Читать книгу Schiffbruch - Andres Bruetsch - Страница 11
5 Montag
ОглавлениеAls Erstes wollte Patrick zur Werft fahren, überlegte es sich jedoch anders. Schliesslich wusste er, wie ein polizeilich versiegeltes Gebäude aussah und möglicherweise wurde die Halle bewacht. Peinlich, wenn er – Regierungsrat und Verdächtigter – dort auftauchen würde wie ein Gaffer, überzeugte er sich selbst. So bog er in die Strasse ab, die ihn zu seinem Büro führte.
Die kantonale Verwaltung war in einem modernen Gebäude, in der mittelgrossen Stadt wurde es als Hochhaus bezeichnet, untergebracht. Patricks grosszügiges Büro war ein Eckzimmer im elften Stock: strapazierfähiger grauer Spannteppich, die üblichen Möbel von USM, ein grosser Arbeitstisch mit Chefsessel, vorne beim Eingang eine Besprechungsecke für vier Personen. Die Bilder an den Wänden hatte seinerzeit Aline im kantonalen Kunstarchiv ausgesucht. Ein kleiner Amiet, dann eine Figur von Grüter auf dem Fenstersims und ein Bild, mit dem er persönlich nicht viel anfangen konnte, von einer Künstlerin, die Palla hiess. Aline hätte das Bild am liebsten mit nach Hause genommen.
In einem Stehrahmen – darin ein Foto von Aline, Lena und ihm, alle braungebrannt und in Badehosen auf der «Aurora» – spiegelte sich der graue Himmel.
Patrick überlegte sich ein mögliches Szenario: Das Boot war aus dem Wasser, jetzt konfisziert. Die Polizei würde sich gewundert haben, dass der Rumpf bereits abgeschliffen war. Piccinonno würde gesagt haben, dass er von dem nichts wisse. Somit würde die Frage «Waren Sie das?» in Kürze auf ihn zukommen. Er müsste zugeben, dass er schon mal angefangen habe, was ja quasi sein Hobby sei, und um die Sache zu beschleunigen. Schliesslich wolle er so schnell wie möglich wieder auf den See. Das würde plausibel tönen. Einzig die mögliche Frage dieses Imfelds: «Warum haben Sie uns das nicht gesagt?» könnte beunruhigend sein.
In der Schwanenbucht hatte ihn niemand gesehen an jenem Abend. Ernst hätte ihn beobachten können – hätte, wenn es hell gewesen wäre. Aber es war stockdunkel. Somit wäre er, falls es so weit überhaupt kommen würde, als Zeuge wirkungslos, unglaubwürdig. Und Ernst war ohnehin das Gegenteil eines Verräters. Nie würde er etwas tun, was seinen Freund in Schwierigkeiten brächte.
Lügen allerdings – überlegte sich Patrick – nein, lügen würde Ernst nicht, auch nicht, um ihn in einer schwierigen Situation zu entlasten. Egal, Ernst hatte nichts gesehen und war somit per se für die Polizei als Zeuge irrelevant. Sonst gab es niemanden. Die junge Freundin des Opfers hatte «nur gehört» – wie sie in einem Interview sagte. Und nach ein paar Tagen würden auch mögliche Spuren am Schiff keine nachweisbaren Schlüsse mehr zulassen. Somit, versuchte sich Patrick zu überzeugen, blieb wohl für immer ein Rätsel, wer der Fahrer des Motorboots gewesen war.
Er sollte sich stattdessen gescheiter und wirkungsvoller um den jungen Mann kümmern. Dass er beim Unfall schwere Verletzungen erlitten hatte, beschäftigte Patrick andauernd und tat ihm sehr leid. Ja, er würde ihn besuchen. Er, in seiner Funktion als Regierungsrat, aber auch als See-Anrainer, als Bootsbesitzer, gar als einer, dem auch mal ein «Malheur» passieren konnte. Genau, das würde er tun. Morgen würde er sich im Spital nach dem jungen Mann erkundigen.
