Читать книгу Von Eltern mit Migrationshintergrund lernen (E-Book) - Angelika Schöllhorn - Страница 4
Einleitung Eltern mit Migrationshintergrund in pädagogischen Institutionen der Schweiz
ОглавлениеMit etwa 25 Prozent Ausländern und 37 Prozent Bevölkerung mit Migrationshintergrund (BFS, 2021a) stellt die Gruppe der Zugewanderten in der Schweizer Gesamtbevölkerung einen beachtenswerten Anteil dar. In Zeiten anhaltender Migrationsbewegungen ist davon auszugehen, dass sich dies auf absehbare Zeit nicht verändert. Für die Gemeinwesen im Wandel stellt sich damit eine zentrale Aufgabe: das Zusammenleben aller gelingend und die Entwicklungsmöglichkeiten chancengerecht zu gestalten. Die Herausforderung besteht darin, sowohl die schweizstämmige Bevölkerung als auch die in erster, zweiter oder auch dritter Generation hier Lebenden in ihrer Diversität und mit ihren unterschiedlichen Kulturen in den Blick zu nehmen.
Innerhalb des Bevölkerungsanteils mit Migrationshintergrund gibt es viele Eltern mit Kindern. Sie sind damit auch eine grosse und bedeutsame Zielgruppe in pädagogischen Institutionen wie Spielgruppe, Kita, Familienzentren und Schule. Für die Kinder stellen sich die oben genannten Aufgaben insbesondere in Bezug auf ihre soziale Integration und Bildungsentwicklung. Damit das Zusammenleben gelingt und Entwicklungsmöglichkeiten genutzt werden, braucht es für sie bedürfnisgerechte Wege und Angebote. In der Realität zeigt sich jedoch, dass Kinder und Jugendliche aus Familien mit Migrationshintergrund in Bezug auf ihre soziale Integration und Bildungsentwicklung in der Schweiz nach wie vor benachteiligt sind (z. B. EKFF, 2008; SKBF, 2014; OECD, 2018). Die Ursachen werden kontrovers diskutiert. Neben der Verantwortung der Bildungsinstitutionen und allgemein benachteiligenden gesellschaftlichen Strukturen stehen vor allem die Unterstützungsmöglichkeiten der Eltern im Fokus (Ramsauer, 2011). Allerdings wurden bisher die Sichtweisen der Eltern selbst zu wenig erforscht und kaum beschrieben. Diese Lücke versucht das vorliegende Buch zu schliessen. Es stellt die Sichtweisen der Eltern in den Mittelpunkt und gibt damit für die Arbeit mit Familien mit Migrationshintergrund Anregungen zur Reflexion und Denkanstösse für die kultursensible Praxis.
Um den Dialog und die Zusammenarbeit zielführend entwickeln zu können, ist es hilfreich sich vor Augen zu führen, dass das kulturelle Umfeld, dem Menschen sich zugehörig fühlen, prägend für ihr Denken, Erleben und Verhalten ist. Es hat Auswirkungen auf die Erziehung und die Entwicklung von Kindern und auch Erwartungen an begleitende und unterstützende Institutionen werden dadurch beeinflusst (Borke et al., 2015). Die Entwicklung von Kindern vollzieht sich in den Beziehungen zu den relevanten Bezugspersonen und wird entscheidend von den Erfahrungen geprägt, die das Kind in diesem Beziehungsnetz macht. Der «gemeinsame Blick» von Eltern und Fachpersonen auf das Kind schafft bestmögliche Bedingungen für die Entwicklung von Kindern und setzt die gelingende Kooperation zwischen Eltern und Fachpersonen voraus. Dazu müssen beide Seiten über die Situation und Ausgangslage des jeweils anderen Bescheid wissen und sich über einen möglichen gemeinsamen Weg verständigen (Schöllhorn, 2015).
Dabei ist längst klargeworden, dass es «Eltern mit Migrationshintergrund» als einheitliche gesellschaftliche Gruppe nicht gibt, ebenso wenig wie eine einheitliche Gruppe von «schweizstämmigen Eltern». Differenzlinien sind sowohl bei der äusseren Dimension (z. B. Aufenthaltsdauer und -status, sozioökonomische Lebenslage), als auch in Bezug auf die innere Dimension (z. B. Ausbildung/Berufserfahrung, Art der Migrationserfahrung) und erst recht in Bezug auf die jeweiligen Persönlichkeiten (z. B. extrovertiert/introvertiert, traditionelle oder modernisierende Grundorientierung) auszumachen (vgl. Kappus & Kummer Wyss, 2015). Die vielfältigen ökologischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, in denen Menschen leben, konfrontieren diese mit unterschiedlichen Herausforderungen zur Bewältigung ihrer Lebenssituation. Diese unterschiedlichen Kontextbedingungen werden auch in der Erziehung und Entwicklung von Kindern wirksam. Eltern haben das Ziel, ihre Kinder zu Menschen zu erziehen, die in der jeweiligen Lebensumwelt kompetent zurechtkommen. Daher werden Kinder auf eine spezifische Umgebung hin sozialisiert (Schöllhorn, 2015).
Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, Kulturfragen zunächst zurückzustellen und die Familien stattdessen in ihren individuellen Rahmenbedingungen, Herausforderungen und Ressourcen zu sehen. Unter Kulturen oder kulturellen Kontexten werden hier also Lebenswelten verstanden, in denen Menschen Werte, Normen und Einstellungen teilen und sich ähnlich verhalten (siehe z. B. Keller & Kärtner, 2013; Borke, Döge & Kärtner, 2011). Es geht darum, Familien in ihren individuellen Rahmenbedingungen und mit ihren Herausforderungen zu sehen.