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Kapitel 3
ОглавлениеDie Werkstatt lag am Ortsrand, direkt am Kreisverkehr, der nach Bordeaux, Lacanau und Carcans führte. Sie war umgeben von flachen Häusern aus grauem Beton, bei fast allen waren die Dächer schief und die Fensterläden – früher blau oder rot gestrichen – verblichen, der Lack blätterte ab. Es war ein trostloser Ort. Neben der Werkstatt lag das Wohnhaus der Familie Derval. Etxeberria und Hugo saßen noch im Wagen und stiegen aus, als sie die Kollegen erblickten.
Luc und Etxeberria traten an die Tür und klingelten. Eine dünne Frau öffnete nach wenigen Augenblicken. Sie trug eine Schürze. Ihre weißen Arme verrieten, dass sie sehr selten die Sonne sahen. Ihre blauen Augen lagen tief in den Höhlen. Früher musste ihr Haar einmal blond gewesen sein, jetzt zeigte es nur noch eine fahle Farblosigkeit.
»Ja, bitte?«, fragte sie.
»Sind Sie Madame Derval?«, fragte Etxeberria.
»Ja, Sandrine Derval. Was wollen Sie?«
»Dürfen wir reinkommen, Madame? Wir sind von der Brigade Criminelle in Bordeaux.«
»Natürlich. Aber was wollen Sie denn? Hat Caroline etwas ausgefressen?« Dabei machte sie einen Schritt zur Seite und die Beamten traten in den kahlen, dunklen Flur.
»Nein, Madame«, sagte Etxeberria.
Er sah die Frau an und begann mit der bittersten Aufgabe, die zum Beruf des Polizisten gehörte. »Es ist etwas Schreckliches passiert«, sagte er und wartete kurz. »Caroline wurde am Strand gefunden …«
Madame Dervals Augen weiteten sich. »Ist sie verletzt? Geht es ihr gut?«
Luc schwieg und senkte den Blick. Dann sagte er: »Es tut uns leid. Caroline ist tot.«
Die Mutter schwankte, Luc wollte ihr zur Seite eilen, aber sie konnte sich gerade noch fangen und sank in einen Sessel. Dort saß sie starr und hielt die Fäuste geballt.
»Aber … wie?« Sie beugte sich vor. »Ein Badeunfall? Ich habe ihr gesagt, dass sie nicht so weit rausschwimmen soll.«
Etxeberria atmete schwer und fuhr fort. »Nein, Madame, Ihre Tochter wurde ermordet. Wir wissen noch nicht, warum. Und wir wissen auch nicht, wer es getan hat.«
»Ermordet? Wer hat Caro ermordet, sie war doch … das kann nicht sein.«
Ihre zu Fäusten geballten Hände zitterten. Immer wieder schüttelte sie den Kopf und starrte auf den schmutzigen Teppichboden. Sie schaffte es nicht mal zu weinen, stand noch zu sehr unter Schock.
»Madame, können wir Ihnen ein paar Fragen stellen?«
»Ja, aber … Ja, fragen Sie.«
»Wo ist denn Ihr Mann? Wir würden gerne auch mit ihm sprechen.«
»Er ist gerade mit den Kollegen in Listrac-Médoc, sie schauen sich einen Unfallschaden an. Er sollte aber jeden Augenblick zurückkommen.«
»Dann reden wir nachher mit ihm. Wann haben Sie Ihre Tochter zum letzten Mal gesehen?«
»Gestern Abend. Sie war den ganzen Tag und die letzte Nacht unterwegs und kam abends kurz vorbei, um sich fertigzumachen, bevor sie mit Freunden zum Strandfest nach Lacanau gegangen ist.«
Luc hakte nach: »Welche Freunde? Kennen Sie ihre Namen?«
»Ihre beste Freundin ist aus Lacanau. Sie heißt Anne-Françoise Dupuy und wohnt in der Rue du Moulin.«
»Und wer war noch dabei?«
»Ich weiß ihre Namen nicht. Caro kannte sie nicht aus der Schule, und sie haben sich nur selten hier getroffen. Ich kenne nur Anne-Françoise.«
»Hatte sie irgendwelche männlichen Freunde?«
Bisher hatte sich Madame Derval gut geschlagen, aber nun nahm die Trauer überhand. Hemmungslos begann die Frau zu schluchzen. Ihre Augen färbten sich rot, und Tränen liefen ihre Wangen herunter.