Was war mit Lena? Was wusste sie? Auch sie hatte lediglich gehört, dass er in die Mauer im Bootshaus fuhr. Schon gar nicht konnte sie wissen, dass er das mit Absicht getan hatte. Und, dass es am gleichen Abend geschah wie der Unfall, nun, das war Zufall. «Koinzidenz», sagte er halblaut.
Nochmals zu Ernst. Nein, der sass bestimmt längst auf seiner Elektro-Vespa, als es passierte. Zudem hatte er seinen Helm auf und hörte nichts.
War er laut? Dieser Zusammenprall auf dem Wasser – war er laut? Der Schrei war laut, an den konnte sich Patrick erinnern. Hatte er selber auch geschrien? Er wusste es nicht – und wenn auch.
Zum Glück hatte er überlebt, der junge Mann, Gott sei Dank war nichts Schlimmeres passiert. Diesen Satz wiederholte Patrick immer und immer wieder. Morgen würde er ihn besuchen, den verletzten Mann, überzeugte er sich noch einmal. Patrick musste nur noch Susanne Renner seine persönliche Mitarbeiterin, darum bitten, die Sache für ihn zu organisieren. Also schickte er ihr eine Mail.
Punkt halb neun traf sich Patrick mit seinem Team im grossen Sitzungszimmer zur Vorbereitung der am Donnerstag stattfindenden Kantonsratssitzung. Es ging um den Autobahnzubringer «Na3b», der in seinem Wahlkampf eine zentrale Rolle gespielt hatte und äusserst umstritten war. Übermorgen würde das Vorhaben im Rat diskutiert – das könnte matchentscheidend sein, so hatte es Urs Kummer, der Chef des Bauamts, eingeschätzt.
Dass für Patrick jedoch die Organisation seines Spitalbesuchs viel wichtiger war, wusste niemand. Nicht einmal er selber hätte sich das eingestanden.
Aline hatte sich überlegt, ob sie sich krank melden sollte in der Bibliothek. Die Szene in der Küche hatte sie sehr mitgenommen und hätte dies erlaubt, diagnostizierte sie selber. Sie überredete sich dann, trotzdem zu gehen, fand das gleichzeitig geradezu calvinistisch stur und tauchte – ohne Streuselkuchen, zur Enttäuschung der Mitarbeitenden – kurz nach neun Uhr in der modern eingerichteten Bibliothek an der Kasernenstrasse auf. Vor zwei Jahren war alles von oben bis unten umgebaut worden.
Knüsel, von dem alle glaubten, er wäre der klassische Junggeselle, war froh, dass man ihn drei Jahre zu früh als Direktor der Stadt-Bibliothek in den Ruhestand geschickt hatte. Diese Digitalisierung mache er nicht mehr mit, man könne ihn jederzeit für Analoges holen, wie beispielsweise Bücher abstauben. Das mache er gerne und freiwillig, witzelte er. Seine Tochter – er war also weder schwul, was Gewisse munkelten, noch Junggeselle – habe sich an seiner totalen Unfähigkeit für alles, was irgendwie mit «digital» zu tun hat, bereits die Zähne ausgebissen.
So war Aline, wegen der digitalen Verweigerung Knüsels, zur Leiterin der Bibliothek aufgestiegen, sie vermied die Bezeichnung «Direktorin». Allerdings erwartete man – und das war in diesem Fall der Gemeinderat –, dass sie die teuer modernisierte Bibliothek auch «bespielte», so nannte man das heute. Das hiess: Lesungen organisieren, Literatur auf dem Sofa, Texte getanzt etc. – im Grunde Aktivitäten, die sie für ebenso sinnlos hielt wie Gottesdienste mit Rockmusik.
Aline war Bibliothekarin geworden, weil sie gerne las. Und sie las gerne, weil sie Geschriebenes meist besser fand, als Gesprochenes.
