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Der Vertrag

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„Ich wusste, Du würdest es schaffen, meine Süße“, freute sich Patrick und streichelte ihr zärtlich über die Wange. Anna strahlte ihn an, sie war einfach nur glücklich, es fühlte sich alles so rund an, es war genau das, was sie schon immer machen wollte. Jetzt hatte sie den Vertrag in der Tasche. „Du bist perfekt für den Job, Du hast das richtige Auftreten, kannst super mit Leuten umgehen, um sie zu öffnen und für Dich zu gewinnen. Anna, Du bist einfach ideal für „Sales“, das habe ich Dir schon immer gesagt!“

Luigi goss den guten Brunello ein und strahlte ebenso. Er mochte die beiden, die schon seit einigen Jahren häufig bei ihm auftauchten und sich immer an den kleinen Tisch mit den ledernen Sesseln hinten im Restaurant „Lukullus“ in Kronberg setzen. „Ein schönes Paar“, dachte er, „und gute Kunden“. Die verstanden auch was von Wein, bestellten immer den besten, den er gerade offen hatte oder auch mal eine der guten Flaschen. Dabei ließen sie sich auch gerne etwas Neues von ihm empfehlen und zuckten auch nicht zusammen, wenn die Rechnung dafür kam, schließlich waren 14 Euro für ein Glas Wein kein Pappenstiel. „Allora, ihr happen wir den Brunello di Montalcino 2004 von Tento il Poggione, wirklisch sehrr gut, probieren Sie, Senora, wird Ihnen schmecken.“ Anna nahm einen Schluck, ließ den Wein langsam über ihre Zunge gleiten und genoss die feinen Aromen. Samtig, wenig Tannine, etwas Kirsche und Vanille, einfach perfekt. „Toller Wein, Luigi, genau das Richtige für heute Abend!“ Zwei Gläser später, nach dem Thunfischtartar auf dem Fenchelbett, einer gegrillten Dorade mit Ratatouille und der für sie beide speziell angefertigten Zabaione mit einer Kugel Vanilleeis, einem Grappa und einem Espresso dachte Anna, wie schön ihr Leben sei: Besser geht es nicht!

„Noch einen Absacker im Schlosshotel?“ fragte sie Patrick, wohlwissend, dass er nicht ablehnen würde, und dass sie sicher für diesen Abend wieder büßen mussten. Wie immer, wenn sie über die Stränge schlugen und unvernünftig waren. Schlechter Schlaf war dann vorprogrammiert, man war eben keine 20 mehr und auch keine 30. Es war so angenehm, eine Bar wie „Jimmys“ ganz in ihrer Nähe zu haben.

Das „Jimmys“ im Schlosshotel Kronberg war die beste Bar weit und breit im Taunus und hatte jeden Tag bis mindestens 4.00 Uhr geöffnet. Wenn man nicht mehr fahren konnte, und das kam schon mal vor - denn Luca, der Barkeeper und das Herz dieser Bar, mixte hervorragende Drinks - dann konnten Anna und Patrick zu Fuß gehen oder, wenn auch das nicht mehr möglich war, konnte man mit dem Taxi die 800 Meter nach Hause rollen.

Anna liebte diese Bar, die, mit ihrem angestaubten altenglischen Interieur und echten Goyas an den Wänden, eine zeitlos gemütliche Atmosphäre verbreitete und die verschiedensten Leute aus der Gegend anzog. Da sie und ihr Freund sehr kommunikativ waren, lernten beide auch immer interessante Leute kennen.

„Hallo Luca, drei Gläser Champagner bitte, Du musst mit uns trinken, es gib was zu feiern“, lachte Anna ihn an. „Schön, dass ihr wieder da seid, ihr süßen Turteltäubchen, zeig mal Deine Hände, Anna.“ „Autsch“, dachte Anna, „nein, verlobt sind wir noch nicht“, aber das konnte heute ihre gute Laune nicht wirklich trüben. „Nee, wir feiern heute meinen neuen Job, ich werde bei Drängl & Melkers als Immobilienmaklerin anfangen. Suchst Du ein Haus, mein Schatzi?“, fragte sie scherzhaft. „Super, meine Hübsche, das passt zu Dir, freue mich für Dich, fängst Du hier im Taunus an?“ „Nee, hier haben sie leider niemanden gesucht, ich bin in Frankfurt in der Innenstadt, in der Nähe der Börse.“

