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2. DAS GRUNDKONZEPT ANDREW TAYLOR STILLS (MAN IS TRIUNE)

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Die Beschäftigung mit den Texten und der Geschichte der Osteopathie erbrachte allmählich ein deutlicheres Bild des von Andrew Taylor Still Geschriebenen. Die historische und philosophische Erforschung der Werke Stills kann heute mit einer gewissen Sicherheit an klassische Versuche anknüpfen. Zu nennen sind vor allem der Professor an der Chicagoer Osteopathieschule Carl P. McConnell, der noch zu Lebzeiten Stills die Texte Stills im Kontext zeitgenössischer philosophischer Diskussionen verortete.7 Hinzu treten die Versuche von Wilborn Deason den medizinisch-philosophischen Hintergrund Stills aufzuhellen.8 Darauf beruhen auch die gehaltvollen Versuche von Carol Trowbrigde9 und James/Rene McGovern.10 Auch Walter Llewellyn McKone entwickelt diese Arbeiten weiter.11 Wichtige Facetten zu diesem Bild hat jüngst Jane Stark hinzugefügt.12 Dabei ist aus historischer Sicht vor allem ihr Nachweis zu würdigen, dass Still Freimaurer war – was sich einem aufmerksamen Leser seiner Texte aufgrund der Architekten- und Baumetaphorik als nahe liegende Lektürehypothese geradezu aufdrängt. Jane Stark hat darüber hinaus zu dieser Übersetzung eine Reihe von wichtigen Interpretationsvorschlägen beigesteuert, sodass der Lektor und Übersetzer ihr zu großem Dank verpflichtet ist.

Trotz mancher Fragen, die man stellen kann, bleibt es wohl doch bei den grundsätzlichen Überlegungen, die schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt worden sind. Still war in der Pionierzeit des heutigen Mittleren Westens der Vereinigten Staaten bis hin nach Kalifornien (American Frontier) durch die durchaus harte Welt der ihn umgebenden Natur fasziniert. Er beobachtete genau, er las – wie es in seinen Schriften heißt – das ‚Buch der Natur‘, in das sich für die aufmerksame menschliche Erfahrung zugänglich ‚Gott‘ eingeschrieben hatte. Wann er begann, dies kritisch-theoretisch zu reflektieren, bleibt historisch im Dunkeln. Dass er es getan hat, steht allerdings außer Zweifel. Er setzte sich mit theoretischen Bemühungen auseinander, die im Kontext des ‚Amerikanischen Transzendentalismus‘ entstanden waren.13 Es handelt sich hierbei um die Romantik der ‚Vereinigten Staaten‘, die auf viele Intellektuelle und Praktiker großen Einfluss hatte. Hier wurden auch Themen akademisch diskutiert, die auf dem ‚alten‘ Kontinent keine große akademische Relevanz mehr hatten: Emmanuel Swedenborg, Mesmerismus, Spiritismus u. a. m. Von diesen Entwicklungen war Still offenkundig beeinflusst, wie schon Carol Trowbrigde überzeugend dargelegt hat. Eine Bestätigung findet dies in der Arbeit von Jane Stark. Bei Ralph Waldo Emerson kommen die Grundzüge dieser Betrachtungsweise schön zum Ausdruck:

„Unser Zeitalter ist retrospektiv. Es baut die Grabdenkmäler seiner Väter. Es schreibt Biografien, Geschichtsbücher und Kritiken. Frühere Generationen schauten Gott und Natur von Angesicht zu Angesicht; wir jedoch sehen nur mit ihren Augen. Warum sollten nicht auch wir uns einer ursprünglichen Beziehung zum Universum erfreuen? Warum sollten wir nicht eine Dichtung und Philosophie der Einsicht statt der bloßen Tradition haben und eine Religion zu uns sprechender Offenbarungen anstelle einer Geschichte unserer Vorväter?“ 14

Diese Grundgedanken variiert Still in seinen Texten unaufhörlich. Er teilt mit dieser Strömung die Ablehnung von Tradition, nur vermittelter Erfahrung und Wahrheit. Wir müssen stattdessen direkt, ursprünglich Zugang zu ‚Gott und der Natur‘ finden, uns den Offenbarungen des Universums zuwenden. So entsteht eine Dichtung und Philosophie der Einsicht, wobei sich Still vorwiegend der Philosophie zugewandt hatte, obgleich seine Sprache auch an manchen Stellen eine poetische Kraft gewinnt. Philosophisch ist es wichtig, Gott und die Natur zu erfassen, also in diesem Sinne das Ganze zu verstehen, auch wenn man nur einen eher schmalen, freilich wichtigen Teilbereich wie die Medizin praktisch bearbeitet.