Seit Monaten las sie Bücher über das Verhältnis von Vater und Tochter. Ihr fiel auf, dass es sehr viele solcher Bücher gab. Meist wurden sie der Thematik ihrer Meinung nach nicht gerecht. Wie sollten sie auch?
Aline konnte die hässliche Szene vorgestern in der Küche nicht ausblenden. Vor allem, was Lena anschliessend in ihrem Zimmer gesagt hatte, beschäftigte sie bis in ihr Innerstes.
Als sie auch das Buch «Vater und Tochter: Sorge um eine verletzte Beziehung» nicht weiterlesen wollte, überlegte sie sich, ob sie was tun könnte, damit dieses gestörte Verhältnis innerhalb der Familie zumindest eine Besserung erführe. Vorgestern war sie mit ihrer Bemühung eines gemeinsamen Nachtessens schmerzhaft gescheitert.
Sie dachte an Freitagabend zurück. Mehr als «alleine anwesend» waren sie alle an diesem Abend nicht – Patrick, Lena, auch sie selber. Sie schienen alle drei nichts miteinander zu tun zu haben, standen im eigenen Haus verloren herum, einsamer als ihre Gäste. Diese Einsicht – und das war es für sie – war plötzlich da und sie fragte sich, warum das gerade an diesem Abend so zum Ausdruck kam. Sie waren schlicht beklemmend gewesen, diese Stunden: drei Einzelmasken an der Wahlfeier. Nicht mal der Wunsch, zusammen anzustossen, geschweige denn der Gedanke eines gemeinsamen Fotos, kam auf. Als würden alle drei instinktiv spüren, dass da keine Familie war.
Früher, erinnerte sich Aline, hatten sie diesen bürgerlichen Humbug gemacht. Nein, das war kein Humbug! Sie hatten zusammen Museen besucht, eine Wanderung unternommen, gepicknickt, zusammen gelesen, jeder in einem anderen Buch. Solche Dinge sollten sie wieder tun, auch wenn das Lena als «Nostalgie-Kitsch» abtat. Aline überzeugte sich mehr und mehr, dass es dringend nötig wäre, in die Familie zu investieren, weit wichtiger, als sich für die Bibliothek aufzuopfern. Egal, ob Lena bald wegzog, im Gegenteil. Gerade weil sie wegzog, musste Aline etwas tun. So wie sie gestern Lena in ihrem Zimmer erlebt hatte, machte sie ihr Angst.
Lena hatte Zeit, weil sie sich bewusst von Vielem fernhielt. Sie hätte sich mit einer Kollegin treffen können, gerne auch mit Gabriel, mit dem sie während zwei Wochen Sizilien befahren hatte. Sie war sich nicht sicher, ob es Liebe war, was sie für ihn empfand. Zu sagen, sie mochte ihn, fand sie blöd. «Mögen» tat sie viele ihrer Bekannten. Gabriel war mehr, er war ein Freund, so wie Sandra eine Freundin war, ihre Freundin. Ja, das war es möglicherweise: Gabriel war ein Freund, aber nicht «ihr Freund».