»Meine Caro, meine Caro«, schluchzte sie. »Nein, ich weiß es nicht, ich möchte … kann ich jetzt allein sein?«
Luc reagierte sofort: »Natürlich, Madame Derval. Wenn Sie Caro noch mal sehen möchten, holt Sie später ein Kollege ab, um Sie in die Gerichtsmedizin zu bringen. Wir haben einen Seelsorger aus der katholischen Gemeinde in Carcans bestellt, vielleicht möchten Sie mit ihm sprechen. Wann kommt Ihr Mann denn wieder?«
»Er … es ist schon nach zwei. Vielleicht ist er schon wieder in der Werkstatt.« Draußen war vor ein paar Minuten ein Wagen vorgefahren, durch die dünnen Fenster des Wohnzimmers war er deutlich zu hören gewesen. Sie wollte noch etwas hinzufügen: »Er ist übrigens nicht Caros leiblicher Vater. Ihr Vater ist vor zehn Jahren gestorben.« Sie schluchzte wieder.
Sie standen auf. Luc ging zu der Frau und legte ihr die Hand auf die Schulter. Wie so oft in solchen Situationen suchte er vergeblich nach den richtigen Worten.
Aus der Werkstatt schallte Radio NRJ. Männerstimmen waren zu hören. Die Beamten öffneten die Tür. Drei Männer standen an der Hebebühne unter einem Citroën AX und schauten erwartungsvoll nach oben.
»Monsieur Derval?«
Ein massiger Mann mit Halbglatze wandte sich den Beamten zu und baute sich vor ihnen auf. Er zog die Mundwinkel hoch, als wollte er lächeln, aber es gelang ihm nicht recht. »Ja, wer stört?«
»Wir sind von der Police Nationale in Bordeaux. Können wir mit Ihnen sprechen?«, antwortete Etxeberria.
»Die flics wollen mit mir sprechen? Sieh an. Aber wenn hier mal wieder die Neger einbrechen, kommt keiner, auch wenn ich zehn Mal anrufe.« Er drehte sich um und schlurfte zu einer Tür in der Ecke der Werkstatt, die offenbar zu einer Art Büro führte. Luc und der Baske folgten ihm unaufgefordert.
Es war ein schäbiges Zimmer. Durch eine ölverschmierte Scheibe konnte man die Mitarbeiter an der Hebebühne bei der Arbeit beobachten. An der Wand hing ein Poster mit einer großbusigen Blonden. Daneben etwas kleiner der Kalender vom Front National, der rechtsextremen Partei, die Luc so verabscheute.
Derval ließ sich in einen abgenutzten schwarzen Ledersessel fallen. »Und? Was gibt’s? Bin ich zu schnell gefahren?« Er wollte eigentlich über seinen dünnen Witz lachen, aber es kam nur ein heiseres Schnauben aus seinem Hals.
