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Kapitel 2
ОглавлениеGaston brachte die dampfende Platte zusammen mit einem vor Kälte beschlagenen Glas Muscadet. Die Touristen, die neben Luc saßen, schauten neugierig auf seinen Teller: Waren das etwa heiße Austern, die dort serviert wurden? Die aß man doch eigentlich kalt. Doch der Commissaire kannte das Geheimnis des Restaurants, das schlicht La Plage hieß und direkt hinter dem Strandübergang in Carcans Plage lag. Ganz in der Nähe von dem kleinen Holzhaus, in dem Luc aufgewachsen war. Es waren die gratinierten Austern aus dem Bassin d’Arcachon. Ein Geheimrezept. Natürlich konnte man sie hier auch roh und kalt essen, nur mit Zitrone und Schalottenessig. Aber es gab eben auch dieses Gericht, das Luc seit Kindertagen kannte: Die Austern wurden ganz vorsichtig geöffnet, sodass das Meerwasser drinnen blieb. Dann kam mit geheimen Kräutern gewürztes Eigelb und Lauch dazu, einige Frühlingszwiebeln und darüber Gruyère aus Savoyen. Ab in den Ofen – und nach fünf Minuten wurden die Austern serviert: eine kulinarische Sensation. Tief in der Schale waren sie noch fast roh, ganz oben am Käse verliefen sie zartschmelzend. Und der kalte Muscadet aus der Loire-Region, nördlich von hier, war an diesem warmen Tag eine Offenbarung, sogar schon jetzt zur Mittagsstunde.
Luc ging nicht davon aus, heute noch mal arbeiten zu müssen. Nachher würde er nach Arcachon ins Hôpital fahren und dann früh ins Bett gehen, nach der langen Fahrt am Morgen. Sein Blick fiel auf die hohe Düne, hinter der der weiße Sandstrand lag. Die kilometerlangen Strände waren wie eine Landmarke für das Aquitaine, die gesamte Küste bis hinunter ins Baskenland, breit und ausladend. Und an der Küste brachen sich die heftigen Wellen, ein Paradies für Surfer und Wellenreiter.
Der Ort am Fuße der Düne war klein, vielleicht fünfzig alte Häuser, dahinter im Pinienwald der riesige Zeltplatz Camping de l’Océan neben den Holzhäusern der reichen Pariser, die im Sand der Wälder auf Stelzen standen. Im Winter war Carcans Plage wie ausgestorben. Dann lebten hier nur wenige Familien, Fischer, Seeleute und ein paar hängengebliebene Wellenreiter, die alt geworden waren. Sie rückten eng zusammen, liehen sich gegenseitig Lebensmittel, wenn etwas knapp wurde, denn Bäcker, Fleischer und Supermarkt waren nur jetzt im Sommer geöffnet. Es konnte ganz schön einsam werden, wenn draußen der Dezembersturm tobte, wenn die Gischt des Atlantiks es an manchen Tagen über die Düne schaffte. Luc hatte auch diese Tage immer geliebt. Die langen Winter. Die Alteingesessenen bevorzugten diese Zeit, bevor es dann im April wieder voller wurde, bis sich im Juli die Einwohnerzahl von Carcans Plage mal eben verhundertfachte. Wenn in den kleinen Surferbars jede Nacht gefeiert wurde, im Mascotte de l’Océan morgens die Crêpes vorgebacken wurden, um sie den Touristen den ganzen Tag über als frisch zu verkaufen, und sich bei der Gaststätte Chez Heidi, die einer deutschen Auswanderin gehörte, der Jambonneau im Grill drehte, der riesige Schweineschinken nach deutschem Vorbild. Dann war es hier wie im Nachbarort, dem Surfermekka Lacanau-Océan. Nicht ganz so groß, aber ebenso voll.
Hier wollte Luc nun wohnen, in dem Holzhaus seines Vaters in der Avenue des Dunes. Seitdem sein alter Herr im Krankenhaus war, stand die Cabane ohnehin leer, also konnte der Kommissar genauso gut hier schlafen statt in einer kleinen Wohnung in Bordeaux. Die vierzig Minuten Fahrzeit ins Commissariat waren mit dem alten Jaguar kein Problem. Hier würde er viel besser zur Ruhe kommen als in einer Stadtwohnung. Sich erholen vom Stress der letzten Monate. Nachdenken über sich und seine Beziehungen – über Delphine und die anderen Frauen der letzten Jahre. Und er freute sich auf lange einsame Strandspaziergänge im Regen. Auch wenn es bis zum nächsten Regen noch etwas dauern konnte.