“Excuse me guys, do you mind if I introduce myself“. Ein ungefähr 50 Jahre alter Mann, der neben ihnen am Tresen stand, sprach die beiden an. „Wow“, dachte Anna, „der sieht aber echt unverschämt gut aus, im schwarzen Zegna-Anzug, wie George Clooney, grau-meliert, durchtrainiert, markantes, schmalgeschnittenes Gesicht.“ Er hatte ganz feine gepflegte Hände, die sogar manikürt waren, wie Anna fachkundig feststellte. Hände waren ihr extrem wichtig, und sie bildete sich ein, über die Hände auch Rückschlüsse auf die Persönlichkeit ziehen zu können. Anna zog unauffällig ihre eigenen Hände vom Tresen zurück, da sie schon länger nicht mehr in einem Nagelstudio gewesen war und sich in Anbetracht dieser makellosen Hände und des makellosen Kerls etwas unsicher fühlte. “My name is Johnny and I would like to invite you for a drink. I just got a new job and I’d like to celebrate with you guys.“ “Congratulations to you“, antwortete Patrick und Anna lächelte ihn verzückt an und sagte: “But we can only accept if you will have another one on me. I’ve got a new job, too!“

Johnny Truman war amerikanischer Investmentbroker und hatte gerade seinen Vertrag bei der Deutschen Bank in Frankfurt unterschieben. Von Merrill Lynch in New York hatte er zudem eine satte Abfindung bekommen, sodass er allen Grund zum Feiern hatte. Er und sein junger Liebhaber David, der ein bekannter Musical-Star am Broadway war, suchten nun ein schnuckeliges kleines Penthouse in Frankfurt: “Nothing spectacular, I just want to spend about two million Euro. Anna Baby, do you think you will find me a decent space to live?“ Da war Anna sich ganz sicher, dass sie für ihn was Tolles finden würde. Was für ein Tag, erst der Vertrag und dann noch gleich einen tollen Kunden, der ein Pfundskerl war, was sollte jetzt noch kommen?

Der Abend wurde extrem lustig. Nach dem Whisky Sour folgte ein Mai Tai und schließlich kam noch ein Prince von Wales, der Anna aber nicht sonderlich schmeckte, was aber nichts machte, da sie sowieso schon zu viel getrunken hatte. Sie sang stattdessen ihren Lieblingssong “I am what I am“ in Begleitung des ukrainischen Pianisten Karl, der einiges gewöhnt war aus Jimmys Bar und ihr freundlich zunickte, obwohl sie ziemlich danebenlag. Es schien aber keinen zu stören, vielleicht waren die anderen Gäste auch unmusikalisch, betrunken oder einfach nur in ihre Gespräche vertieft, jedenfalls wurde sie nicht zum Aufhören genötigt oder wie in diesen amerikanischen Spielfilmen geschultert und rausgetragen. Sie hörte aber ganz von alleine auf, als sie nämlich nach dem Glas griff, das sie auf dem Flügel abgestellt hatte und dabei ins Leere fasste, das Gleichgewicht verlor und quer auf dem Schoss des verdutzten Pianisten Karls landete.

„Schatzi, hatten wir gestern noch Sex?“, wollte Anna am nächsten Morgen wissen, als sie mit einem ordentlichen Brummschädel und einem sehr flauen Gefühl im Bauch aufwachte. „Sag bloß, Du weißt das nicht mehr? Du warst so wild und leidenschaftlich, hast mich total angemacht.“ „Ehem, ja sorry, jetzt erinnere ich mich wieder“, log Anna, die sich noch nicht mal daran erinnern konnte, wie sie vom Schlosshotel nach Hause gekommen waren. Patrick grinste breit. „Du Schuft, hast mich reingelegt, na warte!“, rief Anna und warf sich auf ihn und kitzelte ihn, bis er aus dem Bett sprang und ins Bad flüchtete.

Am Frühstückstisch fragte Patrick: „Wo ist denn eigentlich der Vertrag, zeig ihn mir doch mal bitte, meine süße kleine Immobilienmaus, ich bin ja so stolz auf Dich!“ Anna holte den Vertrag und legte ihn auf den Tisch.

