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2 Freitag

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Es würde kein gewöhnlicher Freitag werden. Aline wird zwar wie üblich um neun in der Bibliothek sein, Philip wird wie üblich ein Croissant zu viel bringen, da er wie üblich vergessen wird, dass Doris am Freitag nur nachmittags arbeitet. Auch wird sich kaum etwas Unerwartetes ereignen. Bücher werden geholt, andere zurückgebracht, DVDs ausgeliehen, CDs angehört. Vermutlich wird auch eine Schulklasse auftauchen, um zu erfahren, wie es heute in einer modernen Bibliothek zu- und hergeht. Und bestimmt wird Herr Moos – als Kläusi Moos stadtbekannt – schon beim Eingang warten, um anschliessend in der Zeitungsecke in seiner verwahrlosten Art die anderen Besucherinnen und Besucher zu nerven.

Ungewöhnlich wird sein, dass sie selber bereits um elf Uhr die Bibliothek verlassen wird, um zu Hause Frau Herrmann zu treffen, die einmal mehr das Catering für den Abend zubereiten wird. Wie Alines Mann Patrick meinte, werden an die achtzig Leute aus Politik-, Finanz und Wirtschaft auftauchen. «Sogar ein halbes Dutzend aus dem Kulturkuchen», fügte er an.

Noch stand Aline in der modernen Küche in ihrem Haus, braute sich einen Kaffee und freute sich darauf, ihn wie jeden Morgen stehend auf der Veranda zu trinken. Sie liebte die halbe Stunde für sich allein, kurz nach sechs Uhr. Dazu hörte sie die Nachrichten am Radio.

Erst dann erschien üblicherweise Patrick, der seinerseits die Nachrichten beim Rasieren im Badezimmer bereits gehört hatte. Zu einem gewöhnlichen Tag passte auch der Duft seines Rasierwassers, der Patrick gleichsam voranschwebte und ihn so ankündigte.

Heute war das anders. Das Aftershave war intensiver und Patrick stand bereits vor halb sieben auf der Veranda. Zudem schwatzte er viel. Insbesondere ärgerte Aline, dass er – rücksichtslos, wie sie fand – das Radio abdrehte und meinte: «Können wir kurz den Abend besprechen? Ich habe heute ein sehr enges Programm. Zudem ist mir ein Malheur passiert.» Den letzten Satz sagte er, als handle es sich um eine Nebensächlichkeit.

«Was für ein Malheur?», wollte Aline wissen.

«Mit dem Boot», erklärte er. «Irgendwie war wohl das Gaskabel verklemmt. Jedenfalls, beim Hineinmanövrieren ins Bootshaus ist’s passiert. Ich habe den Bug eingedrückt.»

«Und was hat das mit dem heutigen Tag zu tun?», fragte Aline nach.

Er werde das Boot gleich heute Morgen zu Piccinonno in die Werft bringen, da der heute Nacht noch in die Ferien fahre.

«Und er hat heute Morgen noch schnell Zeit, dein Boot zu reparieren?»

«Sieht so aus.»

«Da kann ja der Schaden nicht gross sein. Hast du dich verletzt?» Sie schaute kurz auf die Wunde oberhalb seines linken Auges.

«Nicht weiter schlimm … das Schilf, ich müsste es längst zurückstutzen.»

Aline nahm ihre halbvolle Kaffeetasse zur Hand:

«Kurz nach elf kommt Sabine Herrmann, um den Raum für den Abend vorzubereiten. So weit ist alles organisiert. Ich wäre froh, wenn du vor fünf Uhr hier wärst», sagte Aline und ging zurück in die Küche. Patrick rief ihr hinterher:

«Könntest du mich in einer Stunde in der Werft abholen?»

«Unmöglich – frag’ Lena … vielleicht hat sie Zeit.»

«Warum in aller Welt sollte sie keine Zeit haben?»

Aline gelang es nicht, Patricks schnippische Bemerkung zu überhören. Seine Sticheleien gegen Lena fand sie ätzend. Um eine schlechte Stimmung zu erzeugen, reichte mittlerweile, dass Lena und er im gleichen Raum waren.

Für viele Jahre war Lena sein Stolz, seine Freude gewesen. Er hatte ihr die ersten Buchstaben beigebracht, hatte sie schwimmen gelehrt, später Wasserskifahren, ging mit ihr in den Nationalpark. Die Beziehung von Lena zu ihm war vertrauter, als die zwischen Lena und ihr. Bis vor ungefähr fünf Jahren, ja, so lange musste es her sein, da änderte alles.

Sie hörte Patrick, wie er im Büro neben dem Eingang herummachte, wohl nach etwas suchte. Er suchte immer etwas, erschien es Aline.

Die fast leere Kaffeetasse stand jetzt neben der elektrischen Zahnbürste im Badezimmer im ersten Stock. Wie jeden Tag trug Aline erst etwas Tagescreme auf, dann Mascara, Lippenstift. Sie bürstete ihre langen Haare, die an den Schläfen grau wurden. Dabei dachte sie: «Frauen um die fünfzig sind geschieden, haben kurze Haare und gehen ans Locarno Film Festival.» Sie war seit sechsundzwanzig Jahren nicht geschieden, hatte lange Haare, ging gerne ins Kino, aber kaum je ans Locarno Film Festival.

Lena hatte annähernd schwarze Haare, dachte Aline, nicht wie sie, auch nicht wie Patrick. Nun, er war mittlerweile kahl. Mit Bart wäre er ein Hipster, dachte sie mit einem Lächeln. Sie schaute sich genauer im Spiegel an.

«Ich habe ein ernstes Gesicht», sagte sie sich.

Tatsächlich waren es nicht Lachfalten, die ihr schönes Gesicht mit feinen Linien zeichneten, mit jedem Monat etwas präziser.

Aline zog sich den sommerlichen Hänger über, den sie sich im letzten Frühjahr in Aigues Mortes gekauft hatte.

Patrick trat ins Schlafzimmer, suchte sein Handy und verlegte dabei den Bootsschlüssel.

«Wolltest du nicht zur Werft?»

«Doch, wieso?»

