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a) Rückblick

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Die Identität der Verwaltungsrechtswissenschaft ist, wie die Beiträge dieser Bände zeigen, in den meisten Ländern dadurch geprägt, dass sie ihren Gegenstand als ein Sonderrecht aus dem Phänomen der staatlichen Hoheitsgewalt begreift.[29] Der dominierende Ansatz sieht das Verwaltungsrecht als ein Sonderrecht des Staates, genauer: der staatlichen Exekutive. Entsprechend wird die Verwaltungsrechtswissenschaft vor allem in Abgrenzung zu dem auf Gleichordnung ausgerichteten Privatrecht begriffen. Dieses Verständnis ruht auf der alten, bereits im Corpus Iuris angelegten Unterscheidung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht[30] und ist oft mit den Zuständigkeitsbereichen unterschiedlicher Gerichtsbarkeiten verknüpft. Im europäischen Rechtsraum stellt sich die Frage, ob dieses Verständnis, welches bereits in den staatlichen Rechtsordnungen etwa aufgrund der sog. Privatisierung von Aufgaben und der Verwendung privatrechtlicher Instrumente unter Druck steht,[31] einen Begriff des Unionsverwaltungsrechts tragen kann.

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Einleitend ist festzuhalten: Moderne Hoheitsgewalt ist, wie das englische Beispiel zeigt, nicht auf eine Sonderrechtswissenschaft im traditionellen kontinentaleuropäischen Sinne angewiesen. Das Verständnis des Verwaltungsrechts als staatliches Sonderrecht und das entsprechende Verständnis der Disziplin sind Ausdruck eines spezifischen, keineswegs notwendigen Entwicklungspfades moderner Staatlichkeit. Sabino Cassese skizziert die Entwicklung der staatlichen Verwaltungen in Europa ausgehend von einem englischen und einem französischen Modell. Den französischen Typus kennzeichnet die Ausbildung einer hierarchischen zentralstaatlichen Verwaltung und eines entsprechenden Sonderrechts, mit dem dieser Apparat politische Ziele, genauer: Ziele seiner Spitze, verfolgt. Dieses Sonderrecht suspendiert zugunsten der Staatsverwaltung das allgemein geltende Recht und die Kontrollkompetenz der oft ständisch verhafteten Gerichte. In England hingegen unterbinden die frühe Parlamentarisierung und die „glorreiche“ Revolution von 1688 die Ausbildung einer solchen Bürokratie und eines Sonderrechts des obrigkeitlichen Privilegs.[32] Gewiss, die Royal Prerogatives und die Immunität der Krone sind Jahrhunderte alte Rechtsinstitute, die durchaus Ähnlichkeiten mit dem französischen Sonderrecht aufwiesen und weiterhin aufweisen,[33] sie begründen aber keine wissenschaftliche Disziplin. Selbst die späte wissenschaftliche Grundlegung der englischen Verwaltungsrechtswissenschaft im Verlauf des 20. Jahrhunderts erfolgt nicht zur Durchsetzung eines zentralstaatlichen Machtanspruchs.[34]

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Das englische Modell übt seit dem 18. Jahrhundert große Strahlkraft aus.[35] In den Staaten des Kontinents, die nicht die Kraft zu einer „glorreichen“ Revolution finden, setzt sich gleichwohl im 17. und 18. Jahrhundert das französische Modell durch. Der Siegeszug der Idee einer hierarchischen zentralstaatlichen Verwaltung wird in dem an Versailles orientierten Schlossbau vieler deutscher Landesherren oder von Monarchen in Spanien, Neapel oder Piemont veranschaulicht. Im Schatten dieses Modells bilden sich staatliche Bürokratien, deren Sonderrecht und, für unseren Zusammenhang besonders bedeutsam, entsprechende akademische Einrichtungen.

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Viele Fürsten richten im Prozess der Staatsbildung Universitäten ein und fördern eine ihren Herrschaftsanspruch stützende Rechtswissenschaft,[36] welche die kontinentaleuropäische Entwicklung einer „kompetenziell ausdifferenzierten, verschriftlichten, tendenziell normierten und bürokratischen sowie zunehmend verwissenschaftlichten Amtsführung“ begleitet.[37] Die Rechtswissenschaft an den fürstlichen Universitäten übernimmt die Sammlung und Ordnung des normativen Materials sowie die Ausbildung entsprechenden Verwaltungspersonals. Neben Dokumentation und Ausbildung tritt die Politikberatung: Professoren produzieren Schriften, welche der obrigkeitlichen Herrschaftsausübung Orientierung geben wollen. Es wird zum Staatszweck, mittels einer fähigen Zentralverwaltung Wirtschaft, Rechtssystem und Alltag der Bürger rational zu organisieren. Obwohl Frankreich das Staatsmodell vorgibt, ist die Wissenschaft des öffentlichen Rechts in Deutschland besonders entwickelt.[38] In diesem Rahmen setzen Kameralismus (Staatswirtschaftslehre) und später Policeyrechtswissenschaft europäische Maßstäbe.[39] Ein Grund hierfür ist die stärkere Verrechtlichung der Politik im föderal organisierten Heiligen Römischen Reich[40] im Vergleich zum absolutistischen Frankreich.