„Und Du bist sicher, dass Du kein Grundgehalt bekommst? Und kein Handy und keinen Zuschuss zum Sprit? Also gar nichts im Prinzip - tolles Geschäftsmodell, sollte ich mal in meiner Firma einführen!“ „So kann man das ja nicht sehen“, entgegnete Anna, „schließlich habe ich dort einen Arbeitsplatz, bekomme die ganze Infrastruktur geliefert, brauche mich um Werbung und Marketing nicht zu kümmern, sondern kann mich voll auf das Verkaufen von Immobilien konzentrieren. Das ist super für mich. Klar, am Anfang wird es hart sein und es kann einige Monate dauern, bis ich Geld verdienen werde.“ Dass sie ihre „Rücklagen“ inzwischen fast aufgebraucht hatte, verschwieg sie ihm zu diesem Zeitpunkt. Die einwöchige Schulung, die Anna als Voraussetzung für den Vertrag in Berlin in Drängl & Melkers Schulungszentrum absolvieren musste, hatte sie weit über 2000 Euro gekostet. Flug und Hotel dorthin musste sie ebenfalls selbst zahlen. Es hatte sich aber gelohnt. Sie lernte dort alles über das ausgefeilte Marketingsystem der Firma. Rechtliche Themen wurden behandelt, welche Dokumente für den Verkauf notwendig sind, wie ein Grundbuch aufgebaut ist, was eine Baulast ist, wo man eine Flurkarte bestellen kann und wie man eine Besichtigung vorbereitet, durchführt und welche Verkaufsargumente gebracht werden sollten. Die Prüfung entsprach von den Anforderungen und dem Umfang her jener der IHK und ging über mehrere Stunden. Anna schnitt dort als Kursbeste mit einer Auszeichnung ab.

Als Patrick in seine Firma fuhr, legte Anna sich auf ihre neue schwarze Rolf Benz-Couch und genoss ihren letzten freien Tag mit einem großen Latte Macchiato und einer Trüffelpraline mit weißer Schokolade. Dazu legte sie ihre Lieblings-CD von Nora Jones auf, die konnte sie ohnehin nur hören, wenn Patrick aus dem Haus war, da sie ihn mit dieser CD schon überstrapaziert hatte. Anna gehörte zu der Sorte Menschen, die eine CD so lange hörten, bis sie sie wirklich nicht mehr ertragen konnten, und das konnte schon einige Monate dauern. Eine geliebte CD hatte schon etwas Rituelles für sie, kaum aufgelegt, entspannte sie sich.

