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Lundi – Montag Retour Kapitel 1

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»Mein Gott, wie öde.«

Luc Verlain schnaubte verächtlich, als er unter der Pont François-Mitterrand die graue Plörre sah. Die träge dahinfließende Garonne bahnte sich ihren Weg in Richtung Bordeaux – und in Richtung Atlantik. Morgens um vier war er in Paris losgefahren, fünfeinhalb Stunden hatte Luc bis hierher gebraucht. Immer wieder war sein Blick auf den Tacho gefallen: 120 km/h. Normalerweise fiel es ihm schwer, sich an das erlaubte Tempo 130 auf Frankreichs Autobahnen zu halten. Doch heute hatte er seinen alten blauen Jaguar XJ6 unbewusst immer wieder abgebremst, gerade so, als wollte er die Fahrt von Paris in die Provinz auf Tage verlängern. Als wollte er nie ankommen.

Nun aber war er da, sein Blick fiel auf das Schild auf der Brücke: Bordeaux Centre. Er setzte den Blinker und fuhr von der Route Nationale auf die kurze Autobahn, die ihn immer am Fluss entlang in die Stadt bringen sollte. Links lagen die Gewerbegebiete, der alte riesige Schlachthof, der schon seit einigen Jahren außer Betrieb war. Auf der anderen Seite am rechten Ufer des Flusses standen kleine Häuser auf Stelzen im Fluss, Hütten für Angler. Die Boote schaukelten angeleint davor und warteten auf ihren nächsten Einsatz auf dem grauen Fluss.

Die Garonne war für Luc schon immer ein Phänomen gewesen. Sie bahnte sich ihren Weg durch Bordeaux und dann weiter durchs Médoc, wo sie sich mit der Dordogne zur Gironde vereinigte, ehe sie sich in der riesigen Mündung nördlich von Soulac in den Atlantik ergoss. Touristen fanden ihre grau-braune Farbe häufig abstoßend, Luc aber wusste, dass sie nichts damit zu tun hatte, dass der Fluss verschmutzt war. Es war vielmehr Natur pur: Durch die Gezeiten wurde das Wasser des Atlantiks weit in die Mündung der Garonne gedrückt, mit dem ganzen Salz, das der Ozean enthielt. Im Fluss traf das Salz auf die Tonpartikel, die die Garonne aus Spanien mit sich führte, und Ton und Salz ergaben die braune Farbe.

Eine halbe Stunde von hier landeinwärts lagen die Weinberge von Saint-Émilion, eine halbe Stunde westlich die Strände des Atlantiks. Wie viel Zeit er hier verbracht hatte … Es war, als sei er wieder sechzehn und verdammt, für immer hierzubleiben. In den letzten fünfzehn Jahren war Luc höchstens mal für ein paar Tage hergekommen. Nachdem seine Mutter die Familie verlassen hatte, plagte Luc sein schlechtes Gewissen: Eigentlich hielt er es hier im Aquitaine nicht mehr aus, aber er wollte für seinen Vater da sein, seinen einsamen Vater, den er immer so bewundert hatte. In der Vergangenheit war meistens nichts daraus geworden. Manchmal war er ein ganzes Jahr lang nicht hier gewesen. Sein alter Herr hatte ihn ab und zu in Paris besucht, aber seit einigen Jahren mochte er nicht mehr Zug fahren und verabscheute die laute hektische Hauptstadt. Und nun, dieses Mal, würde Luc bleiben müssen. Ein halbes oder vielleicht auch ein ganzes Jahr. Er wusste noch nicht, wie lange. Für seinen Geschmack aber auf jeden Fall zu lange.

Er lenkte den Wagen von der Autobahn runter in Richtung Gare Saint-Jean. Hinter dem Bahnhof bog Luc nach links ab in Richtung Stadtzentrum. Er scheute sich davor, schon jetzt am Place de la Bourse vorbeizufahren – diesem hochherrschaftlichen Platz im Zentrum der Stadt mit seinen pompösen Palästen. Dieses Wahrzeichen Bordeaux’ symbolisierte alles, was die Stadt für Luc ausmachte und was er verabscheute: die Bourgeoisie, die überbordende Arroganz des Bürgertums, der zur Schau gestellte Reichtum und die Spießigkeit. Dagegen hatte er sich als Jugendlicher aufgelehnt – und deshalb war er als junger Polizist von hier geflohen. Niemals hätte er länger in Bordeaux leben können. Und er wollte es auch jetzt nicht.