«Weil du soeben den Schlüssel verlegt hast …»

Er habe Lena eine SMS geschrieben, dass sie ihn abhole. «Ich hoffe, die schläft nicht wieder bis elf Uhr …»

Lena hatte vor knapp zwei Monaten beim zweiten Anlauf – was Patrick beschämend fand – die Matura geschafft. Sie freute sich jetzt auf ihr Biologie-Studium.

«Lass sie doch – bald fängt für sie ein anderes Leben an», wandte Aline ein.

«Wird auch Zeit … mit zweiundzwanzig Jahren.»

«Was spielen zwei Jahre für eine Rolle im Leben …»

«Zwei Sekunden können entscheidend sein … Ich werde kurz vor fünf hier sein.» Patrick war weg. Manchmal fragte sich Aline, wie viel von diesem Patrick, in den sie sich vor vielen Jahren verliebt hatte, noch in ihm war. Sicher, sein Äusseres war komplett anders. Die langen Haare waren ebenso verschwunden wie die seinerzeit bewusst mehr als lockere Kleidung. Wäre auch peinlich, wenn er noch so daherkäme.

Wenn er – was fast nie vorkam – auf der Veranda im alten Rattan-Sessel sass und für wenige Minuten nachdenklich auf den See schaute, kam er ihr heute noch geradezu verletzlich vor. So hatte sie ihn kennengelernt. Doch jetzt, sobald er merkte, dass man ihn beobachtete, war dieser Mensch weg. Vielmehr, er wurde innert einer Sekunde zu dem, was er im Verlauf der Jahre aus sich gemacht hatte: Anwalt, Politiker, eloquent, effizient, erfolgreich. Ein Mann, der Probleme erkennt und sie verschwinden lässt. So radikal, wie er seine eigene Verletzlichkeit, seine Sensibilität hatte verschwinden lassen. Aline vermied gedanklich den Begriff «Achtsamkeit» – obwohl er im Zusammenhang mit dem, was sie an Patrick vermisste, gepasst hätte. Sie mochte Begriffe nicht, die für eine Zeit Mode und überall, selbst in der Werbung, zu lesen und zu hören waren – wie Nachhaltigkeit, oder eben Achtsamkeit.


Der See war spiegelglatt an diesem Sommermorgen. Weit weg dümpelten zwei Fischerboote. Patrick liess die havarierte «Aurora» zu Wasser und fuhr rückwärts aus dem Bootshaus. Es war nur noch wenig Benzin im Tank und um das Boot noch etwas hecklastiger zu machen, stellte er sich weit hinten ins Schiff. Auf diese Art bliebe das Leck während der kurzen Fahrt zur Werft über der Wasserlinie, dachte er. Zum Glück war ja nichts wirklich passiert, vor ein paar Stunden, kurz vor Mitternacht. Sachschaden. Zudem, was macht so ein Trottel ohne Licht nachts auf einem Ruderboot, oder was immer es war. Er war – das musste er zugeben – unvorsichtig gefahren und hatte das verdammte Pech, in der dunklen Bucht in das einzige Boot zu krachen, welches ausser ihm noch unterwegs war. Zudem war er leicht beschwipst, wie auch Ernst, den er kurz vorher beim Steg aussteigen liess.

Normalerweise wäre er an dieser Stelle im Schritttempo gefahren, also nach Vorschrift, schon wegen dem Strandbad gleich nebenan. Aber nachts um halb zwölf! Er hatte Licht, bei ihm war alles in Ordnung.

Die «Aurora» pflügte sich mit geringer Geschwindigkeit durch das ruhige Wasser.

Es waren an die zwanzig Holzschiffe gewesen, alle mindestens fünfzig Jahre alt, die sich gestern zum traditionellen Stelldichein «Barrique» beim alten Hafen versammelt hatten. Wie jedes Jahr trafen sich die selbsternannten Seebären mit ihren «Oldtimern» anschliessend zum Nachtessen im «La Veduta», und wie jedes Jahr begleitete ihn dabei sein alter Freund Ernst. Und, ebenfalls wie jedes Jahr fuhr Patrick ihn kurz vor Mitternacht zurück zum Steg, wo Ernst jeweils seinen Roller parkte. Alles gut, alles friedlich, die Temperatur hochsommerlich mild. Dann, er war eben erst vom Steg weggefahren, aus dem Nichts der Dunkelheit der Aufprall, ein dumpfer, hohler Schlag. Wasser schlug ihm ins Gesicht, das schwere Boot stieg wie ein wildgewordenes Pferd unkontrolliert in die Höhe, um nach wenigen Sekunden schräg und mit durchdrehendem Motor auf das Wasser zu klatschen. Ihn selber schleuderte es beinahe aus dem Boot, wobei er heftig mit der Stirne auf der Windschutzscheibe aufschlug. Letztlich warf es ihn rücklings auf den Hintersitz. Den Schmerz spürte er noch immer. Der alte V8-Motor blockierte und starb ab. Einige Momente der Ruhe, Wassergeräusche, dann eine stöhnende Männerstimme, lauter werdend, hilferufend. Wenige Sekunden später die Stimme einer Frau, von weiter weg: «Marius?» – erst besorgt, dann laut. Schrie sie? Ja – letztlich war es ein Schreien. In heilloser Panik, versuchte Patrick drei-, viermal das dümpelnde Schiff zu starten, fluchte. Da, endlich brüllte der Motor auf und das Boot brauste mit ihm am Steuer in einer wilden Kurve davon.

Von dieser Sekunde an gab es für ihn nur noch einen Gedanken: Es ist nichts passiert. Nein – es ist nichts passiert.

Jetzt, an diesem Sommermorgen, sah er sich allein auf dem weiten See. Ihm war recht, dass er niemandem auffiel mit dem kaputten Bug. Vor allem ein Polizeiboot hätte gerade noch gefehlt. Am linken Arm hatte er sich verletzt. Ein langer, geschwungener Schnitt war’s, der liess sich durch das Hemd verdecken. Aline hasste Kurzarmhemden … Und die Verletzung an der Stirn, die gestern unangenehm stark geblutet hatte, die, würde er behaupten, habe er sich in der Dunkelheit zwischen Bootshaus und Steg eingefangen. Ja, genau so legte er sich das alles zurecht.

Und ab jetzt: «Weiterdenken», sagte sich Patrick, «weiterdenken».