Für Stills Position war grundlegend, dass er das zentrale Wirklichkeitsmodell der poetisch-philosophischen Versuche der Transzendentalisten für sich eigentümlich entwickelte. Wie in der deutschen Frühromantik versuchte man in der Romantik der Vereinigten Staaten vor allem den Natur-Kultur-Dual zu überwinden, also: Wo Natur ist, gibt es keine Kultur – und umgekehrt. Das gleiche gilt natürlich auf den Menschen bezogen, also anthropologisch auf das Verhältnis von Natur und Geist. Beides kann nicht streng gegeneinander definiert werden. Im Unterschied zur deutschen Frühromantik entwickelten aber zumindest einige ‚Amerikanische Transzendentalisten‘ das Modell einer dreifach differenzierten Einheit, welche die Gegensätze von Natur und Geist und von Natur und Kultur überbrücken sollten.15 Es liegt auf der Hand, dass Stills dreigliedrige Unterscheidung von mind, matter, motion bzw. mind, body, spirit oder being of mind, material body und spiritual being genau dies leisten sollte. Gemeint sind in deutscher Wiedergabe Verstand, Körper und Seele. Konsequent sprach Still daher auch davon, dass der Mensch eine dreifach differenzierte Einheit sei: Man is triune.16 Dabei ist beides gleich wichtig: der Mensch stellt eine Einheit dar und diese Einheit ist dreifach differenziert – was für das Gotteskonzept die christliche Trinitätslehre hatte leisten sollen.17

Die drei Elemente der Einheit stehen in ständiger Kommunikation miteinander. Dies ist allerdings ein Punkt, den Still eher voraussetzt als einer genauen Untersuchung unterzieht.18 Hier bleiben insbesondere für die Konzeption des spiritual being weiter offene Fragen. Sicher ist nur, dass für Still darin das personale Zentrum eines Individuums lag, ob dies nun als Prinzip oder als Substanz zu denken sei. Beide Auffassungen finden sich in Stills Werk. Diesem spiritual being schreibt Still eine postmortale Existenz zu. Im irdischen Leben bewegt es den Körper (material body).

Dieser ist als dynamisches Fließgleichgewicht von Nervenimpulsen und Körperflüssigkeiten zu verstehen, der nerve fluids oder auch nerve action sowie der body fluids, arterielles und venöses Blut, Lymphe, Darmlymphe und Zerebrospinale Flüssigkeit verstanden. Fluid umfasst hier durchaus auch gasförmige Zustände. Es geht dabei um eine fortwährende Prozessualität, es besteht keine Statik. Auch der von Still unterstellte Normal-zustand besteht in einem dynamischen Fließgleichgewicht (equilibrium), das stets neu aufgebaut werden und verbrauchte Elemente ausscheiden muss. Beide Elemente, nerve fluids und body fluids, hängen wechselseitig voneinander ab. Genau auf diesem Modell gründet Stills Krankheitsverständnis:

Vor dem Hintergrund dieses Gedankens fragte ich mich: Was ist Fieber? Ist es eine Wirkung oder eine eigentliche Krankheit – wie es allgemein von medizinischen Autoren beschrieben wird? Ich erschloss, es sei einfach eine Wirkung, überprüfte diese Hypothese experimentell und wunderbarer Weise bestätigte die Natur ihre Wahrheit. Nach 25 Jahren genauer Beobachtung und Experimente schloss ich, dass es keine Krankheiten wie Fieber, Erkältung, Diphtherie, Typhus, Paratyphus, Lungenfieber oder alle anderen Krankheiten, die man unter dem allgemeinen Begriff Fieber, wie Rheumatismus, Gicht, Ischias, Koliken, Leberkrankheiten, Nesselausschlag oder Pseudokrupp bis hin zum Ende dieser Liste zusammenfasst, gibt. Es gibt sie als Krankheiten einfach nicht. Es handelt sich bei diesen nur um einzelne oder kombinierte Wirkungen. Die Ursache kann gefunden werden und sie besteht in der verringerten oder verstärkten Nervenaktion, welche die Flüssigkeiten in Teilen oder im Ganzen des Körpers steuert. Es erscheint völlig schlüssig für jeden, der mit mehr als den Fähigkeiten eines Narren geboren wurde und der sich mit der Anatomie und der Funktion des Lebensmechanismus vertraut gemacht hat, dass alle diese Krankheiten nur Wirkungen sind, deren Ursache im teilweisen oder ganzen Versagen der Nerven liegt, die Lebensflüssigkeiten vernünftig zu leiten. (Autobiografie)

Die verringerte oder verstärkte Nervenaktion steht im Vordergrund der Wahrnehmung Stills. Aber natürlich sind die Nerven so abhängig von der arteriellen Ernährung und der venösen Drainage wie umgekehrt. Doch die osteopathische Manipulation geht tatsächlich primär von der Hemmung oder Verstärkung von Nervenimpulsen aus (vgl. das Kapitel XX in Die Philosophie der Osteopathie, das von William Smith stammt).