Sie war sehr froh und erleichtert, dass sie den Entschluss gefasst hatte, in ihrer alten Firma, einer Personalberatungsagentur, zu kündigen. Sie erinnerte sich noch an ihr Einstellungsgespräch vor zweieinhalb Jahren, als ihr eine der beiden Partnerinnen der kleinen Firma, Frau Krätzel-Wolf, gegenübersaß. In dem einstündigen Interview mit Anna erwähnte sie mindestens dreimal, dass sie hier hochprofessionell arbeiteten und dass hohe Anforderungen an die Angestellten gestellt würden. In dem Glauben, als Junior-Beraterin eingestellt zu werden, entpuppte sich ihre Tätigkeit immer mehr als reine Assistentenstelle, böse gesagt, sie wurde als Büro-Tippse missbraucht. Dabei fing alles so gut an. Der Seniorpartner nahm sie gleich zum Kunden mit und sie brillierte dort. Vielleicht zu sehr, denn das war das einzige Mal, dass sie raus durfte aus dem kleinen eiskalten Büro im Nordend. Sommers wie winters lief dort eine Klimaanlage, um die Luftzufuhr zu sichern, da der Raum aus einem ehemaligen Archiv einer Anwaltskanzlei notdürftig als Büro hergerichtet wurde. Es gab nur ein winziges Fenster in dem langen schlauchartigen Büroraum. Die Klimaanlage kühlte einst die Lagerräume eines Fleischers, der im guten verschwägerten Kontakt zu dem Chef der Agentur stand, da er die ältere Schwester seiner Frau geheiratet hatte. Man munkelt, dass die Hochzeit vom Vater der Braut selbst arrangiert wurde, da die Tochter eine Hautkrankheit hatte, die eine extreme Pigmentstörung zur Folge hatte und ihr Gesicht fleckig erschienen ließ wie das Fell eines Dalmatiners. Als sie 32 Jahre alt wurde und immer noch Jungfrau war, brachte der Vater sie kurzerhand unter die Haube. Der Metzgersohn hingegen, mit dem sie verkuppelt wurde, war kurzsichtig und farbenblind, sodass er, wenn er die Brille abnahm und seine Braut vor dem Schlafengehen küsste, zwar nicht immer ihren Mund traf, sich aber dafür einbildete, mit Angelina Jolie das Bett zu teilen. Sicherlich war das Versprechen des Vaters, ihm bei seinem Geschäftsaufbau mit 47.000 Euro zu unterstützen, auch hilfreich gewesen für das Anbahnen der Hochzeit. Die Klimaanlage für das Kühlhaus jedoch war von einer amerikanischen Firma geliefert worden, die sich aber scheinbar verrechnet hatte, denn diese Klimaanlage hätte auch komplett die Jahrhunderthalle in Höchst zur Eissporthalle herunterkühlen können. Sie war für den 15 Quadratmeter großen Kühlraum vollkommen überdimensioniert, sodass diese extreme Kühlung der Ware schadete. Die Klimaanlage musste ausgewechselt werden und so wanderte das gute Stück in das kleine Büro im Nordend. Der extrem hohen Krankheitsrate der Mitarbeiter zum Trotz, die sich ganzjährig dieser eisigen Kälte aussetzen mussten, freute sich der kostenbewusste Chef über die brillante Lösung, diesen Abstellraum mit Hilfe der geschenkten Klimaanlage für seine Angestellten nutzen zu können. Nur die Büros der Partner waren hell und freundlich mit großen, luftigen Fenstern. Die drei Angestellten aber hausten in der eisigen, dunklen Gruft. Annas Talent wurde nicht erkannt, bzw. unterdrückt. Als sie mit einem unsicheren Kandidaten über eine Stunde telefonierte, weil ihre Chefin sich gerade mit einer Gurkenmaske zurückgezogen hatte und Anna Anweisungen gegeben hatte, unter keinen Umständen gestört zu werden, konnte sie ihm, Peter Kraus, einem vielversprechenden jungen Chemiker, die nötige Sicherheit geben, den Vertrag bei einem Schweizer Pharmaunternehmen zu unterschreiben.

„Das ist ja total unprofessionell, was fällt Ihnen ein, mit meinen Kandidaten zu sprechen? Und dann auch noch so schwachsinnige Dinge zu sagen, Sie sind wirklich noch blöder als ich dachte!“ Weiß vor Wut stand die Chefin wie die böse Hexe Cruella oder ein sabbernder Bullterrier vor Anna und spuckte ihr den ganzen Hass ins Gesicht. Sie zerquetsche dabei die Gurkenscheiben, die sie wieder vom Gesicht abgenommen hatte, mit ihrer Hand, sodass die blassgrünliche Flüssigkeit auf den beigefarbenen Teppichboden lief und dunkle Flecken hinterließ. „Ja“, sagte Anna ganz ruhig, „ich war wirklich blöd, viel zu lange habe ich mir Ihre Gemeinheiten gefallen lassen, suchen Sie sich eine andere, die Sie schikanieren können, ich mache das jedenfalls nicht länger mit!“

„Na endlich“, kommentierte Patrick abends zu Hause die Kündigung seiner Freundin, „darauf hab’ ich schon lange gewartet, die Dame war echt nicht integer. Das Leben ist viel zu kurz, um sich mit schwachen Leuten zu umgeben. Aber sag doch mal Süße, wie hast Du ihn eigentlich dazu gebracht, seinen Vertrag zu unterschreiben?“

„Er war unsicher, ob der Job das Richtige für ihn wäre, da er von uns angesprochen wurde und selbst noch gar nicht nach alternativen Angeboten geschaut hatte. Er dachte, es gäbe vielleicht noch bessere Angebote da draußen, die auf ihn warten würden... Ich sagte ihm, es ist wie in einer Beziehung, es kommt nicht darauf an, draußen herumzurennen, um den besten Partner für sich zu finden, sondern wenn man sich wohl fühlt in einer Beziehung, dann ist man angekommen. Es gibt bestimmt immer noch mehr Menschen, die vielleicht viel besser passen würden, darauf kommt es aber nicht an, sondern nur, ob man glücklich ist.“

