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VORWORT DES HERAUSGEBERS (2013) Vorbemerkung

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Seit der Überarbeitung des Still-Kompendiums vor acht Jahren ist viel passiert. Andrew Taylor Still (1828 – 1917), dem Entdecker der (klassischen) Osteopathie, wird im deutschsprachigen Raum inzwischen eine zunehmend breitere Würdigung zuteil. Zudem wird immer offensichtlicher, dass seine Osteopathie weitaus komplexer ist, als man dies ursprünglich vermutet hatte. Maßgeblichen Anteil an diesem Einsichtsprozess hat dabei mit Sicherheit auch die wachsende Zahl an Titeln kompetenter Still-Kenner, von denen ich Ihnen folgende besonders empfehlen kann: Stills Faszienkonzepte (Stark), Interface (Lee), Osteopathie und Swedenborg (Fuller), A. T. Still (Lewis), Klassische Osteopathische Feldtheorie, (Hartmann/Pöttner) und natürlich der Klassiker Andrew Taylor Still 1828 – 1917 (Trowbridge), als ideale Einführungsliteratur. Die ‚philosophisch‘ wohl qualifizierteste Einschätzung zur klassischen Osteopathie ist m. E. aber nach wie vor die nachfolgende Einführung des Mitübersetzers und kritischen Bearbeiters der Still-Texte, Dr. Martin Pöttner, seines Zeichens Privatdozent für Philosophie und Theologie. Ihm möchte ich an dieser Stelle nochmals ausdrücklich für seine unschätzbaren Beiträge danken.

Auch die nach fast einem Jahrhundert wieder auftauchenden Texte seines wohl wichtigsten Schülers, John Martin Littlejohn (1866 – 1947) belegen, dass die klassische Osteopathie trotz ihrer scheinbar einfachen Anwendung tatsächlich ein äußerst komplexes Gedankengebäude repräsentiert, in der die Frage nach den Lebensprozessen mit ihren Mechanismen noch im Zentrum des Interesses stand und die medizinische Umsetzung lediglich einen Seitenast an diesem Baum darstellte. Dies erscheint nur logisch, wenn man weiß, dass Still die Medizin bei seinem Vater, dem Methodisten-Prediger Abram Still, im Einflussbereich des Amerkianischen Swedenborgianismus und im Umfeld der Medizin der Shawnee-Indianer erlernte. In diesem Gesamtkontext und in Hinblick auf die prägenden Jahre der Begleitung seines Vaters ging es Still vorrangig eben nicht um Körpermedizin, sondern zunächst um Seelsorge mit der darin eingebetteten Körpermedizin. Der Menschen in seiner Gesamtheit stand im Fokus – nicht Patienten mit Symptomen und Diagnosen. So nahm Still den Menschen immer als eingebettet in und durchdrungen von einer schöpferischen Intelligenz wahr. Eine Intelligenz, die allein für alle Prozesse des Lebens verantwortlich zeichnet. Und so ist es nur konsequent, dass er dieser metaphysischen und mechanistisch wirkenden Kraft (Lebenskraft) weit mehr Aufmerksamkeit schenkte und die für Körperärzte typische Fokussierung auf Symptome und Pathologien nur nachrangig abhandelt. Da die Vorstellung der Lebenskraft aber mit dem in der Salutogenese gebräuchlichen Begriff Ressourcen gleichzusetzen ist, kann Stills Osteopathie folglich als salutogenetische Medizin identifiziert werden:

„Gesundheit zu finden sollte die Aufgabe des Arztes sein. Jeder kann Krankheit finden.“ [Still, Die Philosophie der Osteopathie]

Wenn man Still eingehend studiert (und verstanden) hat, kann man diesen Satz in etwa wie folgt in moderne Terminologie übersetzen:

Das Vertrauen in die natürlichen und sich stets in Richtung Normophysiologie prozessual entfaltenden Ressourcen im menschlichen Organismus wiederzufinden und ihnen individuell optimale anatomisch-(psycho-) physiologische Rahmenbedingungen zur Entfaltung über die möglichst frei fließenden Körperflüssigkeiten als medial wirkende Informationssysteme zu verschaffen ist Aufgabe des Arztes. Symptome und Pathologien finden und mit konzeptuellen Methoden angehen kann jeder.

Ich erwähnte ja bereits: Stills Philosophie ist ziemlich komplex. Und sie ist eindeutig salutogenetisch orientiert. Der Begriff Salutogenese wurde zwar erst in den 1970ern von dem amerikanischen Soziologen Aaron Antonovsky geprägt, er selbst betont aber, dass es sich um einen Denkansatz handelt, der so alt ist wie die Menschheit und keine Erfindung oder Methode von ihm sei; insofern ist es vollkommen legitim, Stills Osteopathie als ‚salutogenetisch‘ zu bezeichnen. (Salutogenese schließt Pathogenese übrigens nicht aus, sondern betrachtet diese als integralen Sonderfall.)