Heute war sein Abend. Seine Wiederwahl in den Regierungsrat würde gefeiert werden. Sie war letztlich knapp ausgefallen. Die Kandidatin der Öko-Partei – zugegeben eine sympathische Frau – war ihm bedrohlich nahegekommen. Doch er gewann mit einem kleinen Vorsprung und so blieb die bürgerliche Mehrheit im Rat gesichert. Ernst hatte ihm gestern anvertraut, dass er für die Grüne gestimmt habe … so wie er, Patrick, das früher auch gemacht hätte.

Tatsächlich waren sich Ernst und Patrick an einer AKW-Protestaktion erstmals begegnet – vor mehr als dreissig Jahren.

Der umstrittene geplante Autobahnzubringer, fand Ernst, müsste ja vor allem ihm ein Dorn im Auge sein. Mit diesem Stelzenbau würde das Seeufer über mehr als zwei Kilometer für Generationen verunstaltet. Auch in dem Punkt hatte Ernst recht.

Piccinonno stand am Steg, als Patrick in die Bucht einbog.

«Hoppla … hast du einen deiner Barrique-Kollegen gerammt …», rief Piccinonno ihm zu.

«Zum Glück nicht, dafür die eigene Bootshütte …», antwortete Patrick schalkhaft.

Ivan Piccinonno war um die vierzig, gross, kräftig und immer verhalten gut gelaunt. Patrick hatte ihm einmal gesagt, dass man stets in besserer Stimmung von ihm weggehe, als man gekommen sei. Und wie Patrick Ivan in seinen lumpigen Shorts dastehen sah, fühlte er sich so wohl, wie seit gestern Abend nicht mehr. «Alles war gut, alles wurde gut», sagte er sich immer wieder.

Der Vorname Ivan passte nicht zu Piccinonno. Nicht zu ihm als Erscheinung und nicht zu seinem italienischen Familiennamen.

Dass Patrick solchen Gedanken nachhing, gab ihm für einen Moment die Gewissheit, dass sich seine Gemütslage beruhigte.

Ivan hatte den gerüstartigen Hafentrailer über die Rampe bereits so weit ins Wasser gefahren, dass man das Schiff mit dem Tau problemlos zwischen die beiden Böcke ziehen konnte, die das Boot an Land stützten.

Mit seinem Traktor zog Piccinonno die eingedrückte «Aurora» zum Liegeplatz, der während der Sommerzeit fast unbenützt blieb. Es war noch immer früher Morgen und die Sonne versteckte sich scheu hinter den hohen Pappeln, die das weite Gelände abgrenzten.

«War wohl Vollmond gestern», scherzte Ivan und kuppelte routiniert den Trailer ab. «Du kollidierst mit der eigenen Bootshütte, ein anderer überfährt einen verliebten Kajakfahrer …»

«Gestern?», tat Patrick überrascht.

«Ja. Kurz vor Mitternacht … in der Schwanenbucht, gleich beim Strandbad.» Mehr wisse er nicht, er hätte da etwas am Radio gehört.

«Verletzte?», fragte Patrick.

Offenbar sei ein Mann verletzt worden, Genaueres wisse er nicht. Ivan fotografierte mit dem Handy den Rumpf der «Aurora».

«Was machst du da?», wollte Patrick wissen.

«Versicherung – die brauchen Bilder …»

«Was – Versicherung … vergiss das. Mein Fehler, also bezahle ich auch.»

«Das wird teuer – aber wie du meinst.»

«Fängst du gleich an mit der Arbeit?»

«Ja, gleich nach den Ferien, habe ich dir doch gesagt am Telefon. Oder willst du selber schon mal anpacken? Ich weiss ja, wie gerne – und zugegeben nicht mal schlecht – du an deiner hölzernen Lady herummachst …»

«Das hast du mir beigebracht», lachte Patrick. «Nein, ich habe keine Zeit – im Herbst dann wieder.»

«Lässt du das Schiff hier draussen?», wollte Patrick wissen.

«Warum nicht? Das liegt doch hier bequem», meinte Piccinonno bereits in bester Ferienlaune.

Er, wandte Patrick ein, möchte allerdings, dass es nicht grad so in der Öffentlichkeit herumstehe, man kenne ihn, man kenne das Boot … und, ihm sei das peinlich.

«Das war ein Scherz», lachte Ivan. Natürlich werde er das Boot in die Halle fahren. Eine «Beauty» wie die «Aurora» lasse man doch nicht auf einem verwaisten Platz herumliegen. Zudem stehe die Halle im Sommer meist leer und unnütz herum.

Er solle nicht vergessen, gleich auch das «Unterwasser» zu machen, ergänzte Patrick. So müsse man das im Herbst nicht nachholen.

«Ah, da kommt Lena!», freute sich Ivan, als er sie auf dem Velo in das Gelände einbiegen sah. Weniger erfreut zeigte sich Patrick.

«Wo ist das Auto?»

«Mama hat ihr Auto mitgenommen und mit deinem fahre ich nicht, weisst du ja.» Lena gab Piccinonno einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange. «Long time no see», lachte Lena.

Sie schaute sich flüchtig das havarierte Boot an.

«Dann warst also doch du das, der gestern Nacht in das Bootshaus krachte.»

«Wieso doch? Hat dir Mama etwas erzählt?»

«Nein, ich war im Schilf und hab’s gehört.» Patrick stutzte einen Moment. Dann:

«Ah, im Schilf, wirklich – ja. Dumm gelaufen, irgendwas war da mit dem Gaskabel …»

Er wusch sich flüchtig die Hände im Seewasser, blickte dabei über die Schulter zu Lena und bemerkte: «Nur, wie komme ich jetzt zu meiner Sitzung? Um neun muss ich dort sein.»

«Da, nimm’ das Velo, ist für dich, ich gehe zu Fuss … habe ja Zeit.»

Patrick griff kopfschüttelnd zum Handy.

«Was soll der Blödsinn! Ich bestelle ein Taxi …»

Bis ein Taxi hier sei, wäre er allerdings mit dem Velo längst in der Stadt, erlaubte sich Ivan zu sagen.

Man sah Patrick an, dass er sich das Szenario in der Werft ganz anders vorgestellt hatte. Er schob die Zähne über die Unterlippe und verzog die Augenbrauen. So, wie er es immer tat, wenn irgendetwas anders ablief, als er es wollte, dachte Lena.