Wenn er den guten Wein aus der Region trinken oder Austern aus Arcachon essen wollte, konnte er auch in Paris in die Galeries Lafayette gehen oder seinem Lieblingsrestaurant Fontaine de Mars, ganz in der Nähe seiner Wohnung im 7. Arrondissement, einen Besuch abstatten. Dort servierten sie die typischen Gerichte aus dem Südwesten des Landes in Perfektion, und Luc konnte sie genießen, ohne die spießigen kleinen Orte an der Küste aufsuchen zu müssen. Doch nun war er zum Hierbleiben verdammt.

Heute lag die Stadt sonnig da, und Luc betrachtete die großen hellen Gebäude mit den bodentiefen Sprossenfenstern, für die die Stadt des Weines berühmt war. Er seufzte und fuhr seinen Schleichweg am Bahnhof vorbei über den Place de la Victoire mit dem Obelisken und dann in Richtung Mériadeck. Der Name des Viertels klang lieblich und passte so gar nicht zu seiner äußeren Erscheinung. Die Stadtoberen hatten in den Sechzigern ausgerechnet hier das Geschäftsviertel der Stadt erbaut, mit gesichtslosen Büroblöcken, grauen Parkhäusern und unförmigen Betonklötzen. Weinliebhaber, die aus aller Welt mit großen Erwartungen in die Stadt kamen, mussten von der Realität bitter enttäuscht sein. Und genau hier lag auch das Hôtel de Police, das Hauptquartier der Police Nationale. Es war nur einen Katzensprung entfernt vom touristischen Zentrum der Stadt hinter dem Rathaus und der Kathedrale, untergebracht in einem dieser scheußlichen modernen Neubauten.

»Bonjour Tristesse«, murmelte Luc und dachte wehmütig an das wunderschöne Commissariat in Paris, die alten Mauern auf der Île de la Cité, den Blick auf die Seine. Und an seine Wohnung hinter dem Musée d’Orsay, umgeben von kleinen Läden und hippen Galerien. Er konnte mit seiner Vespa zur Arbeit rasen, über die Quais und durch die kleinen Pariser Gassen. Nun sollte er hier arbeiten – in diesem grauen Kasten in Bordeaux. Er holperte über die Schienen der Straßenbahn und parkte den alten Jaguar vor dem Commissariat im Halteverbot.

Als er ausstieg, spürte er den Wind des Meeres. Bis hierher drang er, die ganzen fünfzig Kilometer vom Atlantik herüber. Es war windig heute, fast stürmisch. Dieses unbändige Strömen, das durch nichts aufgehalten zu werden schien. Wer einmal eine Nacht im Sturm am Atlantik erlebt hatte, der wusste, wovon Luc sprach. Wenn die Wellen mit großem Getöse gegen den Strand peitschten, schafften es der Wind und die Möwen bis in die Gassen von Bordeaux. Luc Verlain hatte viele von diesen Nächten durchstehen müssen. Auf dem Boot seines Vaters auf dem Bassin d’Arcachon und im Haus am Meer in Carcans Plage. Er fühlte sich als Kind im Auge des Sturmes so klein. Und auch jetzt, als erwachsener Mann, hatte sich dieses Gefühl nicht verändert. Die Gewalten der Natur waren übermächtig und vom Menschen niemals zu beherrschen. Das hatte ihn sein Vater immer gelehrt.

Luc ging zum Haupteingang und blieb vor der spiegelnden Scheibe der Eingangstür stehen. Ihm sah ein gutaussehender Mann entgegen. Ernst, ein wenig schnippisch. Der Bordeaux-Blick eben. Ein Mann in einem schwarzen Hemd, mit halblangen braunen Haaren, einem nicht ganz gepflegten Drei-Tage-Bart. Er war jemand völlig anderes geworden. Den schmächtigen Jungen, Sohn eines Austernzüchters, die Klamotten immer ein wenig zu groß und ein wenig zu zerschlissen, gab es nicht mehr. Und auch die alte Uniform, die er während seiner Anfangszeit bei der Polizei als kleiner Beamter tragen musste, war längst vergessen. Die Jahre in Paris hatten ihn gestählt. Er hatte, erst in den Banlieues und dann in der Innenstadt, ein ziemlich dickes Fell bekommen. Die letzten Monate waren hart gewesen: Nach den islamistischen Anschlägen auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt in Vincennes hatten er und seine Kollegen Sonderschichten gemacht. Nächtelange Observationen. Verhöre von Verdächtigen und Zeugen aus den Vororten. Der Stress war immens, der Druck von ganz oben enorm. Die Politiker brauchten Ermittlungserfolge – und die Polizisten mussten liefern. Ganz tief innendrin hatte sich Luc vielleicht sogar ein wenig gefreut, dass er es jetzt etwas ruhiger angehen könnte, hier draußen in der Provinz – auch wenn er das nie zugegeben hätte.

