Читать книгу Schiffbruch - Andres Bruetsch - Страница 10
4 Sonntag
ОглавлениеPatrick wälzte sich so lange im Bett hin und her, bis ihn Aline in halbwachem Zustand bat, doch woanders zu schlafen. Er stieg wortlos aus dem Bett, suchte seine Kleider zusammen und tappte im Dunkeln in das Büro im Erdgeschoss. Dort richtete er sich behelfsmässig auf der Chaiselongue ein. Das Büro – es war auch Alines Arbeitszimmer – ging direkt auf den von hohen Bäumen umgebenen Kiesplatz vor dem Haus.
Es war noch nicht sechs Uhr, als ihn Stimmen aus dem oberflächlichen Schlaf holten. Ja, das waren Stimmen, versicherte er sich und wusste gleichzeitig, dass genau das, was er befürchtet hatte, jetzt, an diesem Sonntagmorgen, eintraf. Er schaute vorsichtig aus dem Fenster und sah drei, nein, vier uniformierte Menschen herumgehen, unter ihnen ein Mann um die dreissig in Jeans, Sakko und Krawatte.
Es regnete. Patrick wollte verhindern, dass gar einem einfallen würde, zu klingeln. Er zog sich hastig eine Trainerhose und ein T-Shirt über und entriegelte die Haustüre.
Sofort kam der zivil angezogene Mann auf ihn zu, der sich als Imfeld, Staatsanwalt, vorstellte.
«Herr Regierungsrat, es sieht fast so aus, als hätten Sie uns erwartet.» Er sprach in diskreter Lautstärke – zum Glück, dachte Patrick.
Geistesgegenwärtig reagierte er. Nicht, weil er nicht schlafen konnte, wäre er bereits auf den Beinen, sondern:
«Ich bin am Sonntag meist früh im Büro, um all den privaten Kram zu erledigen, für den ich unter der Woche keine Zeit finde …»
Imfeld zeigte Verständnis. Das hier seien die Kolleginnen und Kollegen von der Kantonspolizei, alle nickten ihm stumm zu. Das Ganze sei reine Routinesache und er bitte um Verständnis, aber vor dem Gesetz seien alle gleich. «Doch wem sage ich das, Sie sind ja Anwalt und Regierungsrat …»
«Selbstverständlich», versuchte Patrick jovial zu wirken – «ich habe absolutes Verständnis.» Ruhig bleiben, möglichst unauffällig, versuchte er sich zu überzeugen. Wobei, hat er sich nicht schon verraten? Der Staatsanwalt hatte ja noch nicht einmal einen Hinweis geäussert, worum es geht und er hat voreilig von «Verständnis» geschwafelt. Wofür? Das war aber auch dem jungen Anwalt, vermutlich vollkommen unerfahren, nicht aufgefallen.
Wichtig war jetzt: Das Geschwätz unter der Türe musste so schnell wie möglich aufhören, Aline hatte einen leichten Schlaf. So versuchte Patrick, das vierköpfige Polizei-Aufgebot von der Eingangstüre zur weiter weg liegenden Garage zu locken, was halbwegs gelang.
«Sie haben ein Holzboot – Herr Girard – und Sie wissen ja, wegen diesem Unfall befragen wir nun sämtliche Besitzer von Holzbooten auf unserem See … somit auch Sie. Ihr Boot liegt in einem privaten Bootshaus, richtig?»
Patrick erzählte nun seine Geschichte mit dem «Malheur», wie er es nannte, darum sei sein Boot zurzeit in der Werft. Imfeld stellte klar, dass seine Crew – unter ihnen Frau Petrlic, eine Forensikerin – dennoch kurz das Bootshaus anschauen möchte, «auch wenn Ihr Boot in der Werft ist. Seit wann, wenn ich fragen darf?», wollte Imfeld wissen.
«Seit vorgestern.»
«Das wäre also der Tag nach dem Unfall …»
«Ja, wegen meiner Blödheit … ist mir noch nie passiert, so was …», scherzte Patrick. Zwei uniformierte, bewaffnete Männer mit Funkgeräten und Kopfhörer im Ohr, sowie die ebenfalls offiziell gekleidete Forensikerin schritten, zusammen mit dem Staatsanwalt und angeführt von Regierungsrat Patrick Girard in Trainerhose, über den nassen Rasen zum Bootshaus. Er war heilfroh, dass diese Geschichte sich innerhalb des geschützten Gartens und um diese Uhrzeit an einem Sonntagmorgen abspielte. Wenn das weitere Prozedere ablaufen würde, wie er es sich wünschte, würden weder Aline noch Lena etwas von diesem Polizei-Überfall erfahren.