Schliesslich fasste er sich, entschied sich doch für das Velo, stieg eher unbeholfen auf und meinte:

«Dann also … schöne Ferien, Ivan. Und, eh, wann kommt das Schiff in die Halle?»

«Noch heute Morgen, Du kannst dich beruhigt auf den Weg machen.» Patrick verabschiedete sich hastig und radelte los.

«Es könnte regnen», tröstete er sich und versuchte mit den Gängen zurechtzukommen, und «zum Glück ist es erst halb neun und noch angenehm kühl». Viel schlimmer wäre es, wenn er in der Mittagshitze mit verschwitztem Hemd vor dem Regierungsgebäude ankeuchen würde. Er glaubte sie zu hören, die zynischen Kommentare: «Ah – sportlich, Herr Girard, haben Sie die Partei gewechselt? Oder ist was mit Ihrem Fahrausweis?» Irgendwelche blöden Kommentare hätten ihm in seiner Verfassung gerade noch gefehlt. Doch jetzt, kurz vor neun, war noch niemand von den Medien vor dem Regierungsgebäude.

Andererseits, sagte er sich, wenn man ihn auf dem Velo sähe, wäre das nicht mal schlecht. Man musste ja nicht grün sein, um Velo zu fahren. Zudem, ein ökologisches Bewusstsein war ihm geblieben, auch wenn Ernst ihm das absprach.

«Dennoch», überlegte sich Patrick auf Lenas Velo: «Warum tut sie mir das an? Warum weist Lena mich auf diese Art zurecht, warum weigert sie sich geradezu sektiererisch – und das erst seit ein paar Monaten – mein Auto zu fahren. Hat das mit diesem Gabriel zu tun?»

«Wieso brauchst du so ein Riesenauto?» Was für eine Frage? Das hätte sie doch früher nie gekümmert.

«Egal», dachte er. Beunruhigend war vielmehr, dass Lena ihn gestern Abend beobachtet hatte.

Was genau hatte sie gesehen? Und, dass sie jetzt mit Piccinonno alleine um das Schiff herumschlich, regte Patrick geradezu auf. Vermutlich schauten sie sich gemeinsam den Schaden am Bug an, dann den zerkratzten Rumpf und würden sich fragen, was da wirklich passiert war.

Für einen Augenblick packte Patrick der Gedanke, in die Werft zurückzufahren. «Ach was», beruhigte er sich und trat umso entschlossener in die Pedale.


Lena half Ivan beim Manövrieren des bockigen Trailers, auf dem schwer die havarierte «Aurora» lag. Lena wies ihn ein, stellte da und dort ein Hindernis zur Seite, sodass Ivan das lange Holzschiff Heck voran in die Halle rollen konnte. Er koppelte den Anhänger ab und überprüfte die Bremsen.

«Hast du eigentlich den Motorbootschein?», wollte Ivan wissen. Lena verneinte.

Sie hatte einen Segelschein, aber keinen, der ihr erlaubte, das schwere Motorboot zu steuern.

«Warum fragst du?»

«Weil der Boden arg zerkratzt ist, als wäre jemand auf Grund gefahren und nicht mehr weggekommen.»

«Aha», lachte Lena, «und da denkst du, das kann nur eine Frau sein … Macho, du.»

«Dein Vater kennt doch den See in- und auswendig … ihm würde ich das wirklich nicht zutrauen.»

Ivan und Lena schauten sich den Rumpf an. Tatsächlich sah er im hinteren Teil malträtiert aus. Die Epoxid-Beschichtung war zerkratzt, stellenweise bis auf das Holz. Ivan fotografierte den Schaden.

Wenig später schleppte er eine dunkelgraue Plane an und begann sie über das Schiff zu spannen. Lena half ihm dabei. Als das Boot fachmännisch zugedeckt war, meinte Ivan:

«So ein edles Schiff, der grobe Schaden tut richtig weh, findest du nicht?»

Lena schaute zu, wie Ivan mit der Hand behutsam über den Bootsrumpf strich, als würde er den Bauch eines grossen Fischs streicheln.

«Du bist ein besonderer Mann», sagte Lena.

«Wie meinst du das?»

«Einfach so …»

Er lachte verlegen und klopfte jetzt kräftig auf den Rumpf.

«Voilà – nach den Ferien mache ich mich an die Arbeit.»

«Wohin gehst du eigentlich?», erkundigte sich Lena.

«Sardinien. Wir fahren heute Nacht los und nehmen morgen die erste Fähre.»

Beide verliessen die Halle. Ivan versteckte den Schlüssel an einem geheimen Ort, «den alle kennen, die hier ihr Schiff einlagern», grinste er. Lena wünschte ihm eine gute Reise und machte sich auf den Weg.

Sie ging dem Seeufer entlang und dachte über die vergangene halbe Stunde nach.

Merkwürdig war das alles gewesen, irgendwie surreal, mit den kurzen, zusammenhangslosen Momenten: das aufgebockte Schiff, darunter zwei Männer. Sie auf dem Velo. Die kurze Aufregung ihres Vaters. Dann, als wär’s eine Szene aus einem Buñuel-Film, ihr Papa als älterer Herr im dunklen Anzug, der auf einem klapprigen Damenvelo aus dem öden Werftgelände in eine undefinierte Landschaft radelt. Die fast schwarze Decke über dem halbtoten Schiff.

Die Szenenfolge hatte etwas Beklemmendes, Trübes, und dies, obwohl die Sonne schien, obwohl nichts Aussergewöhnliches passiert war, ausser eben, dass ihr Vater überstürzt sein kaputtes Boot zu Piccinonno in die Werft gebracht hatte. Und dies, weil er auf fragwürdige Weise mit dem Bootshaus kollidiert war.

Was tat er eigentlich vorher – bevor er in die Mauer fuhr? Sie erinnerte sich, wie sie die Motorengeräusche aufgeschreckt hatten – das Hin- und Herrutschen auf dem sandigen Grund. Sicher, auch das musste er gewesen sein. Doch warum tat er das? War er derart betrunken gewesen? Aber warum macht das ein Betrunkener? Und jetzt diese Eile, sofort in die Werft, sofort aus dem Wasser und bitte das Schiff zudecken. Und er, als Regierungsrat, als öffentliche Person, wollte verhindern, dass davon irgendetwas an den Tag kam. Lena schien, dies alles hatte – in seiner Unsinnigkeit – eine denkwürdige Logik.