Ein zentrales Paradigma der Salutogenese fordert darüber hinaus dazu auf, die Vorstellung der Absolutbegriffe ‚Gesundheit‘ und ‚Krankheit‘ durch die Vorstellung eines relativen und sich daher ständig ändernden Zustandskontinuums zu ersetzen. Durch die Auflösung des Krankheitsbegriffs verschwindet auch die Vorstellung des ‚Bösen‘, welches es zu besiegen gilt und folglich auch die Vorstellung des Behandlers als ‚Heilers‘ oder ‚Gesund-Machers‘ (Dass sich jedes gesunde Therapeuten-Ego dagegen zunächst verwehrt ist nur normal, denn schließlich ist es doch exakt das, was die Patienten von Ihren Behandlern erwarten.) Dass die klassische Osteopathie dieses zentrale Paradigma der Salutogenese geradezu beispielhaft erfüllt, mag Ihnen auch ein kleiner Auszug aus Louisa Burns, DO Basic Principles aus dem Jahr 1907 (!) verdeutlichen:

„Es gibt etwas wildes in der Einstellung besonders bei Akuterkrankungen und man kann den Unwissenden, der lediglich die oberflächlichen Aspekte eines Leidenden betrachtet, nicht dafür tadeln, dass er Krankheit für ein grausames Wesen hält, das es zu versöhnen oder zu bekämpfen gilt. […] Ist Krankheit ein Wesen mit bestimmten Kräften… ist die rationale Vorgehensweise das Austreiben, Töten oder Zuwiderhandeln der Krankheiten, oder besser gesagt der entsprechende Kreatur. Aber dieser Standpunkt entspricht nicht der Wahrheit, denn Krankheit ist kein Wesen! […]

Tatsächlich wurden bestimmte Ansammlungen von Symptomen… studiert und benannt, wodurch unser Wissen enorm erweitert wurde; dennoch entspricht es nicht der Wahrheit, dass etwas Reales existiert, das ‚Krankheit‘ heißt. […]

Krankheitssymptome sind Anstrengungen [Anm.: des Organismus] […] um die eigene Existenz unter veränderten und anormalen Bedingungen zu erhalten. […]

Gesundheit ist ebenso wenig ein eigenständiges Wesen; beide: Gesundheit und Krankheit sind nur abstrakte Ausdrücke, um bestimmte Zustände des Stoffwechsels zu beschreiben. Gesundheit ist nichts weiter als jener Zustand eines Organismus, der vollkommen an seine Umgebung angepasst ist; Krankheit entspricht einem Zustand schlechter Anpassung.“ 1 [Hervorhebung durch den Herausgeber]

Es sei hier noch erwähnt, dass Louisa Burns zusammen mit J. M. Littlejohn die Speerspitze der damaligen Osteopathie-Wissenschaft bildete. In Hinblick auf Sorgfalt, Systematik, Klarheit und Tiefe gehörten beide zur damaligen medizinischen Wissenschaftselite.

Die Umsetzung von Stills salutogenetischer Osteopathie erfordert folglich nicht nur einen intellektuellen Umdenkprozess, sondern zudem eine grundlegende psychologische Transformation des therapeutischen Selbstverständnisses vom ‚Macher‘ zum ‚Begleiter‘. Kann es vielleicht sein, dass eben diese drohende Ohnmacht (‚Was soll ich denn dann noch machen?‘) mit dem Verlust einer sicheren Rolle im Behandlungsprozess der eigentliche Grund dafür ist, warum die moderne Medizin und Osteopathie sich so schwer mit Stills oder auch Antonovskys Ansatz tut? Ist dies eine mögliche Erklärung für das Phänomen, dass immer wieder versucht wird Salutogenese pathogenetisch ‚zurückzudeuten‘, so als gäbe es einen blinden Fleck im mentalen Sichtfeld, ein Unvermögen ‚jenseits der Wagenspuren‘ zu denken, um Stills bildhafte Sprache zu verwenden?

Nun kann man natürlich völlig zurecht einwenden, dass Still Begriffe wie ‚Gesundheit‘, ‚Krankheit‘, ‚Heilen‘ etc. unzählige Male und vermeintlich im absoluten Kontext verwendet. Vergessen Sie aber nicht, dass es zum damaligen Zeitpunkt noch keine entsprechende Terminologie gab. Die Tatsache, dass der kaum gebildete Still versucht salutogenetische bzw. prozessuale Ideen in der Terminologie des 19. Jahrhunderts auszudrücken, muss den modernen Leser beim Rückblick fast zwangsläufig verwirren oder gar verstören. Dieser markante Widerspruch zwischen der gedachten Systematik und dem, wie Still es ausdrückt, löst sich folglich nur dann auf, wenn man immer wieder versucht ihn ‚zwischen den Zeilen‘ und im Gesamtkontext unter Ausblendung der modernen Interpretation von Begrifflichkeiten zu verstehen. Dies widerspricht vollkommen der Art und Weise wie wir uns medizinischer Literatur gewöhnlich nähern: Wir erwarten genaue Beschreibungen, klare Antworten, streng logische Systematik, methodologisch saubere Beweisführungen, praktisch sofort umsetzbare Konzepte. Der Schlüssel zu Stills Welt liegt aber darin, sich ihr nicht mit einer durch diese Prägung und Alltagszwänge geschaffenen intellektuellen und emotionalen Zwangsjacke zu nähern, sondern zuvor seinen Geist möglicht weit, offen und vorurteilsfrei zu machen. Still ist poetisch, lyrisch, banal, und doch unendlich tiefsinnig - romantische Wissenschaftssprache at it‘s best, sozusagen. Und nur wer sich seinen Texten mit entsprechend offener Geisteshaltung nähert und nicht erwartet, dass der Text sich den eigenen Bedürfnissen anpassen soll, wird den Eingang zu seiner Welt finden.

Das große Still-Kompendium

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