Der Mann, den er in der Spiegelung kritisch musterte, gefiel ihm deutlich besser als der schüchterne Junge von damals. Es war alles gut. Er fühlte sich wohl. Er hatte etwas aus sich gemacht. Jetzt musste er nur die Zeit hier im Aquitaine durchstehen, und dann würde es schnell zurück nach Paris gehen. Dorthin, wo das Leben tobte, nicht der Sturm. Dort, wo seine Freunde waren, und – vor allem – seine Freundinnen. Derzeit war es nur eine, auch wenn er Delphine nicht als seine Freundin vorstellen würde. Sie würde es auch nicht verlangen. Das hoffte er zumindest.

Luc trat durch die elektrische Schiebetür ins Commissariat. Die Gänge waren lang und breit, sie wirkten penibel gewienert, und es roch nach Krankenhaus. Alles hier war zwar neu, aber wirkte doch schäbig und irgendwie provisorisch. Ganz anders als das historische Ambiente in der Pariser Préfecture de Police, die für die Ewigkeit gebaut zu sein schien – als steinernes Monument der Macht der République. Luc fuhr in die zweite Etage, und ehe er den Fahrstuhl verließ, tönte es vom Ende des Flures: »Verlain. Bienvenue! Ich habe Sie schon aus dem Fenster gesehen.«

Der alte Mann, zu dem die freundliche Stimme gehörte, eilte auf ihn zu, die eine Hand ausgestreckt, in der anderen wedelte er mit einer Zeitung. Luc erkannte ihn erst auf den zweiten Blick. Divisionsleiter Preud’homme war alt geworden. Er sah ein wenig müde aus, war aber immer noch ein attraktiver Mann. Grauer Anzug, gepunktete lilafarbene Fliege, etwas längere graue gewellte Haare.

»Guten Tag, Monsieur«, sagte Luc. »Es ist schön, wieder hier zu sein. Und es ist schön, dass gerade wir beide uns wiedersehen.«

»Ich freue mich auch, meinen besten Schüler wieder an meiner Seite zu haben. Auch wenn die Umstände …« Der alte Mann schluckte. »Wie geht es Ihrem Vater?«

Verlain hielt dem fragenden Blick stand. »Nicht gut. Es ist schwer für ihn, ans Bett gefesselt zu sein. Ausgerechnet er, der sein ganzes Leben draußen verbracht hat. Im Krankenhaus versucht man alles, um ihm zu helfen. Aber die Schmerzen sind schier unerträglich, wenn er wieder einen Schub hat. Ich will einfach bei ihm sein. Danke, dass Sie so schnell eine Stelle für mich freigemacht haben.«

Preud’homme nickte. »Dann hoffe ich sehr, dass Sie lange bei uns bleiben. Die Regionalzeitung weiß jedenfalls schon Bescheid«, sagte er und reichte Luc eine Ausgabe der Sud Ouest. In breiten Lettern prangte auf der Titelseite »Erfolgsbulle aus Paris – ab sofort in Bordeaux«, darunter ein Foto und eine Auflistung seiner größten Erfolge bei der Pariser Mordkommission.

»Oh, mein Gott«, stöhnte Luc. »Das hatte ich nicht erwartet.« Jetzt wusste wirklich jeder, dass er wieder hier war – und dieses öffentliche Aufheben um seine Person war ihm furchtbar unangenehm. Er ermittelte lieber unter dem Radar der Presse.