»Monsieur Derval«, begann diesmal Luc, »wir haben eine schreckliche Nachricht für Sie. Es geht um Ihre Stieftocher.«
Der Mann stutzte. Auf einmal war er hellwach und schaute zwischen den Beamten hin und her. »Was ist mit Caro?«
»Sie ist tot, sie ist heute Morgen ermordet aufgefunden worden.«
Derval sprang auf, lief um seinen Schreibtisch herum auf die Beamten zu, bekam sich dann aber wieder unter Kontrolle, stoppte und fragte laut: »Was sagen Sie da? Das ist doch ganz unmöglich. Wie kann das sein? Sie war doch gestern Abend noch hier.«
»Wir haben sie am Strand von Lacanau gefunden. Sie wurde erschlagen. Vermutlich von jemandem, den sie kannte.«
Luc schaute Etxeberria überrascht an, sah dann aber schnell wieder zu Monsieur Derval. Der alte Fuchs Etxeberria wollte offenbar eine rasche Reaktion provozieren. Der Werkstattbesitzer schien aufbrausend zu sein, es gab also die Chance auf unüberlegte Äußerungen. Und Etxeberria sollte recht behalten.
»Ich wusste es!«, schrie Derval und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich wusste, dass so was passieren wird. Wegen diesen arabischen Halunken, diesen … Warum haben wir die ins Land gelassen? Das kann nur Hakim gewesen sein. Dieser Nichtsnutz. Weil … weil sie ihn verlassen hat. Sie wollte mit diesem algerischen Dorftrottel nichts zu tun haben.«
Sein Gesicht war nun noch röter, und die riesigen Hände zitterten. Etxeberria nickte, wohl wissend, dass er die Reaktion provoziert, in dieser Heftigkeit aber nicht vorausgesehen hatte.
Luc sprach ganz leise: »Wer ist dieser Hakim? War er ein Freund Ihrer Tochter?«
»Er ist aus Algerien. Nicht von hier«, ätzte Derval.
Luc schwieg. Gerne hätte er dem Typen die Meinung gesagt. Aber jetzt war es erst mal wichtiger, dass sie herausbekamen, wen er verdächtigte.
»Die beiden waren zusammen im Kindergarten. Und auf der Schule hat er ihr nachgestellt. Da war Caro vierzehn. Er war pausenlos hinter ihr her. Aber sie fand ihn natürlich zu langweilig, und seine Familie ist arm. Niemals wäre der was für mein Mädchen gewesen. Er ist nicht sehr helle, wissen Sie?«
»Und wieso hätte er Ihrer Tochter etwas antun sollen?«, fragte Luc.
»Sie wollte keinen Kontakt mehr, aber er rief ständig bei uns an und verlangte nach ihr. Schrieb ihr Briefe. Irgendwann habe ich immer zuerst in den Briefkasten gesehen und sie versteckt. War ja nicht auszuhalten.«
»Haben Sie die Briefe noch?«
»Ja, im Haus, in meinem Schlafzimmer.«
»Wo finden wir diesen Hakim? Wie heißt er weiter?«, fragte Etxeberria.
»Hakim Tadjiane, zweites Haus links von hier. Aber beeilen Sie sich. Bevor ich ihn finde.«
»Könnten Sie uns die Briefe holen?«, fragte Luc, der die Drohung ignorieren wollte.
»Ja«, stöhnte Monsieur Derval.
»Sobald wir mehr wissen, informieren wir Sie. Und bis dahin unternehmen Sie gar nichts und überlassen die Sache der Polizei. Haben Sie das verstanden?«, ermahnte ihn Luc. Der Werkstattchef war ein schroffer Typ, und der Glaube an die Justiz war im ländlichen Frankreich nicht ganz so weit ausgeprägt.
»Wie bitte?«, fragte Derval aufbrausend. »Sie weisen mich zurecht? Da hat ein verdammter Algerier meine Tochter auf dem Gewissen, und Sie wollen mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe? Wer sind Sie denn? Sie sollten lieber der Familie Tadjiane einen Besuch abstatten, ehe ich Ihnen zuvorkomme.«
»Das tun wir, Monsieur Derval.«
»Eine letzte Frage noch«, ergänzte der Baske. »Wo waren Sie letzte Nacht nach Mitternacht?«
Der Werkstattbesitzer schaute dem Kommissar direkt in die Augen. Sehr nah, sehr unangenehm direkt.