Ihr Leben an Patricks Seite fühlte sich für Anna richtig an. Mit ihm hatte sie das Gefühl, endlich angekommen zu sein und ein Zuhause zu haben. Außerdem konnte Patrick stundenlang tief entspannt auf der gemütlichen Rolf Benz-Couch im Wohnzimmer zubringen, in der einen Hand sein neustes iPhone 6, seine Informationsquelle, um brandheiße Themen zu recherchieren, die für seine IT-Firma relevant sein könnten, im anderen Arm seine anschmiegsame Anna, die er zärtlich kraulte wie ein Kätzchen.

Es fühlte sich alles so gut an für Anna. Seit der Schulung war sie sich ganz sicher, dass es ihr Traumberuf war, Immobilienmaklerin zu sein. Es ist ein vielseitiger Beruf. Neben Fachkenntnissen aus dem Immobilienbereich benötigt man auch psychologisches Einfühlungsvermögen bei den Kunden, Verkaufsgeschick, ein gutes Auge, um ansprechende Fotos zu schießen, sowie sprachliche Ausdrucksstärke für die Exposés. Ja, und natürlich ein Talent dafür, neue „Objekte“, Häuser und Wohnungen zu finden, die verkauft werden sollten. Vor allem gefiel Anna die Vorstellung, neue Häuser zu entdecken und dann für jedes Haus die Besonderheit, das einzigartig Schöne herauszuarbeiten und die Kunden dafür zu begeistern.

Anna hatte ihr „Rundumsorglos-Leben“ bereits vor zwei Jahren aufgegeben, als sie sich nach fast 20 Jahren Ehe von ihrem Mann Norbert scheiden ließ. Norbert beeindruckte die damals erst 20-jährige Anna durch seinen starken Willen, ein Wangengrübchen und seine Naturverbundenheit.

Sie lernten sich in München beim Studium kennen. Anna studierte Theaterwissenschaften und er BWL. Norbert nahm sie mit in die Berge, brachte ihr bei, wie man klettert, mit Pickel und Steigeisen umgeht und wie man auf eiskalten Hütten ohne Wasser und Klo übernachten konnte. Nachdem die erste Phase der Verliebtheit vorbei war, musste Anna erkennen, dass Norbert immer öfter ohne sie auf Bergtouren gehen wollte, da Anna ihm zu langsam war, und sie außerdem auch auf einer guten und regelmäßigen Brotzeit bestand, was ihn zusätzliche Zeit und Höhenmeter kostete. Oft saß sie dann stundenlang alleine auf den Hütten unterhalb des Gipfels, aß Leberknödel-Suppe, Kaiserschmarren und später am Nachmittag Apfelstrudel und Käsebrote, bis Norbert nach vier bis sechs Stunden, zwei Gipfelbesteigungen und 1500 gestiegenen Höhenmetern wieder herabkam.

Entgegen ihrem Bauchgefühl heiratete sie ihn trotzdem und zog mit ihm nach Stuttgart, wo er sich bei Mercedes vom hoffnungsvollen Trainee bis zum „Marketing Leiter Europe“ hocharbeitete. Er verbrachte viel Zeit im Ausland auf irgendwelchen „Global Meetings“, zu denen Anna nie mit durfte. Meistens verband Norbert seinen Businesstrip auch noch mit einer Bergbesteigung oder zumindest mit einem Marathon und ließ Anna alleine zuhause in der Dreizimmerwohnung und mit den 597.939 Stuttgarter Schwaben. Anna hasste den schwäbischen Dialekt und war nur mäßig begeistert von der üppigen kalorienreichen Küche, die im krassen Gegensatz stand zu der ansonsten sparsamen und geizigen Art der Schwaben. Außer seinen Schweiß durchtränkten Finisher-Shirts aus New York, Tokio, Dubai, San Francisco, vom Kilimandscharo, Athen und Paris brachte er Anna ein Parfum aus dem Duty free-Shop mit und achtete stets darauf, nur Angebote zu kaufen. Norberts Familie stammte ebenfalls aus Schwaben.