Doch Preud’homme war voller Freude. »Lorbeeren, die Sie sich verdient haben. Ich erinnere mich noch, als wir zusammen ermittelt haben, wissen Sie noch? Ich war damals …«

Preud’homme stockte, Luc half ihm auf die Sprünge: »Sie waren Commissaire divisionnaire, wie ich jetzt.«

Der alte Mann unterbrach ihn sofort wieder: »Genau, und Sie kamen gerade frisch von der Polizeischule. Was hatten wir damals? War das nicht dieses Eifersuchtsdrama draußen in Margaux? Wir dachten alle, dass irgendwelche Diebe in die Villa eingebrochen sind, aber Sie hatten sofort die richtige Spur. Der raffinierte Familienvater hatte eine falsche Fährte gelegt. Als Sie das erkannt hatten, Verlain, da wusste ich, dass ich Sie hier nicht lange würde halten können. Und so kam es auch, anderthalb Jahre später verlor ich meinen besten Schüler.«

Luc war das Lob seines alten und neuen Chefs unangenehm, er senkte den Kopf und hob ihn erst wieder, als Preud’homme ihn an der Schulter fasste und sagte: »Es hat sich übrigens nicht viel verändert hier, seit damals. Bei uns gibt es Erbschleicher in den Weinbergen, ein paar Schlägereien am Surfstrand und Taschendiebstähle im Centre Ville. Aber mit Mord und Totschlag werden wir Ihnen nicht oft dienen können, Commissaire.« Preud’homme musste kurz lachen. »Hier geht es ein bisschen provinzieller zu als in Paris. Sie werden also auch mal zu einem Einbruch rausmüssen. Aber Sie haben ein tolles Team. Kommen Sie. Ich stelle es Ihnen vor.«

Preud’homme nahm Verlain an seine Seite und ging langsam den Flur entlang bis zu einer großen weißen Tür. Brigade criminelle Aquitaine stand auf dem Schild. Hier also saß die Sondereinheit für alle Kapitalverbrechen in der Region Aquitaine. Das Ermittlungsgebiet war riesig: Neben den Städten Bordeaux und Arcachon gehörten auch die schönsten Weinregionen der Welt dazu – das Médoc, das Pomerol, Saint-Émilion. Und dann lagen hier rund um Arcachon auch noch die größten Austernbänke und in den Départements Gironde und Landes die längsten Sandstrände Frankreichs. Bei schwierigen Fällen wurden sie auch von der Polizei von La Rochelle im Norden hinzugezogen, oder von den Kollegen in Biarritz oder Bayonne ganz unten im Baskenland an der spanischen Grenze. Strände, Weinberge, Gemüsefelder, entspannte Landbewohner – verbrechensmäßig war es hier nicht gerade Detroit, sondern eher Malibu. Ruhig und beschaulich.

Preud’homme öffnete die Tür. Die Möbel in dem großen Raum waren aus billigem braunen Holz, an der Decke hingen Neonlampen, und die riesigen Fenster hätten durchaus mal wieder geputzt werden können. Aber Luc wusste: Das Budget der Polizei war knapp, und die Zeit war es ebenso, in diesen unruhigen Tagen in Frankreich. Erleichtert stellte er fest, dass wenigstens die Computer neu waren. Er hoffte, dass sie eine Verbindung zum französischen Netzwerk hatten. So konnte er mit den Pariser Kollegen über Videotelefonie kommunizieren und ab und an vertraute Gesichter sehen.

»Liebe Kollegin, liebe Kollegen«, begann Preud’homme feierlich, »das ist Commissaire Luc Verlain aus Paris. Ich muss ihn Ihnen ja nicht vorstellen. Er ist einer meiner ältesten Schüler. Commissaire, das ist Commandante Anouk Filipetti.«

Luc Verlain wendete sich ihr zu, und sofort trafen sich ihre Blicke. Anouk hatte lange dunkelbraune Haare und funkelnde braune Augen – sie hatte etwas unglaublich Edles an sich, das gar nicht in dieses verstaubte Büro passte. Sie war wohlgebräunt von der atlantischen Sonne, trug eine Jeans, Lederstiefel und eine schwarze Steppweste über einem weißen Shirt. Sportlich und trotzdem schick. Sie hätte durchaus auch ein Gast in seiner Lieblingsweinbar Le Rubis in Paris sein können, einer der hübscheren Gäste, versteht sich.

Anouk reichte ihm die Hand. »Willkommen am Ende der Welt.«

Sie lachten sich an.

Preud’homme unterbrach sie. »Das ist Brigadier Hugo Pannetier.«

»Bonjour Monsieur le Commissaire«, sagte der junge Mann.