»Hier. Im Bett. Mit meiner Frau. Fragen Sie sie.«
Luc und Etxeberria verabschiedeten sich und verließen die Werkstatt. Derval eilte ihnen hinterher, um ins Haus zu gehen.
»Das war ein kluger Schachzug«, raunte Luc seinem Kollegen zu.
»Weiß ich«, knurrte Etxeberria.
In diesem Moment drehte sich Luc um und rief Derval hinterher, der schon in der Tür stand. »Monsieur Derval. Einen Augenblick …«
»Was ist denn noch? Ich will zu meiner Frau.« Der grobschlächtige Mann kam atemlos auf ihn zu.
»Ich brauche bitte eine Liste Ihrer Mitarbeiter in der Werkstatt«, sagte Luc, der sich ungefähr vorstellen konnte, wie in einem solchen Betrieb über ein so hübsches Mädchen geredet wurde, wenn der Chef nicht mit an der Hebebühne stand.
»Kriegen Sie.«
»Und noch eine letzte Frage. Wer wohnt alles in Ihrem Haus?«
»Meine Frau, Caroline und mein Sohn Thomas. Mein Vater ist letztes Jahr gestorben.«
»Sie haben einen Sohn?«
»Ja, aus erster Ehe«, grummelte Derval.
»Wo finden wir Thomas?«
»Was hat der denn damit zu tun?«, fragte Derval und trat noch näher an Luc heran.
Der roch seinen fauligen Atem und antwortete, ohne einen Schritt zurückzuweichen: »Er wohnt hier mit im Haus, also wird er Caroline gut kennen, und wir würden ihn gerne dazu befragen. Also: Wo ist er?«
»Er ist unterwegs. Mit dem Motorrad. Sitzt immer an der Dune du Pilat. Will ja weg zum Studieren, aber noch geht das nicht los. Also hängt er da rum.« Derval verzog sein Gesicht und schaute verächtlich. Offensichtlich war er nicht einverstanden mit den Zukunftsplänen seines Sohnes. »Ich werde ihn anrufen, damit er herkommt. Ich will es ihm selbst sagen, zusammen mit meiner Frau.«
Verlain nickte. »Wir würden dann anschließend gern mit ihm sprechen. Wir werden später noch einmal vorbeikommen.«
Derval drehte sich wortlos um.
Nachdem der Werkstattbesitzer im Haus verschwunden war, wandte Etxeberria sich an Luc. »Wir sollten jetzt diesen Hakim unter die Lupe nehmen, am besten, wir nehmen ihn mit aufs Commissariat. Und heute Abend kommen Sie mit Anouk noch mal hierher und vernehmen den Bruder, und Hugo und ich reden mit Spurensicherung und Gerichtsmedizin. Oder wollen wir wieder alles zusammen machen wie bei einem Schulausflug?«
Verlain überhörte die tumbe Ironie. »Nein, das ist in Ordnung. Hier ist es sicher spannender als in Bordeaux’ Katakomben. Dann mal zur Familie Tadjiane.«
Etxeberria ging los, Luc hinterher.
Der Pariser Kommissar ergriff das Wort: »Anouk und ich werden uns heute Abend dann auch um die Briefe kümmern.«
Etxeberria antwortete abfällig: »Jetzt schauen wir uns erst mal den Tatverdächtigen an, und wenn es noch nötig ist, können Sie ja das Liebesgeschreibsel heute Abend mitbringen. Aber ich kläre Morde in der Regel schnell auf. Die Leute hier sind einfach gestrickt, da gibt es keine langen Beweisketten.«
Sie erreichten einen Vorgarten an der Straße, dahinter ein kleiner heruntergekommener Bungalow mit einer blauen Tür. Der Verkehr rauschte vorbei. Es war hässlich hier und laut. Der Staub, den die Autos auf der maroden Straße aufwirbelten, flog durch die Luft und hatte sich über die Jahre in allen Ritzen des Hauses eingefressen. Kein Zweifel, in Brach wohnten nicht die reichen Leute.