Sie kam in das leere «Haus am See» zurück und dachte kurz, dass es sie nicht überraschen würde, Ivans Stimme zu hören, wenn sie jetzt dann mit ihrem Hydrofon in die Wasserwelt abtauchte. Ihr schien, er gehörte dorthin in seiner starken und gleichzeitig sensiblen Art – in die Welt der ungehörten Töne. Dort hausten gute Geheimnisse und keine Unwahrheiten.


Sabine Herrmann war bleich und unkonzentriert. Dafür entschuldigte sie sich mehrmals bei Aline. Dennoch müsse sie sich keine Sorgen machen, alles würde wie gewohnt einwandfrei ablaufen. Sie hätte einen Ersatz für Grazia, die noch immer unter Schock stünde. Aline wollte wissen, wer Grazia sei. Das sei die junge Frau, deren Freund gestern Nacht bei einem Unfall auf dem See schwer verletzt wurde. «Wie furchtbar», sagte Aline. Und, dass deshalb Grazia nicht da sei, dafür hätte jedermann Verständnis – insbesondere ihr Mann, der ja selber ein halber Seemann sei.

Sabines Mann Robi stand bereits im Wohnzimmer. Er war wesentlich älter als sie, verwöhnte und unterstützte sie in rührender Art. In seinem früheren Arbeitsleben hatte er unermesslich viel Geld mit zu Parkbänken rezykliertem Plastik verdient.

Sie hätten Geschirr und Gläser wie üblich in der Garage deponiert und würden nun noch den Rest holen, sagte Robi, der mit seiner subalternen Funktion offensichtlich nicht das geringste Problem hatte.

Die Blumen sollten um 16 Uhr geliefert werden, relativ spät, wegen der Hitze, erklärte Sabine. Das Mobiliar sei bereits hier und um 14 Uhr kämen die Helfer, um Tische aufzustellen, die Sonnensegel zu spannen. Kurz gefasst, alles laufe nach Plan. Aline war beruhigt.

Patrick vertraute ihr blind. Er kam nicht wie ein Gastgeber zu seinen Partys, sondern so unbesorgt wie ein Gast.

Kurz nach fünf stand er da und wollte wissen, wo Lena sei. Vermutlich in ihrem Zimmer, oder unterwegs im Garten, sie wisse es nicht, sagte Aline und schob dabei eine schwere Blumenvase etwas aus dem Weg. «Warum fragst du und warum bist du so total verschwitzt?», wollte sie verwundert wissen.

«Frag’ deine grüne Tochter … die weiss, warum.»

Für Aline war dies wieder eine dieser Sticheleien, die sie satthatte.

Mehr wollte sie nicht wissen, viel eher sich jetzt umziehen. Manche Gäste kämen ja nicht selten zu früh, sagte sie und ging.

Es beschäftigte Aline, was Sabine ihr erzählt hatte. Fast noch mehr beschäftigte sie, wie spürbar betroffen Sabine war. Aline war nicht bewusst gewesen, dass sie so eng zu ihren Mitarbeiterinnen stand. Sie war stets davon ausgegangen, dass sie ihre hübschen Serviererinnen mehr oder weniger anonym über eine Agentur buchen würde. So war das anscheinend nicht. Jetzt fiel, wegen dieses tragischen Unglücks, nicht nur diese Grazia aus, Sabine hatte sogar zusätzlich deren Freundin, auch sie wäre für den heutigen Abend als Serviererin vorgesehen gewesen, freigegeben. Ausdrücklich, um ihrer Kollegin in diesem schwierigen Moment beizustehen. Wie feinfühlig.

Ein Mann hätte das kaum getan, sagte sich Aline und entdeckte sich beim unpassenden Gedanken, heute Abend keinen BH anziehen zu wollen. «Kinderei» – sie tat die Idee ab, obwohl sie sie im Innersten als kleine Provokation witzig fand. Während sie ihre Haare bürstete, Lippenstift auftrug, ihre Nägel kontrollierte, beschäftigten sie Gedanken an Patrick, der ihr zurzeit eigenartig fremd vorkam. Zudem, hätte er sich als Vorgesetzter ähnliche Gedanken gemacht wie Sabine und sich derart gesorgt um eine Mitarbeiterin? Liess er solche Gefühle überhaupt zu? Noch zu?

Sie erinnerte sich – es lag zehn Jahre zurück – an die Szene auf der Insel Giglio, als Patrick spontan den letzten Platz auf der Fähre einem Ehepaar mit einem alten Hund abtrat. Das arme Tier litt unter einer Nierenkolik und musste notfallmässig nach Porto Santo Stefano zum «Veterinario». Dass Patrick somit seinen wichtigen Termin verpassen würde, weswegen sie die Rückreise zwei Tage vorgezogen hatten, war ihm jetzt, in Anbetracht des leidenden Hundes, unwichtig. Sie fand das seinerzeit berührend und war im Stillen stolz auf ihn. Würde er das heute noch tun?

Sein Leben als Anwalt und Politiker hatte ihn verändert. Er schien ihr oft kühl, nicht bösartig, doch in vieler Hinsicht unsensibel.

Hatte sich Ernst auch so verändert, oder hatte er sich bewahrt, was sie an Patrick vermisste? Jedenfalls, Ernst war heute Abend, an der Wahlfeier seines besten Freundes, nicht dabei. Wohl, weil ihm solche Anlässe nicht passten.

Aline hörte die Stimme von Sabine, die ersten Gäste standen bereits vor dem Haus.


Der Unfall in der Schwanenbucht war das grosse Thema beim Lokalsender «a.m./p.m.». Patrick hatte sich nur flüchtig informiert, auch in den Zeitungen nichts wirklich nachgelesen. Er wusste ja, was geschehen war.