Er war stämmig gebaut, hatte kurze blonde Haare, die aussahen wie weicher Flaum, war blass und hatte gerötete Wangen. Er hatte ein gutmütiges Gesicht, doch Luc hatte sich über seine neue Abteilung informiert und wusste, dass er sehr lange in einer Sondereinheit der CRS gedient hatte, der Spezialpolizei. Und diese Jungs waren harte Kerle mit Muskeln an den richtigen Stellen. Der gutmütige Eindruck konnte also durchaus täuschen.

Preud’homme wollte noch den dritten im Bunde vorstellen, dessen großer Schreibtisch ganz hinten am Fenster stand. Bis eben hatte er dort gesessen, aber nun stand der Mann auf und marschierte schnurstracks und erhobenen Hauptes auf Luc zu, um selber das Wort zu ergreifen.

»Ich bin Commissaire Etxeberria. Das schreibt man mit ›x‹, spricht es aber mit ›sch‹.«

Vielen Dank für die Transkription, dachte Luc. Er hatte auf der Polizeischule genug mit baskischen Terroristen zu tun gehabt und ihre komische Sprache ein wenig gelernt. Doch der Kommissar fuhr in schneidendem Ton fort: »Wir sind gleichberechtigte Leiter dieser Abteilung. Ich habe erst letzte Woche erfahren, dass Sie kommen.«

Verlain bemerkte, wie Anouk sich genervt abwandte. Offenbar hatte es im Vorfeld hitzige Diskussionen gegeben. Auch über seinen gleichgestellten Kollegen hatte Luc schon einiges gelesen, sich aber lieber erst mal selbst ein Bild machen wollen, statt vorschnell ein Urteil zu fällen. Er musterte den anderen Commissaire, der – wie neben seinem Namen auch sein Äußeres verriet – ganz klar ein Baske war. Etxeberria hatte einen ungepflegten Sechs-Tage-Bart, trug eine abgewetzte braune Lederjacke und Cowboystiefel, seine schwarzen Haare hingen strähnig herab. Der Oberlippenbart war braun vom Tabak, die roten Risse auf seinen Wangen wiesen auf nicht wenig Rotwein hin. Der Commissaire hatte einen nervösen Tick. Sein linkes Auge zuckte, alle paar Sekunden krampfte sich das Lid zusammen und öffnete sich wieder. Luc bemühte sich, nicht die ganze Zeit dort hinzuschauen. Man konnte erahnen, dass der Baske mal gut ausgesehen haben musste. Aber jetzt wirkte es eher, als habe er in einem schlechten Buch nachgelesen, wie der Prototyp des Bad Cops aussieht, und sich dann entsprechend verkleidet. Augenscheinlich war Etxeberria gar nicht wohl dabei, einen hochdekorierten Commissaire vor die Nase gesetzt zu bekommen. Viel Ruhm war hier im Aquitaine ohnehin nicht zu ernten, mit Luc im Büro wohl in Zukunft noch weniger.

Etxeberria fuhr fort: »Ich erwarte eine gute Zusammenarbeit und bitte Sie, alles mit mir abzusprechen. Wir sind ein Team, und das wollen wir auch bleiben.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zurück zu seinem Schreibtisch. Preud’homme sah Etxeberria erstaunt nach, dann nahm er Verlain zur Seite und führte ihn aus dem Büro.

»Ich sehe Sie alle nachher«, rief Luc im Weggehen.

Gemeinsam gingen sie ins Büro von Inspecteur Général Preud’homme im unteren Stockwerk. Die ältere Frau im Vorzimmer grüßte freundlich. Sie war schon ewig an der Seite von Preud’homme und gehörte quasi zum Inventar der Polizei von Bordeaux. Er hatte sie wohl schon in den Achtzigern aus seiner Heimat in Lille mit hierhergebracht. Im Büro des Inspecteurs war es sehr ordentlich, und hier waren auch die Fenster sauber. Luc wartete, bis Preud’homme in seinem imposanten Ledersessel Platz genommen hatte, und setzte sich dann selber.