Jedenfalls wünschte sich Lena, diese letzten Wochen, bevor sie in das Studentenleben eintauchte, möglichst für sich haben. Doch jetzt stand dieses – sie nannte es für sich so – Geschehnis dazwischen. Seit drei Tagen war es in den lokalen Medien das grosse Thema, selbst national wurde der Unfall thematisiert. Lena las all die im Internet veröffentlichten Artikel in ihrem Zimmer:
«Der junge Mann, Marius H., liegt seit vier Nächten auf der Intensivstation, seine Freundin Grazia B. steht nach wie vor unter Schock und wird psychologisch betreut. Sie ist ausser M. und dem anonymen Bootsfahrer die Einzige, die den Unfall akustisch erlebt, aber nicht wirklich gesehen hat – dazu war es zu dunkel. Das Motorboot hat sie gehört, wie es langsam zum Steg tuckerte, wo offenbar jemand ausstieg. Sie hat gehört, wie sich zwei Männer verabschiedeten, eine Verabschiedung unter Freunden, schien es ihr. Sie und ihr Freund hatten geplant gehabt, in der Bucht zu übernachten. Sie hatten einen Schlafsack im Auto. Warum M. nochmals in das Kajak stieg, ist auch Grazia nicht klar. Er habe einfach Lust gehabt und noch einen Joint geraucht, hat sie zu Protokoll gegeben. Dann – so konnte man in den Medien nachlesen – sei das Motorboot vom Steg weggefahren und plötzlich losgebraust, was Grazia aufgrund des Lärms und des Geräusches von aufschäumendem Wasser feststellen konnte. Sie selber habe zu der Zeit im Dunkeln ein paar Dinge zusammengepackt – Grill, Decken, all das Picknick-Zeugs –, als sie einen heftig krachenden Aufprall hörte, einen abgewürgten Motor, gleichzeitig diesen furchtbaren Schrei von M., Schläge im Wasser, und offenbar war es der Bootsführer, der wiederholt ‹Scheisse … Scheisse› rief. Dann der Versuch, den Motor wieder zu starten, was dem Bootsführer nach mehreren Versuchen gelang. Das Schiff raste davon. Sie schrie: ‹Marius, was ist passiert?› und hörte seine überschnappende Stimme: ‹Schnell – hol’ Hilfe, Arzt, Polizei.›
Grazia sah nichts – keinen Mond, es war elend dunkel! Wo war ihr Handy? Im Auto – sie suchte es verzweifelt, fand es am Boden. Sie wählte hastig die Notnummer der Polizei, drehte die Scheinwerfer an, um endlich etwas zu sehen. Und was sie sah, könne sie in ihrem Leben nie vergessen: das grelle Licht, das in die Bucht blendete. Verstreut im schwarzen Wasser rote Bruchstücke des förmlich zerhackten Kajaks. An einem sich festklammernd, ihr Freund, Marius. Sein blutüberströmtes Gesicht, sein hilfesuchender Blick. Sie, die jetzt hysterisch ins Telefon schrie, ihr Freund sei schwer verletzt, brauche Hilfe – sofort!
Endlich die ruhige Stimme des Polizisten, der nach der Unfallstelle fragte. Grazia, das Bild ihres ertrinkenden Freundes vor sich, brach in Weinen aus und versuchte umständlich und schluchzend zu erklären, wo sie sich überhaupt befand, wo dieses entsetzliche Unglück passiert war.»
Lena schaute vom Bildschirm auf. Sie hatte diesen erschütternden Inhalt in verschiedenen Zeitungen gelesen. Auch immer wieder die Aufforderung der Polizei, die Person, die am fraglichen Abend kurz vor Mitternacht am Steg in der «Schwanenbucht» von einem privaten Motorboot abgesetzt worden sei, solle sich melden.
Lena wollte ihren Laptop zuklappen, überlegte es sich anders und suchte nach dem Interview mit ihrem Vater während der Wahlparty. Sie schaute sich den einminütigen Clip mehrmals an. Dann packte sie ihre Sachen und verliess das Haus.
Das ganze Gebiet um die «Schwanenbucht» war abgesperrt, auch das Strandbad war geschlossen. Zugänglich war lediglich der Bootssteg, näher kam man an die Unfallstelle nicht heran. Lena bemerkte zuerst zwei Taucher, die im Wasser herumsuchten, dann ein Polizeiboot, das die kleine Bucht vom See her absicherte. Trotz dieser düsteren Hinweise wirkte die Bucht friedlich – fast idyllisch. Lena setzte sich auf den Steg, neben sich die Tasche mit ihrer Ausrüstung.
Möwen, die gierig glaubten, sie hätte wohl Futter dabei, flatterten und kreischten über ihr. Um die lauten Vogelgeräusche auszublenden, setzte sich Lena nach einer Weile die Kopfhörer auf. Diese Art der Abkapselung nahm der Situation vor ihren Augen das Zeitliche, sie wurde zu einem Bild, in das sie lange und bewegungslos hineinschaute.