Als Anna vor zehn Jahren das Haus ihrer Großeltern in Kronberg erbte, konnte sie Norbert überzeugen, sich nach Frankfurt versetzen zu lassen. Norbert nahm einen Kredit auf, und die beiden sanierten den in die Jahre gekommenen Altbau, sodass sie in das kleine Haus in der Gartenstraße einziehen konnten. Die Wochenenden verbrachte das Paar meist mit Mountainbikefahren im Taunus. Über den Herzberg und die Saalburg ging es zum Sandplacken, anschließend zum Feldberg, dann weiter nach Oberems, hoch nach Schmitten, von dort wieder zurück Richtung Fuchstanz, vorbei an den Restaurants und gemütlich sitzenden Radfahrern und dann eben mal schnell noch auf den Altkönig, um dann wieder bergabwärts nach Kronberg zu sausen. War es zu kalt oder regnete es, beschloss Norbert, mit ihr stundenlange Jogging-Touren zu unternehmen, sodass Anna sich fragte, ob die Couch im Wohnzimmer nur für ihre Gäste da war. Der Vorteil dieser Wochenend-(tor)-Touren war, dass sie einen perfekten Body-Mass-Index von gerade mal 18 vorweisen konnte und beim jährlichen Ärztecheck vom untersuchenden Hausarzt anerkennend bestätigt bekam, sie hätte die Fitness eines Silbermedaillen-Gewinners im Fechten. Woher diese Tabellen mit den Vergleichen kamen, wusste der Arzt nicht und Anna vermied es, Norbert dies zu erzählen, da sie fürchtete, er würde sie antreiben, beim nächsten Check-up den Fitnessstand des Goldmedaillen-Gewinners zu erreichen. Die Ehe der beiden blieb zum großen Bedauern von Anna kinderlos. Sie schaffte es nicht, den Zeitpunkt ihres Eisprungs passend zu den kurzen Stopps ihres Mannes zu Hause zu verlegen.

Dieses „Rundumsorglos-Leben“ an der Seite eines gutverdienenden Mannes, der nie da ist, teilte Anna mit vielen weiteren „Leidensgenossinnen“ der Kronberger besseren Gesellschaft, die mit ihren großen SUVs zwischen Champagner-Frühstück, Fitnessstudio und den drei noblen Bekleidungsboutiquen am Ort herumfuhren, um sich zu zerstreuen. „Es gibt hier auch Frauen mit Tiefgang, die andere Probleme haben als einen abgebrochenen Fingernagel“, entgegnete dann Annas Freundin Karin entschieden, wenn Anna die Kronberger Damen zu kritisch und einseitig darstellte. Karin war ihre beste Freundin in Kronberg und obwohl die beiden in vielen Aspekten sehr unterschiedlich waren und auch unterschiedlich über das Leben dachten, war es vor allem die Herzlichkeit, die Offenheit und der Humor, der die beiden verband. Karin war schließlich Scheidungsanwältin und ihre Kanzlei boomte. Sie wusste, dass es hier auch ernsthafte Probleme gab. Vor allem nach einer Scheidung. Aber auch vorher. Kronberg lohnte sich.