Der Verstand, der mind soll dies alles leiten (manage). Wie das genau für den einzelnen Menschen aussieht, bleibt ebenfalls eine offene Frage. Es ist z. B. so, dass die Blutkörperchen in ihrer Aktion vom mind bestimmt sind. Möglicherweise war Still hier auf dem Wege zu Einsichten, die in der ‚Psychosomatischen Medizin‘ diskutiert werden. Dann müssen freilich die vielen metaphorischen Äußerungen, nach denen der mind anordnet, befiehlt usf., die Blutkörperchen gehorchen und die Befehle ausführen usf. ernst genommen werden. Still scheint sich vorgestellt zu haben, dass durch die Nervenimpulse Informationen weitergegeben werden, die verstanden werden können und müssen, aber auch abgelehnt oder angenommen werden können. Und Krankheit entsteht dann, wenn dieser Informationsfluss gestört ist. Daher der Ansatz bei der Manipulation der Nerven, insbesondere in der Halswirbelsäule und entlang der Wirbelsäule.

Still folgt darin wohl (bewusst oder unbewusst) den Alten. Schon diese hatten die medizinische Kunst mit den Zeichen in Verbindung gebracht. Auch Still kennt den Ausdruck Semiotik (Zeichenlehre, Zeichentheorie) und verwendet ihn ganz traditionell: Die Zeichen stehen für die Symptome, von denen man auf die Ursachen schließen kann. Die Zeichen sind der Ausdruck der Krankheiten. Der Vorwurf Stills an die Medizin seiner Zeit, aber auch darüber hinaus besteht nun darin, dass man eben Zeichen und Ursachen verwechselt, also die Zeichen für die Krankheiten hält – und praktisch dann den Rauch (Zeichen, Symptome) anstelle des Feuers (Ursache) bekämpft. Doch die tatsächlichen Ursachen liegen in Hemmungen oder übermäßigen Beschleunigungen der Nervenimpulse, die durch Fehlstellungen insbesondere des Skeletts zustande gekommen sein sollen.

Sieht man dies, wird deutlicher, was der mind für die Osteopathie als Wissenschaft bzw. die osteopathische Philosophie bedeutet. Wie seit der Antike üblich, aber zeitgenössisch durch so unterschiedliche Autoren wie Sir Arthur Conan Doyle mit seiner Figur Sherlock Holmes und Charles Peirce mit seiner ausgeführten Semiotik ausführlich dargestellt, versteht Still die Tätigkeit des mind als Schlussfolgerungsprozess (reasoning bzw. reason), der conclusions (Schlussfolgerungen als Resultat) erzielt.19

„Es gibt nur eine Methode des Schließens. Diese Methode liegt in den Gesetzen des Gegenstands begründet, den wir erschließen. Schließen ist die Aktion des Verstandes, während er auf der Suche nach der Wahrheit ist.“ (Die Philosophie der Osteopathie)

Das ist nach beiden Seiten zu bedenken. Betrachtet man dieses Zitat im Blick auf das Verhältnis von mind und Blutkörperchen, dann wird man wohl unterstellen dürfen, dass Still auch hier den mind auf der Suche nach der (praktischen) Wahrheit sieht, also auch diese Aktionen des mind über das Nervensystem und seine verschiedenen Aspekte als Schließen versteht. Dann stände er den heute sehr ausgearbeiteten Versuchen in der Psychosomatischen Medizin nahe, die unter Rückgriff auf Charles Peirce und mit einem genaueren naturwissenschaftlichen Wissen das Verhältnis von Körper, Verstand und Seele als derartige schließende Zeichenprozesse verstehen.20