Bevor er ins Restaurant gegangen war, hatte er seine zwei kleinen Koffer ausgeladen, dazu die Einkäufe, die er aus Paris mitgebracht hatte: einige Flaschen Bier, zwei Flaschen Chablis. Rotwein, Käse und frisches Baguette hatte er vorhin im kleinen Dorfladen gekauft. Er hatte Glück, noch kurz vor halb eins im Laden gewesen zu sein. Danach war nämlich Mittagspause – bis halb fünf. Unglaublich. Luc bevorzugte es, einkaufen gehen zu können, wann es ihm passte. So wie er es aus Paris gewohnt war, und wenn es sein musste, auch erst kurz vor Mitternacht.
Vor der Cabane hatte der alte Landrover Defender seines Vaters geparkt. Immer noch nutzte der Austernfischer den Wagen für alle Besorgungen und auch, um im Austernhafen von Gujan-Mestras, seiner alten Wirkungsstätte, nach dem Rechten zu sehen. Luc hatte lächeln müssen, als er an dem alten Jeep vorbeigegangen war. Als er die abgeblätterte Tür der Cabane aufgeschlossen hatte, war ihm der Geruch seiner Kindheit entgegengeschlagen: von Holz, Fisch und Zigarettenrauch. Drinnen war es dunkel, und Luc hatte die Gardinen aufgerissen. Sofort war grelles Sonnenlicht hereingedrungen. Die Hütte war einfach eingerichtet, wenige Möbel aus Holz, ein altes Bett, der fast altertümliche Gasherd, den Luc so liebte. Es war spartanisch, aber fast penibel sauber. Darauf hatte sein Vater immer viel Wert gelegt, auch nachdem ihn seine Frau, Lucs Mutter, verlassen hatte.
Sein Vater und er hatten zusammen in dieser Cabane gewohnt, doch viel hier gewesen waren sie nicht. Eigentlich waren sie nur zum Schlafen hergekommen, und zum Grillen im kleinen Vorgarten, wenn es frischen Fisch gab, Doraden aus dem Atlantik oder Langusten aus der Vendée. Die meiste Zeit waren sie draußen gewesen, auf dem Bassin d’Arcachon, wo die Austernbänke seines Vaters lagen.
Luc hatte aus dem Fenster gesehen und sich an die endlosen Tage am Strand erinnert: Wie er als braungebrannter Jugendlicher mit seinem Surfbrett die Sanddüne vor dem Haus emporgeklettert war, um an den Strand zu gelangen. Ein einsamer Junge mit nur einem Ziel: dem Meer und allem, was dort auf ihn wartete. Ein anderes Bild überlagerte die Erinnerungen an seine Jugend, doch Luc verdrängte es.
Er saß wieder im Restaurant und aß die Austern. Jede einzelne war ein Genuss. Und jede einzelne erinnerte ihn an seine Kindheit. Irgendwann um seinen vierten Geburtstag herum probierte er sie zum ersten Mal, roh natürlich. Damals fand er sie noch glibberig und eklig. Aber nur wenig später war er mit rausgefahren, auf dem kleinen roten Fischerboot seines Vaters. Hinaus auf den Bassin der Stadt Arcachon, zu den Austernbänken. Dort hatte Luc gesehen, wie viel Arbeit es machte, die Säcke voller Austern einzuholen, bei Wind und Wetter und auch im Winter. An diesem Tag auf dem Boot hatte er die Kost des Meeres schätzen gelernt und am Abend seinen Teller voller Austern aufgegessen. Seitdem waren sie sein Leibgericht. Und als er heute die erste Auster in den Mund steckte, war alles wieder da.
Jetzt war er wieder in der alten Heimat und konnte Austern essen, bis sie ihm zu den Pariser Ohren herauskamen. Er würde die Menschen seiner Kindheit wiedertreffen. Bei Jacques, über dessen Tür immer noch dasselbe abgeblätterte Schild Boulangerie hing, würde er das krosse Baguette à la tradi essen, wie sie in ganz Frankreich das viel leckere tradition nannten. Kaum ein Franzose würde ein klassisches flûte bestellen, dieses weiche labberige Baguette ließen sie für die Touristen übrig. Bei Jacques hatte er schon als kleiner Junge das tradi fürs Familienfrühstück gekauft, und der damals schon alte Mann hatte ihm – wenn er einen guten Tag hatte – noch ein kleines Pain au Chocolat zugesteckt, das nach Butter und Schokolade schmeckte.
