Читать книгу Von Eltern mit Migrationshintergrund lernen (E-Book) - Angelika Schöllhorn - Страница 9

Was erleben Kinder unterschiedlicher Altersstufen und ihre Eltern in Alltagssituationen?

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Insgesamt unterscheiden sich die Art und der Umfang der Angebote je nach Wohnort der von uns interviewten Eltern stark. Bei familienergänzenden Betreuungsangeboten werden neben den regionalen Verfügbarkeiten insbesondere die hohen Kosten als Hürde erachtet. Hinsichtlich der tatsächlichen Nutzung von Angeboten für Bildung und soziale Integration ist in unseren Interviews eine grosse Bandbreite erkennbar, die sich zwischen zwei Polen erstreckt: Auf der einen Seite finden sich Familien mit Migrationshintergrund, die vielfältige institutionelle Angebote nutzen. Dabei handelt es sich um Familien, welche die Bildung und die soziale Integration ihrer Kinder selbst in die Hand nehmen und kaum Beratung von pädagogischen Fachpersonen benötigen. Auf der anderen Seite gibt es Familien, die ihre Freizeit überwiegend im engeren und erweiterten Familienumfeld gestalten und ausserfamiliären Angeboten keine oder nur sehr geringe Bedeutung für die soziale Entwicklung und die Bildungsentwicklung ihrer Kinder beimessen. Bei diesen Familien zeigt sich in bestimmten Situationen ein Bedarf an Beratung und Unterstützung. Diese Vielfalt der Elternschaft wird nachfolgend erläutert.

Eltern mit hohen Bildungsaspirationen für ihre Kinder berichten häufig von einem breiten Angebot für Kinder jeglichen Alters, das sie gern nutzen. Innerhalb der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten wählen sie mit Blick auf die Interessen oder den Bedarf ihrer Kinder gezielt entsprechende Optionen aus. Eine weitere Gruppe bildungsbewusster Eltern gestaltet die Förderung ihrer Kinder weitgehend eigenständig und schafft bewusst häusliche Angebote bzw. achtet auf eine gute Balance zwischen Anregung und Selbsttätigkeit der Kinder. Diese Familien nutzen insgesamt wenige, wenn aber, dann gezielt ausgewählte institutionelle Angebote. Dazu gehören auch von privater Seite selbst organisierte Angebote für Kinder aller Altersgruppen mit explizitem Bezug zur Herkunftskultur (z. B. portugiesischsprachiger Unterricht für heimatliche Sprache und Kultur, ungarischer Kindergarten, türkischer Verein).

Demgegenüber finden sich Eltern, denen die Auswahl und die Nutzung von Angeboten im Bereich der sozialen Integration und Bildung ihrer Kinder erschwert wird bzw. sogar verwehrt bleibt. Als Gründe hierfür werden in den Interviews fehlende Informationen oder Hürden im finanziellen oder organisatorischen Bereich genannt. Konkrete Lösungsvorschläge der Eltern, die diesbezüglich Abhilfe schaffen könnten, beziehen sich unter anderem auf niederschwellig zugängliche Informationen und auf günstige oder auch kostenlose Angebote, die bevorzugt im institutionellen Umfeld von Kita, Kindergarten oder Schule stattfinden sollten. Als weitere Möglichkeit werden regelmässige, kostengünstige und mehrsprachige Beratungsangebote genannt, die beispielsweise von der Gemeinde organisiert werden. Solche Dienstleistungen sollen Eltern die Gelegenheit bieten, sich zu informieren oder Fragen zum Bildungssystem und zu Formularen o. Ä. zu klären. Insbesondere im Zusammenhang mit Diskriminierungserfahrungen (z. B. bei Zuweisungsentscheidungen zu sonderpädagogischen Massnahmen) werden von den interviewten Eltern unabhängige Ansprechpersonen vermisst (→ Themenfeld «Diskriminierung»).

Eine dritte Gruppe von Eltern berichtet, dass sie Angebote weder als notwendig noch als erstrebenswert erachte, da sie die Familie als die zentrale Ressource für eine gesunde Entwicklung der Kinder sehe. Für manche dieser Eltern könnte sich ein Gespräch über die Bedeutung eines infrage kommenden Angebots für die Bildungsentwicklung und die soziale Integration ihres Kindes deshalb als sehr hilfreich erweisen.

