie haben Lichtkämpfer in das Herrenhaus gelockt, damit diese den Folianten für sie finden.«
»Und überlassen ihn dann dem Bund des Sehenden Auges?«, warf Johanna ein. »Ein toller Plan. Wirklich.«
»Möglicherweise kennen wir nur das Ende noch nicht. Der Bund mag ja streitlustig sein, aber gegen eine Horde Schattenkämpfer …«
»Das mögen ja machtlüsterne Irre sein, aber ihre Pläne sind meist überraschend effektiv. Der dunkle Rat wird es uns nicht leicht machen, den Folianten zurückzubekommen.« Bei diesen Worten sah er den Hass in ihrem Gesicht. »Und sie werden keinesfalls darauf verzichten.«
Mochte es auch einhundertsechsundsechzig Jahre zurückliegen, der Verrat von dem, der sich ihr Freund genannt hatte, lastete noch immer schwer auf ihnen allen. So viele waren damals gestorben. In jener Nacht, als alles seinen Anfang genommen hatte.
»Eines ist klar«, sagte Leonardo. »Der Graf von Saint Germain hätte den Folianten niemals aus der Hand gegeben, wenn er ihn einmal in seine gierigen Griffel bekommen hätte. Ich tendiere eher dazu, dass er nichts davon weiß.«
Johanna hatte sich mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, hielt die Arme verschränkt. »Du glaubst, jemand handelt ohne das Wissen des dunklen Rates? Derjenige lebt gefährlich.«
»Aber es passt«, gab Leonardo zu bedenken. »Als Jennifer Alexander Kent erreichte, war der Parasit bereits tot. Ich würde ja gerne glauben, dass unser Neuerweckter abrupt einen perfekten Feuerzauber angewendet hat, doch er lag in einem ziemlich starken Bannkreis. Irgendwie hängen der Foliant und Alexander Kent zusammen; zumindest sind sie Teile eines Plans, den die Schattenkämpfer geschmiedet haben.«
Er sah in Johannas Gesicht, dass sie sich schon Gedanken darüber gemacht hatte. Immer mehr Rätsel schienen aus dem Nichts heraus zu entstehen, miteinander verbunden durch Elemente, die noch unsichtbar waren.
»Also gut«, sagte sie. »Jennifers Team wird sich darauf stürzen, den Folianten zurückzuholen. Ich behalte alle im Auge. Allerdings werden sie Fragen stellen.«
Leonardo durchdachte die Situation. Oft wünschte er sich, dass die Lichtkämpfer die Weisheit, die er, Johanna und die anderen Unsterblichen des Rates über Generationen hinweg angesammelt hatten, mehr respektieren würden. Doch es bestand kein Zweifel, dass Worte wie »Bitte, vertraut uns« nicht helfen würden. Im Gegenteil, es würde die Neugierde des Teams noch mehr anstacheln. »Alexander Kent wird in den nächsten Tagen sowieso damit beschäftigt sein, sich in einer völlig neuen Welt zurechtzufinden. Für die anderen … wir werden mit den Samthandschuhen nicht weiterkommen.«
»Ich weiß«, seufzte Johanna. »Leider.«