Patrick ärgerte, wie sein Körper reagierte. Immer dann, wenn ihn etwas emotional umtrieb, innerlich aufwühlte, meldete sich sein Nacken: Er wurde heiss. Selbst jetzt, nachdem er kalt geduscht hatte. Es war eine innere Hitze, die sich hinten am Hals anstaute. Das war sehr unangenehm und hatte zur Folge, dass er optisch vieles wie durch einen Nebel wahrnahm. Sogar akustisch erschien ihm alles in der Distanz, verfilzt irgendwie, was insbesondere an einer Feier, wie der seiner Wiederwahl, störend war. Er fühlte sich abwesend, obwohl sich vieles, fast alles sogar, um ihn drehte. Man begrüsste ihn, gratulierte ihm: «Na Patrick, nochmals gut gegangen … Gratulation! Hatte keinen Moment daran gezweifelt …» usw.

Er war an diesem Abend auch nicht imstande, ein sinnvolles Gespräch zu führen, stolperte vielmehr von einem Gast zum andern, versuchte, ein paar passende Worte anzubringen und war schon bei der nächsten Runde, die sich um eines der Stehtischchen scharte. Vorwiegend waren es Männer mit Gläsern in der Hand, Sonnenbrillen vor oder über den Augen, biederen Kurzarmhemden, teils noch mit Krawatte, und Schuhen ohne Schnürsenkel. Patrick versuchte flüchtig das jeweilige Thema kurz aufzunehmen, das gerade beschwatzt wurde, äusserte sich salopp und überlegte gleichzeitig, ob sein Dauergrinsen nicht irritierend wirkte. Er beschloss, fortan eher ernst dreinzublicken. Der Autobahnzubringer, die sogenannte Na3b, war das Thema, das man jetzt, wie der Chef des Strassenamtes meinte, «schleunigst in Angriff nehmen müsse.» Patrick: «Wir sind mit Volldampf dran.» Auch das gute Abschneiden der Öko-Partei blieb nicht unerwähnt.

Später fragte sich Patrick, ob er überhaupt etwas von den kleinen Tellern, die die jungen Damen unentwegt herumreichten, gegessen hatte. Dass die Frauen alle zumindest hübsch waren, wusste er von anderen Anlässen. Auch, dass zwei fehlten, war ihm erklärt worden. Sogar warum – «enorm tragisch», kommentierte er das.

Patrick nässte eine Serviette in einem der Eiskübel und kühlte seinen heissen Nacken. Er bemerkte Lena, die in Jeans und T-Shirt, ein Glas Weisswein in der Hand, mit der Justiz- und Polizeidirektorin Dominique Höchli diskutierte.

Aline, die sich für den Abend die Haare hochgesteckt hatte, tauschte sich mit Frau Herrmann aus, ging dann weiter zu Karloff, dem alten Charmeur und angepassten Künstler, der wohl nur gekommen war, weil er hoffte, jetzt dann endlich die renovierte Stadthalle ausmalen zu können.

Patrick interessierte das alles nicht. Es interessierte ihn überhaupt nichts an diesem Abend, ausser, was Lena jetzt gerade mit der Polizeichefin Höchli beredete. So setzte er wieder sein Lächeln auf und ging zu den zwei Frauen. Höchli unterbrach das Gespräch mit Lena und meinte begeistert – für Patrick viel zu begeistert – was für eine tolle Tochter er habe, mit dieser faszinierenden Passion. «Ungehörte Töne» – grossartig fände sie das.

Patrick bemerkte, dass Lena verwundert auf seine Hand schaute, in der er noch immer die nasse Serviette hielt. Mittlerweile war der rechte Hemdsärmel zur Hälfte dunkelblau vor Nässe. Alles nur, weil Aline Kurzarmhemden verabscheute, dachte er.


Aline liebte Blumen und sie hatte die natürliche Fähigkeit, sie in ungewohnter, überraschender Art zusammenzustellen. Und doch, wie sie dann so ungezähmt in ihren Vasen – den exakt richtigen – im Wasser standen, glaubte man, die Rosen, Wiesenblumen, Nelken, Sonnenblumen, Gräser und dergleichen hätten sich von alleine zusammengefunden. Aline war egal, dass kaum jemand diese Schönheit beachtete. «Den Blumen wohl auch», dachte sie. Lieber nicht beachten als beleidigen, wie das die Priska Staub einmal getan hatte: «Schön, die Blumenbouquets!» Blumenbouquets! Ein Reizwort für Aline. Blumenbouquets waren etwas für Hochzeitsautos, Trauungen und Beerdigungen.

«Was mach’ ich mir auch für Gedanken», fragte sie sich mit einem Schmunzeln.

Sie beobachtete Sabine Herrmann, wie sie ohne gehetzt zu wirken die Gäste mit kleinen, kunstvollen Gaumenfreuden verwöhnte. Sie fand mit stupender Sicherheit jederzeit die Balance zwischen Gastgeberin und Wirtin, verkörperte das Gegenteil einer servilen Person und spielte sich dennoch nicht in den Vordergrund.

Hunderte von Tellern, Gabeln, Servietten, unzählige, liebevoll zubereitete Köstlichkeiten, literweise Wein und Wasser – all der Aufwand, weil ihr Mann auch für die nächsten vier Jahre als Regierungsrat seine Politik machen würde. Viel eher war es die Politik, die die wollten, die hier herumstanden und schwatzten. Die Politik und die Interessen, die er, ihr Mann Patrick, zu vertreten und bitte sehr umzusetzen hatte.

Aline dachte zurück an die Einladung vor acht Jahren, damals war Patrick neu in den Regierungsrat gewählt worden. Es war kein rauschendes Fest gewesen, aber ein freudiger, geradezu begeisternder Anlass. Aline kam bei diesem Gedanken – sie wusste nicht, warum – eines dieser farbenfrohen Landschaftsbilder von Derain in den Sinn. Es schien ihr, dass seine Bilder genau das ausdrückten, was an dem heutigen Abend fehlte. Licht und Farben. Die Heiterkeit, die fehlte – das war es. Und dies, obwohl doch alles war wie vorgesehen. Vor allem waren sie alle erschienen, die «wichtigen Leute» aus Politik und Wirtschaft. Selbst der stets etwas zu parfümierte Kubli, der Kulturchef, hatte sich kurz gezeigt. Und Karloff, der alternde Womanizer, gehörte wie der Stern auf den Weihnachtsbaum, zu jedem halbwegs wichtigen Anlass. Blöd fand Aline diesen Viktor Zumbach, der sich, obwohl jede und jeder ihn vom Fernsehen her kannte, stets mit ganzem Namen vorstellte. Er stand seit mehr als einer Stunde neben Cecile Rub, Redaktorin bei der Internetzeitung, die jetzt der grosse Hype war. An lokalen Promis fehlte es nicht, sie waren da und bestätigten mit ihrer Anwesenheit die Wichtigkeit des Gastgebers.

