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1 Donnerstagnacht
ОглавлениеFür Lena war es immer wieder ein Abtauchen in eine Welt, in der es Unwahrheit nicht gab. Nachdem sie das winzige Mikrofon im sumpfigen Boden des Seeufers verankert hatte, stülpte sie sich die Kopfhörer über und verschwand für gut zwanzig Minuten im nachtschwarzen Wasser. Sie tat dies nicht wie eine Taucherin, umgeben von Atemgeräuschen und aufsteigenden Luftblasen. Lena gesellte sich lautlos und unsichtbar zu den Hechten, hörte ihre kräftigen Bewegungen und glaubte manchmal, einen grummelnden Wels zu vernehmen. Sicher war sie, die wendigen Flussbarsche an ihrem Geräusch zu erkennen, wie sie in flinker Art durch das Wasser pfeilten.
Um in diese Welt zu entfliehen, brauchte sie kein Auto, kein Flugzeug, es reichten ihr wenige Schritte vom Haus ihrer Eltern zum Seeufer. Dank der hochwertigen Instrumente, die sie sich mit dem Lohn als Aushilfe-Kellnerin im Seerestaurant «La Veduta» gekauft hatte, stand ihr ein unermesslich weites und vielfältiges Universum offen. Vor allem nachts, wenn der Verkehr ruhte, die Menschen schliefen und somit ihre Autos und anderen Maschinen stillstanden. Dann, wenn sich die meisten ihrer Freundinnen und Freunde virtuell im Cyberspace unterhielten und bewegten.
Kaum jemand wusste von ihrer stillen Passion. Ihre Mutter, ja, sie hatte ihr das fehlende Geld für die Unterwasser-Mikrofone, die sogenannten Hydrofone, zugesteckt.
Ihr Vater hätte es wissen können, wenn es ihn überhaupt interessiert hätte, wenn er Zeit gehabt hätte, wenn er sich um sie gekümmert hätte, nebst seiner politischen Arbeit, seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen. Ja, vielleicht hätte es ihn dann sogar fasziniert, konnte sich Lena vorstellen.
So, wie sie sich ein ganz anderes Verhältnis zu ihm hätte vorstellen können. Sie wusste nicht, was für eines, aber sicher ein anderes als das, wie sie es jetzt hatte. Auch ein anderes, als er es sich gewünscht hätte, wie Lena vermutete.
Was hatte er sie verwöhnt als kleines Mädchen, sie beschenkt, sie geherzt. Nichts blieb Wunsch, alles wurde gleich umgesetzt, wurde real. Spielzeug, Kleider, ein neues Board, andere Tapeten für ihr Zimmer, ein kleines Segelboot, alles stand da, lag vor ihr, war schon passiert – oft, bevor sie die Möglichkeit gehabt hätte, den Wunsch zu äussern. Er sagte zu ihr: «Das magst du doch … das wollen heute alle.»
Einen Spielcomputer zum Beispiel, den sie nicht anrührte, oder, vor wenigen Jahren, ein Boxspring-Bett. Warum sollte sie ihr Bett nicht mehr mögen? Aber das neue stand schon in ihrem Zimmer und das alte war entsorgt, als sie nach Hause kam. Dazu strahlte er und umarmte sie. Als sie enttäuscht, gar verärgert reagierte, dass er über ihr Bett verfügt hatte, ohne sie vorher zu informieren, zeigte er sich beleidigt. Sie hätte doch die ganze Zeit von ihrer Freundin Sandra und ihrem tollen Boxspring-Bett erzählt.
Am schlimmsten waren für Lena Auftritte bei politischen Veranstaltungen. Weil sich ihre Mutter aus guten Gründen seit Jahren weigerte, die adrette und gleichzeitig gebildete Gattin des charmanten Regierungsrats zu mimen, musste Lena nach aussen die intakte Familie verkörpern. So hatte sie dem jungen Pianisten, der das kantonale Stipendium gewonnen hatte, den Blumenstrauss zu übergeben, oder dem Rektor – der zu jener Zeit gleichzeitig ihr Mathematik-Lehrer war – den Schlüssel zur neuen Turnhalle zu überreichen.
Je älter sie wurde, je hübscher und fraulicher sie sich entwickelte, umso lieber schien ihr Vater, der Regierungsrat, sie an seiner Seite zu sehen. Bis sie sich weigerte. Nicht nur weil sie, wie sie ihm etwas grob sagte, keine Lust mehr verspürte, als Maskottchen aufzutreten, sondern vielmehr, weil seine politische Haltung immer weniger mit ihrer übereinstimmte.
Das war auch der Moment, als er sein Verhalten ihr gegenüber veränderte. Plötzlich, fiel ihr auf, sprach er kaum mehr mit ihr. Wenn er mit ihr sprach, kritisierte er sie für ihr Aussehen, ihre Kleider und mehr und mehr zog er ihre Ansichten ins Lächerliche.
Auch berührte er sie kaum mehr – kein Küsschen, keine Umarmung. Darüber war sie allerdings froh, denn sie hatte seit Langem angefangen, sich gegen seine Umarmungen zu wehren. Auf seinem Schoss hatte sie sich seit jeher unwohl gefühlt und sie konnte es nicht ausstehen, wenn er sie auf die Lippen küsste.