Aus den Interviews geht des Weiteren hervor, dass vor allem unmittelbar nach der Migration in die Schweiz Informationen zu Angeboten zu Bildung und sozialer Integration sowohl für die Eltern als auch für die Kinder und Jugendlichen selbst bedeutsam sind. Eltern erleben sich zu diesem Zeitpunkt meist als unwissend. Allerdings können Informationen zu zusätzlichen Angeboten kurz nach der Migration oder bei fehlenden Sprachkenntnissen von den Familien vereinzelt auch als Überforderung erlebt werden (→ Themenfeld «Information»). Flexible, individuelle und bedarfsorientierte Beratung zu Fragen rund um Bildung und soziale Integration sowie Hinweise zu entsprechenden Angeboten werden von vielen Eltern daher begrüsst. Obligatorische und inhaltlich stark vorstrukturierte Informationsveranstaltungen hingegen werden grossmehrheitlich als wenig zweckdienlich empfunden, da in solchen Settings kaum auf individuelle Voraussetzungen (z. B. Sprachkompetenz oder wenig Erfahrung mit dem Bildungssystem) eingegangen werden kann.

Die folgenden zusammengefassten Schilderungen illustrieren die alltäglichen Erfahrungen der Eltern im Zusammenhang mit der Nutzung von Angeboten zu Bildung und sozialer Integration. Dabei zeigt sich – wie einleitend bereits festgehalten –, dass die beschriebenen Erfahrungen nicht ausschliesslich Familien mit Migrationshintergrund betreffen, sondern für alle Familien gleichermassen relevant sein können. Des Weiteren gilt es diesbezüglich zu betonen, dass es nicht darum geht, sämtliche Wünsche und Bedürfnisse vonseiten der Eltern stets eins zu eins umzusetzen, sondern vielmehr darum, als pädagogische Fachperson in einem ersten Schritt für elterliche Anliegen ein offenes Ohr zu haben und ihre Bedürfnisse wahrzunehmen. Daraus können in der Folge ganz unterschiedliche Massnahmen abgeleitet werden. Diese können beispielsweise darin bestehen, die vorhandenen Angebote zu überdenken und weiterzuentwickeln, an entsprechende politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger zu gelangen, um die Anliegen der Eltern zu vertreten, oder Eltern explizit auf alternative Angebote aufmerksam zu machen. Oft reicht es zudem schon, wenn pädagogische Fachpersonen Eltern oder Kinder zu einer Teilnahme motivieren und das Vertrauen in ein Angebot erhöhen.

Frühe Kindheit

Angebote in der frühen Kindheit wie Krabbelgruppe, Stillcafé oder Spielgruppe hätten er und seine Frau nicht in Anspruch genommen, berichtet ein Vater. Beide von ihnen seien so in ihren Alltag verwickelt gewesen, dass sie sich keine Gedanken dazu gemacht hätten. Zugleich merkt er jedoch an, dass es eigentlich gut gewesen wäre. Sie seien einfach nicht darauf aufmerksam geworden und in ihrem Bekanntenkreis habe niemand etwas dazu gesagt. Sie hätten sich einfach privat getroffen und die Kinder spielen lassen. Wenn sie einen Hinweis erhalten hätten, wären sie wohl interessiert gewesen.

Das Nichtwissen über Angebote der frühen Förderung lässt bei diesem Vater zurückblickend ein Gefühl von leichtem Bedauern aufkommen. Zum damaligen Zeitpunkt war er sich deren Bedeutung jedoch noch nicht bewusst. Denn wenn Angebote wie Krabbelgruppe und Stillcafé im eigenen Herkunftsmilieu nicht bekannt sind, werden sie auch nicht vermisst. Sprachliche Barrieren, mangelnde oder wenig passgenaue Werbung oder fehlende Netzwerke und Erfahrung können Gründe für solche Informationslücken sein (→ Themenfeld «Information»).

Doch selbst wenn beispielsweise bei der Kinderärztin oder beim Kinderarzt diverse Flyer zu Angeboten für Kinder und Elternbildung aufliegen, erreichen diese ohne explizites Aufmerksammachen meist nicht alle Gruppen von Familien. Darüber hinaus reicht auch ein entsprechender Hinweis zur Anregung einer Teilnahme oftmals nicht aus, denn Eintrittshürden wie Sprache, Kulturunterschiede, Zeitknappheit oder die Angst, nicht zu genügen, sind weit verbreitet. Es braucht daher Schlüsselpersonen in den jeweiligen Migrationsgruppen, die diese Angebote selbst besuchen und andere Eltern zur Teilnahme motivieren können. Als Vermittlerinnen und Vermittler können z. B. Moderatorinnen von Femmes-Tischen fungieren, die es den Familien ermöglichen, in der eigenen Sprache wichtige Fragen zu Erziehung, Gesundheit und Integration zu diskutieren (→ https://www.femmestische.ch).