Hier war es passiert, überlegte Lena. Hier war vor wenigen Tagen etwas geschehen, was das Leben von mindestens drei Menschen für immer veränderte. Ein gesunder junger Mann wurde innert Sekunden schwer verletzt, vielleicht für sein ganzes Leben zum Invaliden gemacht. Am Ufer eine ebenso junge Frau, die von nun an jeder Idylle misstraute, die für immer traumatisiert war. Sicher hatten die zwei gemeinsame Pläne gehabt. Eine Wohnung, berufliche Perspektiven, Gedanken an eine Familie.
Plötzlich das losbrausende Schiff. War es das ihres Vaters? Die «Aurora» – einladend, elegant, ihr Familienschiff? Ja, hätte es sein können. Es hätte innert Sekunden zum Rowdy werden können, der für einen Wimpernschlag in seinem Bootsleben nichts als Unheil anrichtet. Gesteuert von einem Mann, der ihr Vater sein könnte. Ihr Vater, dessen Überzeugung es war, korrekt zu sein, der glaubte, das Leben sei planbar, wenn man es nur richtig anpackte. Und jetzt? War er der feige Täter?
Sie dachte an das Interview, das sie soeben am Computer mehrmals angeschaut hatte: « … die gleiche Verantwortung. Und wer alkoholisiert ein Auto oder ein Schiff fährt, wird dieser Verantwortung nicht gerecht.» Was sollte dann dieses eigenartige Manöver im Schilf, der kaum erklärbare Crash im Bootshaus?
Lena legte den Kopfhörer zur Seite, zog das T-Shirt über den Kopf, die Shorts aus. Sie liess sich in einer sanften, ruhigen Bewegung vom Steg gleiten, bis Körper und Kopf vollkommen im Wasser verschwanden. Sie tauchte unter, so lange, wie sie es aushielt – holte Luft, um wieder unterzutauchen, und überliess sich so dem schmeichelnden Wasser und seiner Stille.
Umgeben zu sein von seinen Leuten gab Patrick insbesondere in diesen Tagen ein angenehmes Gefühl. Er schätzte seine Mitarbeiter, was die korrekte Bezeichnung war, weil heute lediglich Männer in der Arbeitsgruppe «Na3b» zusammensassen. Er hatte zu allen ein professionelles Verhältnis. Kollegial hätte er es nicht genannt. Ihm war eine respektvolle Abgrenzung wichtig und er war überzeugt, dass dies allen Mitarbeitenden – also auch den zwei Frauen im Team – angenehm war. Die fehlten heute – Priska Rüttimann vom Gewässerschutz und Danica Milic, die Archäologin.
Die militante Milic, so nannte er sie gegenüber Susanna Renner, versuchte mit allen Mitteln, das Projekt «Na3b», was die interne Bezeichnung für den geplanten Autobahnzubringer war, zu vereiteln. Und dies wegen ein paar Holzpflöcken, die scheinbar auf eine ehemalige Pfahlbauersiedlung hinwiesen. Diese Archäologen hatten ihn im Verlauf seiner Tätigkeit als Regierungsrat, und somit als Direktor für Hoch- und Tiefbau, schon einige Male unendlich viel Geduld und noch mehr Geld gekostet.
Sein Handy kündigte unangenehm laut eine SMS an. Patrick entschuldigte sich bei der Runde – er hasste Handy-Unterbrüche während Sitzungen. Es war Susanna Renner, die er damit beauftragt hatte, den Spitalbesuch von offizieller Seite her zu organisieren:
«Kennst du den Patienten persönlich? Habe keinen Namen.»
«Stimmt», ärgerte sich Patrick. Wieso hatte er sich das nicht überlegt? In den Medien wurde der Verunfallte stets mit «M. H.» bezeichnet. Aber so konnte er das Susanna nicht mitteilen.