»Tut mir leid, aber Etxeberria ist nicht zu bremsen. Er nimmt es persönlich, dass wir für Sie keine neue Abteilung aufgemacht haben. Aber ich brauche nur ein Team für Kapitalverbrechen. So viel passiert hier nicht. Und als der Anruf aus Paris kam, dass Sie auf Zeit hierher versetzt werden müssen, dachte ich, dass Sie zusammenarbeiten könnten. Er ist damit nicht einverstanden, aber nehmen Sie es ihm nicht übel, er ist wirklich ein guter Polizist.«

Verlain nickte. »Wir kriegen das hin, Inspecteur.«

»Das werden Sie. Und Ihr Team ist eine klasse Einheit: Pannetier kommt aus einer alteingesessenen Familie und ist hier in der Gegend tief verwurzelt. Ein fähiger junger Beamter, ein guter Schütze und sehr sportlich – auch, wenn man das nicht auf den ersten Blick sieht.«

Luc verkniff sich ein Grinsen, doch sogar der alte Preud’homme lachte schelmisch. Er hatte einen wunderbaren jugendlichen Charme.

»Pannetier wird nie von hier weggehen, glaube ich. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und draußen in Bègles ein kleines Häuschen gebaut.«

Verlain nickte und schaute aus dem Fenster. Bègles war eine Vorstadt von Bordeaux, im Süden an der Garonne gelegen.

Preud’homme fuhr fort: »Mademoiselle Filipetti hat die Akademie mit Auszeichnung bestanden und wartet auf ihre Beförderung. Dann wird sie wohl weggehen, weil hier zu wenig Herausforderungen auf sie warten.«

»Sie ist eine bemerkenswerte Frau, oder?«

Preud’homme lächelte, aber es wurde fast ein jungenhaftes Grinsen daraus. »Ja Luc, das ist sie. Wir wissen auch nicht, warum sie uns als Wunschort angegeben hat. Und ich habe mich noch nicht getraut, sie zu fragen. Sie wirkt immer so …«

»… unnahbar?«, half Luc.

»Unnahbar, genau, das trifft es. Aber gut, wahrscheinlich wollte sie mal raus, sie war erst in Paris, dann irgendwo im Süden, ich glaube in Nizza. Und wenn sie befördert wird, dann wohl wieder in eine große Stadt. Vielleicht wollte sie etwas Ruhigeres machen, bevor ihre Karriere so richtig beginnt.«

Luc nickte, und Preud’homme beugte sich vor: »Wissen Sie, Verlain, die meiste Zeit wird nicht so viel zu tun sein, und Sie können sich in Ruhe um Ihren Vater kümmern. Mit Etxeberria wird es sich schon finden. Er ist eben ein typischer Baske. Störrisch, stur und sehr eigen.«

Preud’homme zwinkerte komplizenhaft, und Verlain lächelte zurück. Er dankte dem Chef und ging zurück in sein neues Büro. Sein Schreibtisch stand mit dem Rücken zum Fenster. Luc setzte sich. Sein Blick fiel auf die eingestaubte Zimmerpflanze, irgendeine Palme, die vertrocknet in der Ecke stand, und er nahm sich vor, sie zu entsorgen.

Da war er also wieder. In Bordeaux. Als Commissaire. Von hier war er vor fünfzehn Jahren weggegangen. Und jetzt war er zurück und traf auf lauter neue Gesichter: Pannetier war noch zur Schule gegangen, als Luc die Akademie abgeschlossen hatte. Anouk kam nicht von hier, war dafür aber umso interessanter. Und über Etxeberria würde Luc nachdenken müssen, schließlich würden sie einen Weg finden müssen, zusammenzuarbeiten. Preud’homme war einer der alten Hasen, schon jahrzehntelang der Chef hier. Davor hatte er im Norden gelernt und viele aufsehenerregende Fälle gelöst. Der Liebe wegen hatte es ihn ins Aquitaine verschlagen, sonst säße er jetzt als irgendein höherer Beamter im Innenministerium. Er hatte Verlain zum Polizisten gemacht und ihn nach Paris ziehen lassen. Nun war Verlain zurück, um seinen Vater zu pflegen. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Das war der Grund für seine Versetzung. So musste er nur wenig arbeiten und konnte sich um seinen Vater kümmern. Gleich nachher wollte er ihn im Krankenhaus besuchen, wollte endlich ein guter Sohn sein. Er war zu wenig da gewesen. Auch, weil die Flucht nach Paris von Dauer sein sollte. Bis heute war sie ihm gut gelungen.

Krokodile

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