Auch der Bürgermeister von Kronberg war stets bemüht, ein ausgewogenes Image von Kronberg zu entwerfen. Kronberg sollte für jedermann erschwinglich sein. Junge Familien sollten ein neues Zuhause in Kronberg finden können. „Die Anzahl der Bürger im Alter von 20-40 Jahren ist in Kronberg weit unter dem Landesdurchschnitt“, gab der Bürgermeister bei jeder Magistratssitzung zu verstehen und versuchte sich Gehör zu verschaffen. Nur der erste Stadtrat nickte zustimmend. Als Einziger half er alleine schon dadurch, dass er mit seinem „jugendlichen“ Alter den Schnitt des Magistrats senkte. „Die Überalterung unserer Stadt muss aufgehalten werden“, so der Tenor des wild entschlossenen Bürgermeisters und wie einst der mutige „Ritter von Kronberg“ war er bereit, für seine Sache in die Schlacht zu ziehen und furchtlos zu kämpfen. Deshalb versuchte er bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, aber außer ihm wollte das sonst keiner in Kronberg. Die alteingesessenen Kronberger, die entweder im Rentenalter in den noblen „Rosenhof“ einzogen oder im „Altkönig-Stift“ ihren Lebensabend verbringen wollten, versuchten so viel wie möglich aus ihren alten Häusern rauszuholen. Ihnen war der „Hype“ auf das „weiße Gold“ nach der Finanzkrise von 2009 ein willkommener Anlass, Höchstpreise aufzurufen. Der knappe, begehrte Wohnraum sollte auch weiterhin knapp und begehrt bleiben. Und jeder Versuch der Stadt, Neubauwohngebiete auszuweisen, gipfelte in einer Bürgerinitiative gegen das geplante Bauvorhaben. Kronberg rangierte auf Platz 1 bei der Jagd auf die besten Häuser im Taunus. Die Schönen und Reichen oder auch die Reichen, die nicht so schön waren, standen Schlange, sobald ein neues Haus auf den Markt kam. Es war „hipp“, im Taunus zu residieren und in Frankfurt zu arbeiten und wer es sich leisten konnte, zog hierher. Der offizielle Bodenrichtwert von 750 Euro pro Quadratmeter Grund in den Toplagen wurde fast ausnahmslos überschritten. Quadratmeterpreise bis zu 1500 Euro bezahlte man zähneknirschend, nur um einen Platz im am Fuße des Altkönigs gelegenen Örtchens Kronberg zu ergattern. In der Regel standen diese Neuzugezogenen meist mitten im Leben und waren 40+. Das Geld für das Grundstück mit dem alten Haus aus den Siebzigern, welches dann meistens einer Abrissbirne zum Opfer fiel, musste schließlich erst verdient werden. Es sei denn, man hatte geerbt. Diese „Erb-Reichen“ gab es in Kronberg auch, mal mit und mal ohne Adelstitel. Das Alter dieser Kronberger Bürgerspezies rangierte von 50+ - 90+.

Dass an über 70 Einrichtungen, Tankstellen, Sportvereinen und Schulen „Zahnrettungsboxen“ eingeführt wurden, ist dem unermüdlichen Optimismus des Bürgermeisters zu verdanken, der alles versuchte, um den Altersdurchschnitt der Bürger seiner Stadt zu senken und dabei auch mal zu etwas unkonventionellen und kreativen Maßnahmen griff. Zur Erklärung: „Zahnrettungsboxen können ausgeschlagene Zähne erhalten. Sie verhindern das Absterben des Gewebes, die empfindliche Wurzelhaut bleibt erhalten. Bei einer falschen Lagerung sterben diese wichtigen Zellen innerhalb kürzester Zeit ab .“

So kann es natürlich sehr attraktiv sein, in einer Stadt zu wohnen, die ein großflächiges Netz an Zahnrettungsboxen etabliert hatte. Vor allem, wenn diese Stadt statistisch gesehen in einem Bundesland liegt, das klarer Tabellensieger war, wenn es um Avulsionen (ausgeschlagene Zähne) ging, die beim statistischen Bundesamt registriert worden waren. Hessen führte mit 71 Avulsionen die Tabelle an, gefolgt von Sachsen mit 35 und an dritter Stelle NRW mit 17. Schlusslicht und Tabellenletzter waren die Bayern, die hatten zum Bedauern des Statistikers im Bundesamt nur eine glatte 0 vorzuweisen.

Einzige Voraussetzung für eine Zahnrettung war, dass man noch echte Zähne hatte, und dass die auch ausgeschlagen wurden, sonst brauchte man diese Boxen ja nicht. Der örtliche Hockeyverein und der Golfclub Kronberg eigneten sich bestens, um in die Nähe von ausgeschlagenen Zähnen zu kommen, zumindest der Wahrscheinlichkeit nach.. Die Chancen, aufgrund einer Schlägerei oder eines Überfalls in Kronberg Zähne zu verlieren, waren nicht sehr hoch. Die Kriminalitätsrate in Kronberg war verhältnismäßig niedrig im Vergleich zu anderen Gemeinden. Abgesehen von Delikten wie Steuerhinterziehung, die in der Regel nicht zum Zahnverlust führten, war es in Kronberg sehr ruhig.