Als Erstes hatte Luc aber sein Lieblingsrestaurant aufgesucht. Gaston bewirtschaftete es mit seiner Frau Eveline, einer Deutschen, die in den Siebzigern als Urlauberin hergekommen war, sich in Gaston verliebt hatte und geblieben war. Lucs Vater hatte bei Gaston und seiner Frau nach langen Tagen auf dem Austernboot immer noch einen Absacker getrunken, und Luc war oft dabei gewesen.
Und dann gab es da noch Rod, den Surfbrett-Bauer, mit seinem kleinen Laden in der Ortsmitte, der Luc die ersten Wellen gezeigt hatte. Ein Mann mit wettergegerbtem Gesicht, schon Mitte April braungebrannt. Vom Arbeiten mit den Surfbrettern war seine Haut ganz rissig, aber selbst jetzt mit Ende sechzig war er noch jeden Tag in seiner Werkstatt und verkaufte seine berühmten Boards.
Luc nahm einen Schluck Wein und brach sich noch ein Stück Brot ab, um es in den Sud zu tunken, als sein Handy klingelte. Warum immer beim Essen? Luc sah auf das Display. Der Anruf kam aus dem Commissariat.
»Verlain?«
»Ja, Commissaire, hier ist Anouk, äh, Commandante Filipetti. Könnten Sie kommen? Am Strand wurde eine Leiche gefunden.«
»Wie bitte?«, Verlain zögerte. An seinem ersten Tag eine Leiche? »Hatte Preud’homme nicht gesagt, bei Ihnen ist es ruhig? Hier gibt’s keine Morde?«
»Ja, Sie haben offenbar Arbeit mitgebracht, Commissaire. Es ist am Strand von Lacanau-Océan, einen Kilometer südlich vom Hauptübergang, am Plage Lion. Soll ich Sie abholen?«
»Nein, vielen Dank. Ich bin mit dem Auto in Carcans, ich komme direkt.«
»Dann bis gleich.«
»Merci, Anouk, äh, Mademoiselle Filipetti.« Verlain biss sich auf die Lippe. »Bis gleich.«
»Gaston, kann ich zahlen?«
Der alte Wirt eilte zu ihm auf die Terrasse. Er hatte schon von Lucs Vater gehört, dass der verlorene Sohn wiederkommen würde, aber dass er jetzt wirklich hier saß, war für den Restaurantbesitzer trotzdem etwas Besonderes. Nicht nur, weil Luc nun der Pariser Commissaire war – das galt hier in Carcans Plage gar nicht so viel –, sondern weil er Alains Sohn war, der Sohn des langjährigen Austernlieferanten.
»Was ist los?«, fragte der Mann mit der Stirnglatze und der unvermeidlichen filterlosen Gitanes im Mundwinkel und sah auf den Teller, der noch halbvoll war. »Hat es dir nicht geschmeckt? Seitdem nicht mehr dein alter Herr die Austern liefert, isst du nicht mehr auf?« Das war zwar scherzhaft gemeint, aber die Sorge, Luc könnte vielleicht wirklich etwas zu beanstanden haben, schwang in Gastons Frage mit.
»Gaston«, sagte Luc entrüstet, »wie sollte es mir bei dir nicht schmecken? Ich muss leider zu einem Einsatz, tut mir leid. Ich komme morgen Mittag wieder, und dann erzählst du mir die neuen geheimen Liebschaften des Ortes, ja?«
Gaston lachte. »Gerne, Luc. Und zahlen kannst du auch morgen, aber nur deinen Wein. Für halbvolle Teller kassiere ich nichts.«
Luc lachte, umarmte Gaston und eilte davon. Den Besuch bei seinem Vater würde er heute wohl vergessen können.
Er fuhr den Jaguar vom vollen Parkplatz und beschleunigte in Richtung Ortsausgang. Und dann kam das Bild von vorhin wieder. Jetzt würde er es nicht verdrängen können. Ein blondes Mädchen. Hélène. Jahrelang hatte er versucht, sie aus seinen Gedanken zu verbannen. Und jahrelang hatte er jeden Tag an sie gedacht. Hélène und der Atlantik. Nun würde er sich all dem stellen müssen.