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Die Französische Revolution wird gemeinhin als große Zäsur begriffen.[41] Für das Sonderrecht des Staatsapparats bedeutet sie aber vor allem eine Radikalisierung vorheriger Entwicklungen. Die Französische Revolution und insbesondere Napoleon nehmen, wie Alexis de Tocqueville zeigt, die kontinentaleuropäische Tradition auf und vollenden sie.[42] Napoleon errichtet mit der Verfassung des Jahres VIII (1799) den Conseil d’État, die paradigmatische verwaltungsrechtliche Institution, als wesentliches Instrument seiner Herrschaft.[43] Der Sonderrechtscharakter wird zumeist an dem konsequenten Ausschluss der Kontrolle administrativer Maßnahmen durch die ordentlichen Gerichte fest gemacht. Dies ist aber nur ein Aspekt: Insgesamt verstärkt sich der durch das Sonderrecht organisierte staatliche Zugriff auf die Bevölkerung massiv.

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Die weitere Entwicklung des französischen Sonderrechts prägt die Ausbildung einer eigenen administrativen „Klasse“ mit staatsleitender Funktion, die ein spezifisches Rationalitäts- und Effizienzmodell verfolgt,[44] ähnlich wie später die politische EU-Bürokratie der Kommission. Diese Klasse, geführt durch die Mitglieder des Conseil d’État, verfügt über beträchtliche Autonomie selbst gegenüber der Regierung. Karl Marx wird sie polemisch in ihrem Eigenstand schildern, kann er sie doch nicht mit seiner Gegenüberstellung von Kapital und Arbeit fassen.[45] Die Räte des Staatsrats prägen das Verwaltungsrecht keineswegs nur durch ihre Entscheidungen; sie sind zugleich die Protagonisten der Verwaltungsrechtswissenschaft.[46]

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Die Dritte Republik beseitigt zwar den Autoritarismus des Zweiten Empire, nicht aber das Verständnis des Verwaltungsrechts als Sonderrecht und die Schlüsselstellung des Conseil d’État. In diesem Sinne versteht sich die Bedeutung des Blanco-Urteils des Tribunal des conflits als Gründungsmythos des zeitgenössischen französischen Verwaltungsrechts. Dieses Tribunal,[47] gegründet auf ein neues, republikanisches Gesetz von 1872, bestätigt das Verwaltungsrecht als Sonderrecht in der Verantwortung des Conseil d’État.[48] Als solches erscheint es als paradigmatisch für die Verwaltung eines starken Nationalstaates, dem sich viele Rechtswissenschaftler, nicht nur in Frankreich, verpflichtet fühlen. Angelpunkt des Sonderrechts ist und bleibt der Begriff der puissance publique. Der Versuch von Léon Duguit, den service public als neuen Begriff an die Stelle des Begriffs der puissance public zu setzen, hat in dessen Radikalität noch nicht einmal unter seinen Anhängern Erfolg.[49] Die Demokratisierung der Verwaltung, ja selbst später ihre Konstitutionalisierung mittels allgemeiner (Verfassungs-)Prinzipien und Grundrechte, heben keineswegs den Herrschafts- und Sonderrechtscharakter auf, sondern binden ihn in spezifische Regime ein. Jean Rivero hält 1953 klassisch fest: „[L]a ‚dérogation au droit commun‘ ne se fait pas à sens unique, mais dans les deux directions, opposées, du plus et du moins“.[50]

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Es gibt nirgends im europäischen Rechtsraum eine Verwaltungsrechtswissenschaft, die ihre Gründungsgeschichte ohne Blick auf dieses französische Verwaltungsrecht erzählt. Sabino Cassese formuliert prägnant: „Paris kommt für das Verwaltungsrecht die Rolle zu, die Rom für das Privatrecht innehat“,[51] was die fundamentale Bedeutung der Verwaltungsrechtsvergleichung belegt.[52] Allerdings führt diese keineswegs zu einer simplen Übernahme des zeitgenössischen französischen Systems, so dass die französische Verwaltungsrechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts kurzum als gemeinsame Grundlage einer europäischen Verwaltungsrechtswissenschaft begriffen werden könnte. Dies zeigen eindrücklich die deutsche und die englische Rezeption, die für den europäischen Rechtsraum besonders bedeutsam sind, weil die deutsche, die englische und die französische verwaltungsrechtliche Tradition über besondere Prägekraft verfügen.[53]

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Sowohl das deutsche wie das englische Interesse gelten dem Sonderrechtscharakter des französischen Verwaltungsrechts. Dabei ist bemerkenswert, dass sich die deutschen und englischen Autoren am Ende des 19. Jahrhunderts weniger auf das ihnen zeitgenössische französische Verwaltungsrecht der Dritten Republik beziehen, sondern auf das des autoritär geprägten Zweiten Empire. Dies erleichtert es Albert Venn Dicey, die illiberalen Züge des droit administratif herauszustreichen und für das freiheitliche England als unpassend zu verwerfen.[54] Mancher britische Vorbehalt gegen das Unionsrecht, das, wie sogleich zu zeigen ist, Elemente eines Sonderrechts aufweist, mag dieser Tradition geschuldet sein. Otto Mayer hingegen kann mittels seiner Bezugnahme auf das französische Verwaltungsrecht des Zweiten Empire dem deutschen Verwaltungsrecht eine prononciert herrschaftliche Komponente geben.[55] Dieser deutsche wissenschaftliche Ansatz, der das Verwaltungsrecht als Sonderrecht auf den Lehren des deutschen Staatsrechts und der deutschen Privatrechtswissenschaft aufbaut, hat in vielen europäischen Rechtsordnungen großen Einfluss.[56]

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