«Geht um offiziellen Besuch bei Verletztem vom Motorbootunfall», tippte er. «Nein, das war nicht gut.» Er löschte «Motorbootunfall» und schrieb stattdessen: «von der Schwanenbucht.» Die Message war weg und er bemerkte erst jetzt, dass die Gruppe um den Tisch offenbar seit Längerem auf eine Antwort von ihm wartete.
«Patrick?», fragte Mario Granziol, der kantonale Tiefbau-Ingenieur, «nochmals, ist dir eine Expertise eines ausserkantonalen Ingenieurbüros bekannt?»
«Absolut – doch, doch, Mario, hatten wir ja so besprochen …», reagierte Patrick zusammenhangslos.
Seine Gedanken waren sofort wieder beim Unfall: Mario? Genau, so hiess doch der Verletzte – irgendjemand hatte diesen Namen fallen lassen. Mario – nein, Marius.
Sollte er das so Susanna mitteilen? Er kam nicht weit mit seiner Überlegung, denn Susanna hatte bereits wieder geschrieben: «Weiss das Departement Höchli darüber Bescheid?» Jetzt verlor Patrick komplett die Fassung.
«Tut mir leid – ich muss da ganz schnell … fünf Minuten.» Patrick stand auf, liess alle Unterlagen liegen und verliess hastig das Sitzungszimmer.
«Höchli – was hat die mit der Sache zu tun? Hatten die doch was gequatscht an der Party – Lena und sie?» Während ihm dieser Gedanke durch den Kopf schoss, tippte er: «Warum Höchli?!!» Blitzschnell kam die Antwort: «Wegen Justiz- und Polizeidep. Hat sie dich delegiert?» Natürlich hatte sie recht, die Renner, sie hatte eh immer recht. Das Ganze war eine verdammt dumme, geradezu idiotisch blöde Idee von ihm. Warum sollte er diesen Verletzten besuchen – das weckte ja die kühnsten Vermutungen. «Delegiert??» Das fand er zudem eine Frechheit von der Renner.
Patrick bekam nie einen roten Kopf. Nicht beim Sport und nicht beim Schwindeln. Er hatte schon in der Schule, wenn wegen einer Bagatelle alle anderen mit roten Ohren und Wangen vor dem Lehrer standen, immer entspannt, geradezu bleich ausgesehen. Jetzt allerdings hatte er einen roten Kopf und zwar so, dass Therese Bisang, die Assistentin von Schlupp, dem Personalchef, ihn auf dem Weg zur Toilette besorgt fragte, ob ihm nicht gut sei. Patrick hatte keine Lust, etwas zu sagen, tat so, als wäre er am Telefon und verschwand im WC-Raum. Er schloss sich ein und setzte sich auf den Ring.
Verdammt gut hatte sie das wieder gemacht, die Renner. Sie überlegte sich mehr als die meisten im ganzen Departement – all diese Akademiker, Masterabgänger, MBAler usw. Kein Wunder, war sie unbeliebt, denn sie tat als Einzige genau das, was er bei anderen bemängelte: Sie dachte die Dinge zu Ende, die Renner. Was er Esel genau in diesem Fall, bei dem es um ihn, um seine Position, um seinen Ruf ging, nicht getan hatte. Diese Schlinge hatte er sich selber um den Hals gelegt und er musste sie selber wieder loswerden.
Er musste mit Renner reden – ihm würde etwas einfallen, was mehr als nur einigermassen glaubhaft seine Idee des Spitalbesuchs erklären würde. Zudem, ausser der Renner hatte niemand von seinem dummen Ansinnen erfahren. Patrick fühlte sich besser, stand auf, spülte. Man wusste ja nicht, ob jemand anderer ebenfalls auf der Toilette war. Aus dem gleichen Grund wusch er sich die Hände.
Dann marschierte er mit sicherem Schritt zurück ins Sitzungszimmer.