Im Bootshaus schauten sich alle genau um und Patrick musste minutiös schildern, wo und wie der Unfall passiert war. Er wiederholte, wie peinlich ihm das wäre, ihm, der hunderte Male das Boot in dieses Haus gefahren habe, «aber eben, die liebe Technik … Ist auch eine alte Dame, das Schiff», fügte er scheinbar gelöst an. Das verstehe er und habe er auch kapiert, reagierte Staatsanwalt Imfeld etwas gereizt.
Es wurden Fotos geschossen, man brach einige Partikel von der beschädigten Wand ab und steckte sie in eine Plastiktüte. Einer mass den Wasserstand im Bootshaus.
«So weit gut für uns. Wir lassen Sie das Wochenende geniessen, Herr Girard. Zwei Fragen noch.»
Patrick hatte sich zu früh entspannt.
«Um welche Uhrzeit ist dieses – wie Sie es nennen – ‹Malheur› passiert?»
«Genau das habe ich mir nicht überlegt», schoss es Patrick durch den Kopf.
«Ja, wann war das?», sagte er halblaut, um Zeit zu schinden. Nun, präzise könne er das nicht sagen – auf dem Wasser schaue er normalerweise nicht auf die Uhr. «Muss ich ja sonst andauernd», lachte er unpassend.
«Ungefähr.» Imfeld blieb staubtrocken.
«Ich denke, es war nach elf Uhr … Ja, viertel nach. Glaube ich.»
«Aha, 23.15 Uhr». Die Forensikerin tippte auch das in ihr Tablet. «Und bei welchem Bootsbauer liegt Ihr Schiff jetzt?»
Patrick erklärte halbwegs erleichtert, dass der Schiffbauer, Ivan Piccinonno, seit Freitag in den Ferien sei. Und er müsse benachrichtigt werden, das Schiff liege in einer abgeschlossenen Halle.
Sie würden sich gleich mit ihm in Verbindung setzen und sobald sie ihn erreicht hätten, würden sie ihn – «also Sie, Herr Girard» – informieren. Bei der Inspektion des Schiffs müsse er allerdings nicht mit dabei sein.
Imfeld nahm sein Handy hervor. Es steckte in einer bunten, geradezu kindischen Hülle, auf der «keep going» stand.
«Sie haben sicher seine Handynummer, oder?»
Patrick gab ihm die Nummer. Während Imfeld sie emsig in sein Handy tippte, sagte Patrick: «Wie gesagt, Piccinonno ist in den Ferien und er wäre wohl dankbar, wenn man ihn nicht schon um diese Zeit …»
«Das machen wir schon richtig, Herr Regierungsrat, seien Sie unbesorgt», belehrte ihn Imfeld. «Übrigens, wo haben Sie sich verletzt?»
«Sie meinen den Kratzer an der Stirne? Gleich hier, beim Steg, es war dunkel und das Schilf, ja, ich müsste es längst etwas zurückstutzen. Aber da hat man ja heutzutage seine Hemmungen … Naturschutz, Sie verstehen.»
Die Delegation machte sich davon. Patrick musste sich setzen. «War ich gut?», fragte er sich, – «war ich glaubhaft?»
Es regnete weiter an diesem «Tag des Denkmals». Patrick wäre heute zu nichts verpflichtet gewesen, auch wenn das Amt für Denkmalschutz und Archäologie seinem Departement unterstand. Sigi Balmer, seit drei Monaten Verantwortlicher für die Denkmalpflege, hatte ihm eine Mail geschrieben, dass er natürlich mehr als willkommen sei – egal wo. Am meisten würde er ihm allerdings die Führung durch den frisch renovierten ‹Rosenhof› empfehlen.
Patrick hätte in seiner rastlosen Verfassung selbst an der Führung durch das eigene Büro teilgenommen. Vollkommen unvorstellbar war für ihn lediglich, den heutigen Tag in Musse zu Hause zu verbringen, weil er dazu schlicht unfähig war. Er hatte zwar Aline gegenüber oft gejammert, wie sehr er die klassischen Sonntage mit Frühstücksei und gemütlichem Zeitungslesen vermisse wegen all dieser «Hundsverlocheten», an denen seine Anwesenheit erwünscht war.