«Was hast du auch? Ich bin doch dein Vater!», sagte er dann verletzt.
Es tat selbst Lena leid, dass sie ihm auswich. Doch je älter sie wurde, desto heftiger war ihre Ablehnung. Schliesslich begann sie sich für ihr Verhalten zu schämen, empfand es als «nicht normal». So sehr, dass sie ihre innersten Gefühle ihrer Mutter anvertraute.
Das hätte mit ihrer Entwicklung zur jungen Frau zu tun, meinte sie, und sei durchaus normal.
Sie hätte es doch schon als kleines Kind nie gemocht, wenn er sie anfasste, erwiderte Lena.
«Mach’ dir keine Sorgen. Nicht alle Menschen mögen das, das ist nicht so besonders …»
Das Thema war somit erledigt, zumindest für ihre Mutter. Lena fühlte sich in diesem für sie wichtigen Empfinden von ihr alleine gelassen.
Umso mehr suchte sie bei ihr die körperliche Nähe.
Es gab eine Phase, da war sie geradezu süchtig nach der Wärme, die sie bei ihrer Mutter fand. Obwohl sie damals schon siebzehn Jahre alt war, liebte es Lena, zu ihr ins Bett zu schlüpfen, während ihre Mutter in einem ihrer unzähligen Bücher las und ihr Vater bis spät abends an politischen Veranstaltungen unterwegs war. Kurz bevor er nach Hause kam, schickte die Mutter sie jeweils zurück in ihr Zimmer. Doch einmal waren sie beide eingeschlafen und erwachten erst, als er schon im Zimmer stand. Im Halbschlaf sah sie die Silhouette ihres Vaters und wie er gerade hastig die Krawatte unter dem Hemdkragen hervorschlenzte. Vor allem an das zischelnde Geräusch des Krawattenstoffs konnte sie sich erinnern und an den Satz:
«Was soll denn das? Sie ist doch kein Kind mehr …» Nicht: «Du bist doch kein Kind mehr.» Und Lena wusste seit dieser Nacht: Sie war kein Kind mehr. Nicht mehr das Kind ihres Vaters.
In der Folge entwickelte sich ihre Liebe für das stille Universum der ungehörten Töne. Sie wusste, dass sich die Forschung mehr und mehr für die «stummen Fische» interessierte, man bereits wusste, dass Fische untereinander kommunizieren und sich in ihrem Gehirn eine Art neuronales Sprachzentrum befindet.
Ein lautes Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Verwirrt streifte sie den Kopfhörer ab und hörte jetzt das dumpfe Gurgeln eines schweren Motors im Wasser. Was geschah, konnte sie nicht erkennen, das Schilf stand dicht, zudem war es dunkel.
«Das muss ein Motorboot sein. Es hat sich vermutlich im sandigen Boden festgefahren», dachte sie. Jedenfalls tönte der Motor, als würde das Boot auf wenigen Metern hin- und herfahren. Lena packte ihr Equipment zusammen.
Das Motorengeräusch wurde ruhiger, dann leuchtete kurz ein Suchscheinwerfer auf. «Das kann eigentlich nur das Schiff meines Vaters sein», überlegte sie sich, und tatsächlich drang wenig später Licht aus der hölzernen Bootshütte, welche auf dem Grundstück ihrer Eltern lag. Dann krachte es, Holz zersplitterte, der Motor wurde abgewürgt. Stille.
Lena war beunruhigt, was war da geschehen? Mit ihrem Vater konnte das nichts zu tun haben. Der könnte das Boot blindlings unbeschadet in die Hütte fahren. Doch wer sonst könnte es sein? Nicht mal die Mutter liess er ans Steuer seiner geliebten «Aurora». Obwohl sie sich ängstigte, schlich Lena, geschützt vom hohen Schilf, seitlich an die Hütte heran. Sie vernahm das vertraute Quietschen der Ketten, das Boot wurde hochgehievt.
Ruhe. Später das leise Geräusch von Wasser, das vom Schiff abtropfte. Jetzt das Knarren der Tür, Licht aus – Schritte auf dem Holzsteg. Die Silhouette eines Mannes, Lena glaubte, ihren Vater zu erkennen, verwarf diese Vermutung. Sie verhielt sich ruhig und wartete. Eine, zwei Minuten – reglos. Dann ging sie vorsichtig zur Bootshütte, schob die dürre Holztüre auf.
Das Schiff hing wie üblich in den Gurten, einen halben Meter über Wasser. Also musste das doch ihr Vater gewesen sein, der soeben über den Steg gegangen war. Niemand sonst hätte in der kurzen Zeit das schwere Boot fachgerecht versorgen können. Doch was hatte er gemacht? Der Bug war eingeschlagen, aus dem grossen Leck tropfte noch das Wasser. Er musste heftig den Steinsockel der Hütte gerammt haben, vermutete sie. War er betrunken? Doch so wirkte er nicht, wie er da über den Steg gegangen war. Das alles passte nicht zusammen, wunderte sich Lena.