Kindergarten/Primarschule

Eine Mutter aus einer ländlichen Gegend wünscht sich für ihre Kinder mehr Freizeitangebote wie z. B. ein Kindertheater, einen Matheclub oder einen Rezitationsclub. Dort könnten die Kinder dann vieles ausprobieren und das, was ihnen Spass mache, vielleicht auch irgendwann zum Beruf entwickeln.

Je nach Wohnumfeld stehen mehr oder weniger Freizeitangebote für Kinder zur Verfügung. Im Beispiel vermisst die Mutter vor allem niederschwellige Angebote. «niederschwellig» bedeutet in diesem Fall, dass Kinder eine bestimmte Zeit lang etwas ausprobieren dürfen, ohne sich nach einer Schnupperlektion bereits auf die definitive Teilnahme festlegen zu müssen. Denn oftmals stellt sich erst mit einer gewissen Regelmässigkeit heraus, ob ein auf den ersten Blick infrage kommendes Angebot einem Kind liegt. Einzelne Schnupperlektionen können dieses Ausprobieren nicht gänzlich ersetzen.

Viele zugewanderte Familien kennen aus ihrem Herkunftsland Freizeitangebote, die als Bestandteil von Tagesschulstrukturen integral ins Schulsystem eingebunden sind. Dies ist in der Schweiz explizit nicht vorgesehen, erschwert jedoch den Zugang für Familien, die all die Möglichkeiten nicht kennen. Andere Angebote wiederum setzen zusätzlich zeitliche und finanzielle Ressourcen vonseiten der Eltern voraus, beispielsweise für Fahrdienste oder Vereinsbeiträge, und werden deshalb nicht als niederschwellige Angebote wahrgenommen. Vor diesem Hintergrund könnten Schulen die Zusammenarbeit mit lokalen Vereinen suchen, um im Unterricht integrierte Projekte umzusetzen (z. B. mit dem Schachclub) oder ausserhalb der Schulzeiten Schnupperangebote zu ermöglichen (z. B. mit dem örtlichen Turnverein).

Sekundarschule

Rafaelas Mutter wünscht sich, dass die Lehrpersonen ihre 12-jährige Tochter auch ausserhalb des Unterrichts begleiten. Schliesslich seien sie den ganzen Tag mit ihrer Tochter zusammen und hätten einen grossen Anteil am Leben des Mädchens. Sie als Eltern sähen dagegen nur die Hausaufgaben und Prüfungen. Die Mutter fände es deshalb toll, wenn die Lehrpersonen an 1 bis 2 Tagen in der Woche nach der Schule mit den Kindern Aufgaben anschauen und bearbeiten würden, mit denen die Kinder noch Schwierigkeiten haben. Da die Lehrpersonen echte Vertrauenspersonen seien, sei dies auch besser als Nachhilfe ausserhalb der Schule, wo man sich wieder auf jemanden Neues einstellen müsse.

Die Mutter im Beispiel hat grosses Vertrauen in die Kompetenzen der Lehrpersonen und wünscht sich, dass ihre Tochter von diesen direkten Bezugspersonen niederschwellig und gezielt auch nach der Schule gefördert wird. Bei den von Schulen kostengünstig, teilweise auch kostenfrei zur Verfügung gestellten Angeboten für Hausaufgabenhilfe fehlt dieser Mutter im Gegensatz dazu eine Person, die ihr Kind sehr gut kennt und ihre Tochter dadurch kompetent unterstützen kann.

Dieses Bedürfnis zeigt sich bei vielen der von uns interviewten Familien, nämlich dass sowohl in Bezug auf zusätzliche Förderangebote für ihre Kinder als auch bei alltäglichen Erziehungsfragen am liebsten die Lehrperson als kompetentes Gegenüber gewählt würde. Die Lehrpersonen werden von den Familien als erfahrene, verlässliche und langfristige Partnerinnen und Partner wahrgenommen (→ Themenfeld «Begleitung und Alltagskontakte»). Diesen Äusserungen ist entgegenzuhalten, dass in vielen Schulgemeinden bereits ein etabliertes Angebot für die Unterstützung der Schülerinnen und Schülern bei den Hausaufgaben besteht. Die betreuenden Fachpersonen sind im Schulalltag für die Eltern jedoch kaum sichtbar. Indem die Betreuenden beispielsweise an Elternabenden präsent sind und an wichtigen Elterngesprächen teilnehmen, kann eine Grundlage dafür geschaffen werden, dass sie stärker als Teil des Förderteams wahrgenommen werden und so seitens der Eltern auch Vertrauen aufgebaut werden kann.

Von Eltern mit Migrationshintergrund lernen (E-Book)

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