Still geht darüber noch hinaus. Ihm zufolge ist der Mensch eine Repräsentation, eine Darstellung, ein Zeichen des Kosmos, insbesondere der mechanischen Beziehungen des Sonnensystems.21 Nach Still ist also der gesamte Kosmos semiotisch organisiert, weil der Mensch als Mann und Frau eine Darstellung des Kosmos ist. Still vertrat mithin wie indische und chinesische Medizinentwürfe eine Mikrokosmos-Makrokosmos-Vorstellung. So kann er einzelne Organe wie das Herz oder Gliedmaßen wie den kleinen Zeh mit Planeten des Sonnensystems vergleichen. Anders als die indischen und chinesischen medizinischen Schwestern verwendete er die Mikrokosmos-Makrokosmos-Vorstellung aber nicht dazu z. B. (teilweise energetisch interpretierte) Ernährungsempfehlungen zu geben oder entsprechende Medikamente zu verordnen. Es geht bei Still um die einander im Makrokosmos und dem Menschen als Mikrokosmos entsprechenden mechanischen Beziehungen von Elementen eines Systems. Jedenfalls versuchte er u. a. so, das transzendentalistische philosophische Postulat zu erfüllen, man müsse Gott und Natur jenseits der Traditionen und Gewohnheiten als ursprünglicher Denker direkt begegnen.

Diese osteopathischen Schlussfolgerungen sind insgesamt auf die Evidenzbasis der fünf Sinne angewiesen. Da es sich dabei um aus verschiedenen ähnlichen oder gleich erscheinenden Erfahrungen gewonnene Regeln handelt, ist der zentrale osteopathische Schlussfolgerungsprozess wie überwiegend im Abendland die Induktion.

Damit ist gemeint, dass wir verschiedene ähnliche Fälle wahrnehmen, die wir als Fälle einer Regel verstehen können. Wenn in vielen Fällen ein bestimmtes Symptommuster vorliegt, dann können wir induktiv schließen, dass folgende Krankheit besteht… Wir schließen induktiv von der Ähnlichkeit der Zeichen bzw. der Symptome auf die gleiche Krankheit als Ursache.

Unsere Erfahrung ist induktiv aufgebaut. Aufgrund vieler ähnlicher Wahrnehmungen haben sich Erfahrungsmuster aufgebaut, die uns schon selbstverständlich erscheinen, sodass wir den Schlussfolgerungsprozess kaum einmal bewusst erleben. Darin liegt eine latente Unsicherheit, weil zukünftige Erfahrungen unsere Regeln nicht zwingend bestätigen müssen, die wir gegenwärtig für richtig halten, sondern uns zum Neuentwurf oder zur Korrektur einer Regel anregen. Eben deswegen regte Still die Überprüfung seiner Ergebnisse in der zukünftigen osteopathischen Erfahrung an und lehnte jede Form der Heldenverehrung ab.

Wenn unsere induktiv gewonnenen Einsichten für uns unverrückbar geworden zu sein scheinen, dann erlauben wir uns manchmal auch deduktiv zu schließen. Aus einer als feststehend betrachteten Einsicht, ziehen wir logisch zwingend Schlüsse. So bezweifeln nur ganz wenige, dass aus ‚Martin Pöttner ist ein Mensch‘ folgt, dass Martin Pöttner sterblich ist. Denn wir unterstellen überwiegend, dass alle Menschen sterblich sind. Daraus folgt, dass Martin Pöttner sterblich ist. Still tendiert in seinen Texten dazu, die von ihm entdeckten grundlegenden Prinzipien als solche unverrückbaren Einsichten, als unerring natural laws (‚irrtumsfreie Naturgesetze‘) zu betrachten. Gleichwohl muss dies wohl auch nach Still immer noch die Zukunft zeigen, obgleich er nicht daran zweifelte, dass es so sein werde.

Wie kommt man nun überhaupt zu Einsichten? Natürlich werden wir erst einmal in elementaren Erfahrungssituationen als Kleinkinder von unseren primären Bezugspersonen erzogen und mit grundlegenden Einsichten, die sie haben, vertraut gemacht: ‚Fasse nicht auf die Herdplatte, Du tust Dir sehr weh!‘ Kommt man aber ins Fragen, ob dies denn alles so stimmt, was einem die Erwachsenen erzählt und beigebracht haben, dann kann man sich zunächst bei anderen Autoritäten informieren und von ihnen Einsichten zu erwerben versuchen. Doch schließlich kommen viele Menschen in die Situation, in der Still spätestens nach dem Tod von mehreren Familienmitgliedern durch Zerebrospinale Meningitis war: Er erkannte, dass sein religiöser und medizinischer Hintergrund, mit dem er aufgewachsen war, nicht trug. Mit ihm ließ sich die schreckliche Situation nicht hinreichend deuten. Was nun? Man muss raten, wie es anders ist. Man begegnet Fremden und versucht sich neu zu orientieren. Man muss raten. Da Still aber kritisch war, riet er tapfer, wusste, dass er geraten hatte, und versuchte die erfolgreichen Rateergebnisse durch verschiedene ähnliche Erfahrungen zu bestätigen. Er schloss also aufgrund einer Erfahrung von Fremdheit ratend, unterstellte, dass sein Handeln wie das Reiben der Wirbelsäule eines an Durchfall erkrankten Kindes offenbar mit regelmäßigen Gründen erfolgreich gewesen war. Die fremde Erfahrung musste also der Fall einer Regel sein. Nur wie sah die Regel aus? Still bestätigte für sich zunächst, dass diese Methode mehrere Fälle von Durchfall kontrollieren konnte. Doch er wusste noch immer nicht, wie die Regel aussah. Irgendwann aber kam er auf die Regel des Verhältnisses von nerve fluids und body fluids. Den Rateprozess, den Still durchlaufen hatte, nennt man (wohl seit der Antike) Abduktion bzw. Hypothese (insbesondere im antiken medizinischen Kontext). Er ist noch erheblich zerbrechlicher als die Induktion. Aber ohne ihn könnte man niemals zu neuen Erkenntnissen kommen, also ‚Gott und die Natur‘ direkt oder ursprünglich und jenseits der traditionellen Auffassungen erfassen. Still wendet diesen Punkt kritisch gegen seine medizinischen Zeitgenossen. Sie haben gerade in der Symptomatologie und Semiotik nur geraten, aber nicht weiter induktiv überprüft. Darin besteht der nachvollziehbare Kern seiner Kritik.

