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a) Rückblick

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Einige Darstellungen begreifen bereits das Sonderrecht des 17. und 18. Jahrhunderts als Verwaltungsrecht.[93] Die meisten lassen das Verwaltungsrecht und seine Wissenschaft jedoch erst im 19. Jahrhundert anfangen; der Übergang ins 19. Jahrhundert markiert danach einen Epochenwechsel. Das vorherrschende Selbstverständnis der heutigen Verwaltungsrechtswissenschaft behandelt die Periode vor 1800 als eine überwundene Epoche.[94]

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Dies wird zum einen durch die sich erst im 19. Jahrhundert formende moderne Staatsverwaltung erklärt. Das Verwaltungsrecht erscheint danach in erster Linie als das Recht moderner Bürokratien, mit dem dieser staatliche Apparat politische Entscheidungen umsetzt,[95] als eine „Maschine der Macht“.[96] Verwaltungsrecht, das Recht der Verwaltung, ist so tendenziell als ein genitivus subiectivus zu verstehen: als ein Instrument der Bürokratie, vor allem ihrer politischen Spitze.

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So unzweifelhaft dies ist, so gibt es doch ein gegenläufiges Verständnis. Diese Lesart versteht die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert als Ausgangspunkt einer Bewegung, die das Sonderrecht des 18. Jahrhunderts in eine Struktur der rechtlichen Anerkennung des Untertans überführt,[97] es also weniger aus der Perspektive der Monarchen (ex parte principis), sondern primär aus derjenigen der Bürger (ex parte civium) konstruiert. In diesem Sinne wird der Begriff Verwaltungsrecht, Recht der Verwaltung, als ein genitivus obiectivus gelesen. Dies bildet eine Ausrichtung, die sich als Identitätskern der Disziplin gerade angesichts der strukturellen Legitimationskrise der Europäischen Union anbietet.

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Die Wissenschaft des Sonderrechts im 18. Jahrhunderts ist zwar oft der Aufklärung verpflichtet, allerdings zumeist einer obrigkeitlichen und paternalistischen Aufklärung; sie ist keineswegs liberal.[98] Die neue Bezeichnung des Gegenstands als Verwaltungsrecht im 19. Jahrhundert signalisiert das Bemühen von Wissenschaftlern, ihren Gegenstand in das Ringen um die Durchsetzung des liberalen Rechtsstaates einzubringen.[99] Entsprechende Schriften, die nunmehr ein Verwaltungsrecht statt eines Policeyrechts konzipieren, sind Zeugen und einige sogar Motoren einer progressiven Entwicklung: der Transformation eines Machtverhältnisses, beruhend auf dem Sonderrecht, zu einem Rechtsverhältnis. Das Erscheinen von Büchern mit dem Begriff „Verwaltungsrecht“ im Titel ist ein gemeineuropäisches Phänomen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Jedenfalls in der verwaltungsrechtlichen Literatur mutiert das Gegenüber der Verwaltung vom Untertan zum Rechtssubjekt, was einen kategorialen Schritt impliziert. Man kann die Entstehung der Disziplin Verwaltungsrecht als Projekt deuten, das Sonderrecht in einen Rahmen der Anerkennung zu überführen. Patrice Chrétien lässt aus diesem Grund sogar sein Kapitel über das zeitgenössische französische Verwaltungsrecht erst 1873 beginnen. Im Hintergrund steht die Revolution von 1871, die zur liberalen Verfassung der Dritten Republik führt. Der Conseil d’État, Ratgeber von Napoleon Bonaparte wie von Louis Napoleon, sieht sich in einer erheblichen Legitimitätskrise, der er mit einer deutlich liberaleren Rechtsprechung unter Edouard Laferrière zu begegnen sucht.[100] Die Neuorientierung erfolgt maßgeblich mittels der Entwicklung allgemeiner Prinzipien, ähnlich wie es 100 Jahre später der EuGH tun wird.[101]

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Die berühmteste Lesart des Verwaltungsrechts, die diesem Verständnis entgegensteht, ist diejenige von Albert Venn Dicey,[102] der das Projekt eines Verwaltungsrechts, einem droit administratif, als mit der rule of law und einem freiheitlichen Gemeinwesen unvereinbar ablehnt. Dicey steht diametral zum kontinentalen Deutungsmuster, welches das aufkommende Verwaltungsrecht als Ausdruck des liberalen Rechtsstaates feiert. Als Grund für Diceys Ablehnung eines droit administratif wird allerdings nicht nur traditioneller Freiheitssinn, sondern auch eine konservative Skepsis gegenüber zeitgenössischen Reformen vermutet, die dem Prinzip gleicher Freiheit verpflichtet waren.[103] Diese Lesart findet einen weiteren Höhepunkt 1929 in dem Buch The New Despotism, in dem der höchst konservative Lord Chief Justice Gordon Hewart das aufkommende sozialstaatlich orientierte Verwaltungsrecht als „organised“ oder „administrative lawlessness“ brandmarkt.[104] Diceys konservativ inspirierte Kritik bestätigt also das emanzipatorische Potenzial.