Ob sich die städtische Investition einer Zahnrettungsbox im Kronberger Golfclub lohnte, war fraglich. Der Altersdurchschnitt der Mitglieder lag hier bei 78,6 Jahren. Natürlich war es auch fast unmöglich für ein „Nichtmitglied des Golfclubs“, wie es der Bürgermeister war, festzustellen, welche Substanz die Zähne der Kronberger Golfer hatten. Anna selbst hatte nur einmal das „Vergnügen“ gehabt, die verbissene Ernsthaftigkeit zu erleben, mit der die Kronberger Golfdamen die Eisen schwangen. Karin hatte sie zu einem „Freundschaftsturnier“ eingeladen, da sie wusste, dass die Freundin Platzreife hatte und als VCG-Mitglied schon einige Turniere gespielt hatte. Annas Flight bestand aus drei älteren eisernen Ladies, die es schafften, 18 Loch zu spielen, ohne zu lächeln oder ein paar nette Worte mit Anna zu wechseln. Daher konnte auch Anna selbst nicht wissen, wie die Zähne ihrer Golfpartnerinnen aussahen und ob sie noch echt waren. Viele ihrer eigenen Zähne waren bereits abgestorben, was aber nicht daran lag, dass ihr die Golfladies vielleicht aus Versehen das 6er Eisen ins Gesicht geschlagen hätten. Anna hatte peinlich darauf geachtet, beim Turnier nicht im Weg zu stehen oder zu stören. Mit den ehrgeizigen, verbissenen Golden Ladies des Golfclubs Kronberg war nicht zu spaßen. Es war erblich bedingt. Sie hatte trotz intensiver Zahnpflege keine stabilen Zähne und schon viele schmerzhafte Wurzelbehandlungen hinter sich bringen müssen. „Humbug“, das jedenfalls war die Meinung des örtlichen Zahnarztes zum Thema „Zahnrettungsbox“ für Kronberg: “Entweder man ist doch nicht in der Nähe einer Box oder die Boxen sind abgelaufen. Der einfache Transport des Zahnes in der mundeigenen Backentasche tut es auch.“ Er konnte den ganzen Medien-Hype im „Kronberger Boten“ um das Zahnrettungsbox-Thema nicht nachvollziehen. Schließlich war auch der Großteil seiner Patienten 50+, und er hatte sich in Kronberg bereits einen Namen gemacht mit seinen bombenfesten Implantaten.

Das Golfturnier mit den nicht-zähnefletschenden Ladies war jedenfalls einfach nur gruselig gewesen und Anna floh noch während der Siegerehrung, da sie die steife, formelle und feindselige Atmosphäre nicht ertragen konnte. Weitere Zusammenkünfte mit diesem Golfclub lehnte Anna ab, obwohl Karin sie noch öfters ermuntert hatte mitzuspielen.

Charité war auch ein beliebter Freizeitsport bei den Kronberger-Ladies. Anna schloss sich dem American Women's Club in Frankfurt an, um ihr angestaubtes Englisch aufzupolieren und konnte dabei gleichzeitig etwas Gutes tun. Einen Malkurs an der Kronberger Akademie belegte sie ebenfalls. Sie liebte es zu malen, saß stundenlang in sich versunken vor ihrer Staffelei und vergaß die Zeit. Doch der rationale Norbert überredete sie dazu, doch besser etwas „Ernsthaftes“ zu suchen. Natürlich in Teilzeit, damit die Finisher-Shirts weiterhin gewaschen werden konnten, und der Kühlschrank und die Regale mit Fitnessriegeln, Eiweißpulver und probiotischen Joghurts gefüllt waren, wenn er dann mal zu Hause war.

Der „ernsthafte Job“ in einer kleinen Personalberatung konnte zum Leidwesen von Norbert nur als Fulltime-Job bewältigt werden, sodass sie sich den Unwillen ihres Mannes zuzog, der es vermied, häusliche Tätigkeiten zu übernehmen und Anna zu entlasten.

Als sie eines Tages den gutaussehenden Patrick Schütz zum Interview für eine Geschäftsführerposition in die Personalagentur einlud, lehnte dieser zwar die Stelle ab, lud aber Anna als „Entschädigung“ dafür ins Restaurant „Opera“ ein.

Zwei Wochen später beschloss Anna, sich von Norbert zu trennen.

Im Haifischteich

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