Silvia Nussbaumer, die Leiterin der Musikschule, riss Aline aus ihren Gedanken. Im aufkommenden Gespräch ging es um die Schule und die Bibliothek, eine mögliche nähere Zusammenarbeit der beiden Institutionen und um Marius, der im Herbst als Gesangslehrer hätte anfangen sollen. Sie kenne keinen Marius, erklärte Aline, ob der eine bessere Stelle gefunden habe? Nein, Marius sei der junge Mann, der gestern Nacht bei diesem Bootsunfall schwer verletzt wurde.

«Der Freund von Grazia», kombinierte Aline betroffen, sie habe erst heute Nachmittag von diesem Unfall erfahren. Ob sie wisse, wie es dem Mann gehe, erkundigte sich Aline.

«Besorgniserregend …», sagte Frau Nussbaumer, «jedenfalls kann er, wie man befürchte, die Stelle in zwei Wochen nicht antreten.»

Lenas Gespräch mit Dominique Höchli fand keine Fortsetzung, nachdem ihr Vater zu ihnen gestossen war. Und weil er der eleganten Dominique – wie er charmierte – unbedingt den neuen Direktor der Wasserwerke vorstellen wollte, stand Lena jetzt alleine herum. Man hätte sie für eine der Serviererinnen gehalten, hätte sie ebenfalls eine weisse Bluse getragen. In Jeans und T-Shirt gehörte sie jedoch nicht zu denen, und auch nicht zu all den andern, den Bedeutenden, den Engagierten und Informierten. Viel lieber als herumzustehen hätte sie was getan, die Tische abgeräumt, die Gläser gefüllt. Noch lieber wäre sie gegangen, doch sie hatte ihrer Mutter versprochen, zu bleiben.

Die helle Stimme von Sabine Herrmann holte sie aus ihren Gedanken.

«Lena – komm, lass uns anstossen.»

Sie gab Lena eines der zwei Gläser, die sie mitgebracht hatte und meinte:

«Ich denke, bevor ich dir Frau Girard sage, sagst du mir Sabine … Ist endlich an der Zeit.» Tatsächlich war sie für Lena noch immer die «Frau Herrmann». Da sie Sabine, wie sie ihr jetzt sagen durfte, seit Kindheit kannte und äusserst sympathisch fand, freute sie ihre Geste umso mehr. Sabine erkundigte sich interessiert nach ihrem bevorstehenden Studium. Und obwohl sie aufmerksam zuhörte, sah sie gleichzeitig, dass da einer ein leeres Glas hatte, oder dort ein schmutziger Teller herumstand. Ihre Anweisungen waren klar und dezent – keine Spur von aufgeregt.

«Hast du die zwei herbestellt?», fragte Sabine lachend und deutete mit dem Kopf auf eine junge Frau und einen nicht viel älteren Mann.

Die zwei standen plötzlich inmitten der eingeladenen Menschen und doch erkannte man sie als «ganz sicher nicht Eingeladene». Sie hatten zu tun, das vor allem unterschied sie von allen anderen. Lena ging auf die junge Frau zu, die sie noch von der Mittelschule her kannte. Sie hielt ein Clipboard und ein Mikrofon in der Hand und sah aus, als müsste sie gleich vor eine Kamera treten. Und das war auch ihre Aufgabe. Der Mann mit der Kamera erinnerte Lena an Fotos, die sie von ihrem Vater kannte. Dreissig oder mehr Jahre früher, als er mit langen Haaren gegen AKWs demonstrierte.

«Hast du uns angerufen?», fragte die Frau mit dem Mikrofon. «Petra», stellte sie sich vor, «Ah, wir kennen uns ja von der Schule», haspelte sie, «ich arbeite zurzeit für ‹Schnell und aktuell›.»

Sie hätten nicht viel Zeit, schien ihr wichtig zu erwähnen. Um zehn müssten sie auf dem «Raten» sein, wegen dem «Jazz-Singer of the Year».

«Welcher ist dein Vater?»

Eigentlich wusste sie es, denn Petra steuerte ohne Lenas Antwort abzuwarten auf Patrick zu und deutete dem Kameramann, mitzukommen.

Für Patrick fühlte es sich an, als hätte ein Blitz die Taucherglocke zerstört, die ihn während der letzten Stunden sicher geschützt hatte. Fast schrill hörte sich an, was die junge Frau ihm entgegenrief:

«Herr Regierungsrat – als Erstes herzliche Gratulation zu Ihrer Wiederwahl! Wie fühlen Sie sich?»

Achtlos liess Patrick die nasse Serviette fallen, mit der er eben noch seinen Nacken gekühlt hatte.

«Grossartig», sagte er viel zu laut.

«Obwohl oder weil Sie fast gescheitert wären?»

«Es kann nur einer gewinnen.» Dazu lachte er jovial.

«Und Sie wollen nun primär dafür sorgen, dass die Stadt, oder vielmehr die Industrie ihren Autobahnanschluss hat?»

«Das hat oberste Priorität – richtig. Allerdings nicht primär wegen der Industrie, viel mehr wegen unseren Bürgerinnen und Bürgern.» Patrick war gelandet, wo er sich sicher fühlte.

«Ah ja, nun, dann wünschen wir Ihnen viel Glück. Eine ganz andere Frage: Wie Sie wissen, sucht die Polizei fieberhaft nach dem Fahrer des Motorboots, welcher den Unfall gestern Abend verursacht hat. Nun wird der Ruf stark, die 0.5 Promille auch auf dem See einzuführen. Was halten Sie davon?»

«Ich würde das befürworten. Egal ob Strasse oder Wasser, man hat die gleiche Verantwortung. Und wer alkoholisiert ein Auto oder ein Schiff fährt, wird dieser Verantwortung nicht gerecht.»

«Vielen Dank, Herr Regierungsrat und noch viel Spass bei Ihrer Wahlparty.»