Und jetzt hätte er Zeit dafür. Doch was tun? Seine innere Unruhe nagte an ihm. Es war noch nicht acht Uhr und er hatte bereits den zweiten Kaffee getrunken. Aline schlief noch immer, Lena sowieso.
«Lange hat es nicht geregnet», überlegte Patrick, um sich abzulenken. Er öffnete die Verandatüre und atmete die feuchte, nach nassem Gras duftende Luft ein. Er könnte fischen gehen. Genau, das würde er tun. Jetzt halt vom Steg aus. Das Wetter war ideal. Doch dann kam ihm in den Sinn, dass die Fischerrute und all das Zeugs auf dem Boot waren.
Er schaute auf die Gartenmöbel, die ungeordnet auf dem Rasen herumstanden. Sie glänzten klitschnass und tropften vor sich hin. Die müsste er längst einölen, aber nicht, wenn das Holz so feucht war wie jetzt. Aline hatte ihn mehrmals darum gebeten. Ihm fiel auf, dass er sich all diese unwichtigen Gedanken nur machte, um Zeit zu vertreiben, um seine Unruhe erträglich zu machen. Er würde sich gescheiter am Computer das politische Streitgespräch anschauen, das von gestern Abend … ja, und spätestens um halb elf würde er mit dem Fahrrad zum «Rosenhof» fahren. Wie spät war es jetzt? Er schaute auf sein Handy. Bald halb neun. Er könnte auch das Frühstück für Aline vorbereiten. Vielleicht würde sie ihn sogar zum «Rosenhof» begleiten. Er ertappte sich beim Gedanken, dass ein Foto mit ihm und Aline, das bestimmt morgen in der Zeitung erschiene, jetzt die genau richtige Wirkung hätte.
Er würde sie fragen.
Tatsächlich fuhren sie später mit Velos gemeinsam zum «Rosenhof» – trotz Regen. Und tatsächlich war dort nicht nur ein begeisterter Sigi Balmer, sondern auch der Fotograf des Lokalblatts. Aline hasste diese Bilder, die jeweils mit der Beschriftung «Regierungsrat Patrick Girard mit seiner Frau Aline» publiziert wurden.
Die Führung durch das schöne Patrizierhaus mit seinen Nebengebäuden war informativ und «Balmer machte das recht unterhaltsam», fand Aline. Patrick lud alle, auch die asiatische Freundin von Balmer, zu einem Glas Weisswein in der «Remise» ein. Etsuko – sie kam ursprünglich aus Osaka – war wegen des Unfalls auf dem See noch immer aufgewühlt. Dies wurde verständlich, als sie die tragische Geschichte ihrer Schwester erzählte, der vor drei Jahren das Gleiche zugestossen war. Als Folge davon sitze sie heute im Rollstuhl, erklärte Etsuko in gutem Englisch. Aline zeigte sich ihrerseits betroffen und erwähnte, dass sie lediglich wisse, dass der junge Mann schwer verletzt im Spital liege und seine Freundin traumatisiert sei. Balmer wollte wissen, ob man mittlerweile den Bootsführer kenne. Da er dabei Patrick anschaute, wohl weil Balmer glaubte, Patrick müsse als Politiker besser informiert sein, zuckte der mit den Schultern und meinte knapp: Ihm sei nichts bekannt.
Man werde ihn sicher finden, fügte Balmer an. «Das macht den armen Kerl auch nicht wieder gesund», sagte Aline. Ihr täte auch seine Freundin furchtbar leid – «ein junges Paar … schrecklich».
Es war später als fünfzehn Uhr, als sie sich auf den Weg machten. Der Regen hatte aufgehört und so bot sich ein Umweg über den Pfaffenberg an. Patrick war alles recht, was diesen Sonntag verkürzte.
Lena meldete sich für den Abend ab, sie gehe ins Kino. Patrick erhielt wenig später eine Mitteilung, man habe den Werftbesitzer erreicht. Das trug nicht zu einem entspannten Abend bei.
«Ich mache noch eine Runde», sagte er zu Aline, die am Tisch die monatlichen Zahlungen bearbeitete. Sie war erstaunt, jetzt seien sie doch den ganzen Tag schon unterwegs gewesen.
«Bald kommt der ‹Tatort› – jetzt bleib doch hier, was bist du auch so nervös heute!»