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Gewiss steht die Verwaltungsrechtswissenschaft keineswegs allein auf der Seite bürgerschaftlicher Emanzipation, weder im 19. Jahrhundert noch heute. Das Werk Otto Mayers etwa weist autoritäre Züge auf.[105] Die prinzipielle Ambivalenz hält Patrice Chrétien, Prosper Weil zitierend, treffend fest: Sie ist eine Disziplin, „die gleichzeitig Dienerin individueller Freiheit und Garant effektiver Verwaltung, Beschützerin des Bürgers gegen die Exekutive und Mittel zur Durchsetzung des Regierungswillens sein will“.[106] Das Verwaltungsrecht bleibt, so auch die Kernaussage des vorherigen Abschnitts, in wesentlichen Hinsichten ein Herrschaftsinstrument.

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Insbesondere in Konstellationen, in denen die Hoheitsgewalt nur schwach ausgeprägt ist, wird die herrschaftliche Komponente durch die Wissenschaft profiliert und unterstützt. So begleitet sie in Italien im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert ein Verwaltungsrecht, das den Untertan als Rechtssubjekt zwar anerkennt, das Pendel zwischen dem liberalen und dem autoritativen Moment aber weit auf die autoritative Seite schwingen lässt.[107] Diese Wissenschaft korrespondiert mit einem neu geformten Staat, der sich nur mit Mühe auf dem ganzen Territorium etabliert. Dies schlägt sich in den wissenschaftlichen Aufbereitungen wichtiger verwaltungsrechtlicher Institute durch unitarisch gesinnte Professoren nieder: Fehlen von Verfahrensrechten, allgemeine Zulässigkeit von Rücknahme und Widerruf von Akten, kompromisslose Verwaltungsvollstreckung, eine nur beschränkte Haftung des Staates. Hier zeigen sich Parallelen mit der Entwicklung des Verwaltungsrechts der Europäischen Gemeinschaften. Im Konflikt von Interessen des betroffenen Bürgers mit solchen der europäischen Institutionen hat der EuGH über lange Zeit nicht selten den Letzteren den Vorzug gegeben. Deutlich wird dies etwa in den unterschiedlichen Haftungsregimen für mitgliedstaatliches Unrecht einerseits, gemeinschaftliches Unrecht andererseits.[108]

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Die Verwaltungsrechtswissenschaft operiert als Kollektiv gewiss nicht revolutionär. Der emanzipatorische verwaltungsrechtswissenschaftliche Beitrag im 19. Jahrhundert besteht vor allem in der Entwicklung und Ausbuchstabierung von Rechtsinstituten, in denen die politischen und staatsrechtlichen Kompromisse zwischen freiheitlichen und obrigkeitlichen Kräften operativ werden können.[109] Diese Gründungskonstellation findet sich nicht allein im 19. Jahrhundert. So entwickelt sich in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts im frankistischen Spanien eine glänzende Verwaltungsrechtswissenschaft, welche die wenigen Freiheitsräume, die das Franco-Regime einzuräumen bereit ist, dogmatisch durchformt und in einem progressiven Sinne stabilisiert.[110] Ähnlich blüht in der Volksrepublik Polen in Epochen zaghafter Liberalisierungen die dogmatische Verwaltungsrechtswissenschaft auf.[111]

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Als Verwaltungsrecht prägt sich zumeist derjenige Teil des öffentlichen Rechts aus, zu dem sich ein normativer Diskurs etablieren kann, der sich vom politischen Diskurs unterscheidet, wo also die Rechtsnorm einen, auch institutionell gesicherten, Selbststand gegenüber Trägern öffentlicher Macht aufweist. Nur dann entsteht ein allgemeiner Bedarf nach argumentativen Kenntnissen, welche in der spezifischen Kompetenz von Juristen liegen. Regelmäßig grundlegend für eine solche Normativität ist eine Gerichtsbarkeit, die hoheitliches Handeln auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen kann.[112] Entsprechend bildet sich die Verwaltungsrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert als jener Teil der Wissenschaft des öffentlichen Rechts aus, der auf eine solche Gerichtsbarkeit bezogen ist, auf ihre Organisation, ihr Verfahren und das von ihr anzuwendende Recht. Eingebunden wird zunächst der nachgeordnete Verwaltungsapparat. Die Regierung wird durch dieses Verwaltungsrecht in ihren strategischen Handlungen kaum behindert. Ihr kann somit die gerichtliche Kontrolle als ein Instrument dezentraler Kontrolle des Verwaltungsapparats dienen, eine Konstellation, die sich im europäischen Rechtsraum mit Blick auf den Vollzug durch mitgliedstaatliche Behörden wiederholt.[113] Die Anerkennung des Bürgers, so wie sie sich letztlich verwirklicht, erfolgt nicht uneigennützig. In den Mitgliedstaaten werden es erst die liberaldemokratischen Verfassungen sein, welche den Umbau des Verwaltungsrechts ex parte civium wirklich voranbringen.[114]

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