Patrick sackte auf einen Betonsockel, der eigentlich das Gehäuse der Lampe war, die die einzelne Stufe zwischen Veranda und Terrasse beleuchtete. Die breite Stufe, über die vor vier Jahren Frau Dr. Grob, die Direktorin des Kunstmuseums, gestolpert war, was sie Patrick kürzlich wieder vorgehalten hatte. «Die Schulter spüre ich heute noch», beklagte sie sich. Dabei war sie an diesem Abend zumindest angeheitert gewesen. Jedenfalls, als Folge dieses Treppensturzes hatte Ernst eine zum Haus passende Lampe entworfen und installieren lassen.

An all das erinnerte sich Patrick jetzt nicht. In seinem Kopf hörte er, als wäre es eine Endlosschlaufe: «Die Polizei sucht fieberhaft nach dem Fahrer des Motorboots.»

Da war er wieder – sein heisser Nacken. Zudem fühlte sich Patrick nicht mehr geschützt, viel eher eingesperrt, als sässe er in einer transparenten Ballonhülle, die ihn geradezu zur Schau stellte und die jeder leichtsinnig aufstechen konnte. Sein Blick war vernebelt, akustisch schien alles gefiltert. Lediglich das unkontrollierte, viel zu laute Niesen des dicken Herrn Lautenschlager mit seinem roten Gesicht drang wie ein Brüllen zu ihm vor.

«Gutes Interview. Gutes Interview – Patrick??» Das war Bernauer, der Präsident des Yachtclubs. «Gutes Interview», sagte er zum dritten Mal.

Patrick hatte ihn endlich gehört, stand auf und sah Guido Bernauer vor sich. Er trug ein weisses T-Shirt, einen marineblauen Blazer, dazu in gleicher Farbe zu enge, halblange Hosen und blaue Espadrilles.

«Wirklich?», fragte Patrick.

«Ja – war gut. Wobei ich da mit den 0.5 Promille auf dem Wasser meine Mühe habe …»

«Ah ja …»

«Nur weil irgendein Idiot einen halb zu Tode fährt … und wer sagt eigentlich, dass der alkoholisiert war?» Die Polizei habe ihn bereits nach Besitzern von Holzbooten ausgefragt, fügte er an.

Patrick war alarmiert. Was die wissen wollten, fragte er möglichst beiläufig.

«Sie wollten wissen, welche Namen hinter den registrierten Holzbooten stecken», sagte Bernauer. «Du weisst ja – da gab’s genau an diesem Abend wegen dem ‹Barrique-Treffen› mehr als zwanzig, allein im oberen Seebecken.» «Mindestens…», fügte Patrick an.

Vor Mitternacht waren alle Gäste gegangen. Aline verabschiedete sich von Patrick, sie sei todmüde, vor allem, wenn sie daran denke, dass morgen bereits um sieben Uhr Frau Herrmann auftauchen würde. Patrick dankte Aline für den grossartig organisierten Abend – «sehr geschmackvoll, wie immer».

Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss und verschwand.


Jetzt war er alleine in den offenen Räumen mit den grossen, schwarzen Fensterflächen. Wohnzimmer und Veranda wirkten fahl, allerorten standen leere und halbleere Gläser herum, Essensreste lagen unappetitlich auf Tellern, am Boden zwei, drei zerknüllte Servietten. Patrick nahm irgendein halbvolles Glas und setzte sich in einen Stuhl auf der Veranda.

Er war in einem merkwürdigen Zustand, elend müde und gleichzeitig furchtbar nervös. Den Abend hatte er kaum wahrgenommen, mit Ausnahme des Interviews und der beiläufig daher geplauderten Aussage von Bernauer: «Die Polizei war schon bei mir.»

Das hiess, in wenigen Stunden könnten die Fahnder dastehen … Er musste sofort handeln, sofort. Er war als Bootsbesitzer registriert und unzählige gab es nicht, die in der Gegend ein Holzboot von dieser Grösse hatten. Dass zufällig das Oldtimer-Treffen stattgefunden hatte, konnte die Recherchearbeit verzögern, war also ein Glücksfall. Und sein Boot lag nicht im Wasser, sondern bei Piccinonno in der Halle. Das allerdings und die Tatsache, dass Piccinonno auf Sardinien am Strand lag, würde die Polizei bei ihren Ermittlungen nicht bremsen. Sie würden sich Zutritt verschaffen, egal wie und sofort mit der Spurensuche anfangen. Der zerkratzte Rumpf allein sprach Bände, obwohl er mit seinem Manöver im Schilf einiges verwischen konnte. Doch da gab es Hinweise am und auf das andere Schiff, das kleine, das ihm im Weg gestanden hatte – er wusste nicht mal was es war? Ein Faltboot, ein Ruderschiff, ob Plastik oder Holz, welche Farbe? Was hatte Piccinonno gesagt, ein Kajak? Jedenfalls kein Gummiboot, da war er sicher, so wie der Aufprall getönt hatte.

Er durfte nicht zuwarten.

Aline war bestimmt schon eingeschlafen, so müde, wie die aussah. Und Lena schlief auch – jedenfalls kümmerte es sie nicht, wo er war.

Er musste jetzt gehen, sofort. Und so schlich er sich aus dem Haus. Als Erstes in die Garage, wo sich allerhand Gerümpel ansammelte, wo er aber auch sämtliches Werkzeug aufbewahrte. Hier fand er, was er brauchte. Seinen alten Overall, die Schleifmaschine, eine Taschenlampe und vor der Garage Lenas Velo.

Eine halbe Stunde später stand er im Overall unter der «Aurora» in der sonst leeren Halle im Niemandsland. Er hatte eine farbbekleckerte Baustellenlampe gefunden und sie, um die Halle weitgehend dunkel zu halten, nahe unter das Schiff gestellt. Er begann den Rumpf abzuschleifen. Sorgfältig, so wie es Piccinonno auch getan hätte.

Letztlich spritzte er mit einem Industrieschlauch das Boot und den Boden sauber. Arg durchnässt stieg er auf das Velo und es wurde schon hell, als er den feuchten Overall zu Hause in der Garage an den Haken hängte. Patrick schlich zurück ins Haus und bemühte sich, möglichst schlank zu Aline ins Bett zu schlüpfen. Sie wachte trotzdem kurz auf – «wo warst du?» Ohne seine Antwort abzuwarten, schlief sie weiter.

Schiffbruch

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