Mit dieser Haltung Stills, die seine Person stark abdunkelt und die wissenschaftlichen bzw. philosophischen Ergebnisse in den Vordergrund stellt, sind einige Verständnisschwierigkeiten verbunden, die vor allem eifrige Historiker/innen in eine gewisse Verzweiflung stürzen können. Sie fragen zumeist: Wo kommt etwas her, woher hat er das? Oder hat er das selbst entwickelt? Welche Rolle spielen die Shawnee-Indianer? Hat er die Theorie der Fermentation aus der Cellularpathologie Rudolf Virchows oder doch nicht? Wie steht es mit dem Einfluss Herbert Spencers oder gar Charles Darwins auf Still? Für einen denkenden Menschen wie Still spielen derartige Fragen keine große Rolle und sie sollten auch keine Rolle spielen. Man soll versuchen, seine Texte zu verstehen und sie in der eigenen Erfahrung zu überprüfen. Werden sie bestätigt – was Still sich natürlich erhofft – dann ist es gut. Falls aber nicht, dann hatte Still nicht genau genug hingesehen, empfindsam genug getastet und besonnen genug nachgedacht. Und dann kann man das von Still Geschriebene auch vergessen… Es geht Still also ganz zentral um die Sache, um strictly speaking to the point. Daher scheint es kein Zufall, dass er seine Autobiografie mehr oder weniger konsequent auf die Entstehung der Osteopathie (Kapitel I – XI) hin zuschneidet und sie ausführlich mit osteopathischen Aufsätzen und Vorträgen (Kapitel XII – XXXI) verbindet. Es geht um die Sache, die Osteopathie. Still hat sie zwar entdeckt, aber ihre Gesetze sind so alt wie das Universum selbst. Also ist die Sache sehr viel größer als ihr Entdecker. Man kann dies – wie McKone es tut – mit der phänomenologischen philosophischen Richtung zusammenbringen.22

Entscheidend aber ist, dass man selbst diese Haltung zur Sache einnimmt – und zum original thinker, zum ursprünglichen Denker wird.

Darauf zielen Stills Bücher. Die Philosophie der Osteopathie entfaltet die zentralen Prinzipien der Osteopathie. Die Philosophie und mechanische Prinzipien der Osteopathie stellen faktisch eine Art von zweiter erweiterter und oft variierter Auflage des Titel Die Philosophie der Osteopathie dar. Das Werk Forschung und Praxis ist in seiner Gestaltung mit Paragrafen und der (nicht in jedem Fall vollständigen) Gliederung im Bereich der verschiedenen Krankheiten in Definition, Ätiologie, Untersuchung, Diagnose, Behandlung, Prognose, wozu oft noch eine Allgemeine Diskussion tritt, am ehesten ein gewöhnliches medizinisches Lehrbuch. Unterstrichen ist dies noch durch die fortwährenden Zitate aus den Standardautoren Dunglison und Dorland. Aber auch hier behandelt Still für ihn wichtige philosophische Themen wie die Frage nach der Gestalt des Lebens in Mensch und Tier (§§ 905 – 911). Er versucht also fortwährend die Osteopathie als praxisbezogene Wissenschaft vor dem Hintergrund allgemeiner, universaler philosophischer Prinzipien darzustellen, die das ganze Universum, Gott und Natur, umfassen.

Das große Still-Kompendium

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