An jedem anderen Tag hätte er für den Weg nach Lacanau die Strecke über die breite Route Nationale gewählt. Aber das hätte zwanzig Minuten länger gedauert. Heute musste es schnell gehen. Kurz hinter dem Ortsausgang von Carcans Plage zog er das Steuer nach rechts und fuhr auf die enge kleine Landstraße nach Lacanau-Océan. Kurvenreich führte sie durch den riesigen Wald aus Seekiefern. Die Sonnenflecken tanzten über die Windschutzscheibe, dazwischen immer wieder die Schatten der hohen Bäume. Draußen schwirrten und zurrten die Zikaden. Luc fuhr das Fenster hoch, er wollte sie nicht hören. Zehn Minuten raste er durch die Kurven, die Augen starr geradeaus. Die Bilder dieses frühen Morgens von vor über zwanzig Jahren drängten sich immer wieder vor sein inneres Auge. Kurz vor Le Huga, bevor der Wald endete, versuchte er krampfhaft, nach links zu gucken. Aber natürlich sah er es. Ein schlichtes Holzkreuz am rechten Fahrbahnrand. Er beschleunigte, und als er endlich auf die Departementstraße 6 bog, atmete er tief durch, ließ das Fenster wieder herunter und sog hektisch die Luft ein. Er fuhr hinein nach Lacanau-Océan. Der Hauptort Lacanau lag einige Kilometer landeinwärts, die Strandorte an der Küste besaßen immer diese Namenszusätze, in Carcans war es »Plage«, hier in Lacanau »Océan«.
Hier war alles sehr viel belebter als in Lucs beschaulichem Heimatdorf. Nachdem in den siebziger Jahren die ersten Surfer Lacanau entdeckt hatten, sprachen sich die guten Wellen und der lange Sandstrand rasch herum, und immer mehr Wellenreiter kamen hierher. Obwohl die Verantwortlichen immer darauf geachtet hatten, dass nicht zu viele hässliche Hotels gebaut wurden, konnten sie die lange Strandpromenade mit viel Beton und Souvenirläden nicht vermeiden. Carcans gefiel Luc besser, aber auch Lacanau hatte seine schönen Seiten. Seit Jahren fanden hier weltweit beachtete Surfwettbewerbe statt, doch auch die alternative Wellenreiterszene war dem Ort treu geblieben. Immer noch kamen in der Vor- und Nachsaison die rostigen Surfbusse aus ganz Europa.
Im Zentrum hatte Luc diesmal keinen Blick für die wunderschöne Bäderarchitektur, die Türmchen und Balkone, die Balken und verschiedenfarbigen Giebel. Er flog am Office de Tourisme vorbei und wurde erst langsamer, als er durch die Fußgängerzone fuhr. Hier setzte er auch sein Blaulicht aufs Dach, um die flanierenden Touristen zu warnen, und klappte die Sonnenblende mit der Aufschrift »Police« herunter. Er parkte das Auto am zentralen Strandübergang, wo schon zwei Gendarmeriefahrzeuge mit blinkenden blauen Lichtern standen. Daneben parkte ein Citroën, offensichtlich ein ziviles Fahrzeug der Police Nationale. Vielleicht war es Anouks Wagen.
Luc ging zur Mauer an der Promenade und sah zum ersten Mal den Strand wieder: den goldenen Sand, das Sonnenlicht, das sich in den kleinen Sandkörnern spiegelte, die ebene Fläche links und rechts, die bis zum Horizont reichte. Und dann das Meer. Die Wellen. In Richtung Norden saßen drei oder vier Surfer draußen im Line-Up und warteten auf ihre perfekte Welle. Sie ahnten nichts von dem Unheil an Land, hatten dort draußen nichts mitbekommen von den Polizeiwagen und der Leiche nur einen Kilometer weiter südlich.
Luc stieg die Treppe hinunter und zog seine braunen Lederschuhe und seine Socken aus. Barfuß war er einfach schneller. Vorsichtig machte er die ersten Schritte im heißen Sand und ging dann rasch hinunter zum Wasser, wo er auf dem festeren Sand besser laufen konnte. Immer wieder trafen kleine Wasserzungen seine Füße. Luc lief schneller, doch es dauerte weitere fünf Minuten, bis er das Absperrband erreicht hatte. Es war eine abgelegene Stelle, weit entfernt vom Trubel. Auch die Häuser des Ortes hatten hier schon aufgehört. Hier auf dem Land hatte die kommunale Polizei die erste Absicherung eines Tatorts vorzunehmen. Luc fiel auf, dass die Gendarmen der Police Municipale, die am Flatterband standen und den Strand bewachten, kugelsichere Westen trugen. Dass seit den Terroranschlägen in Paris offensichtlich auch hier verstärkte Sicherheitsvorkehrungen herrschten, bedrückte den Commissaire. Nur ein einziger Polizist trug ausschließlich sein Uniformhemd. Er war dick und klein und lief behände hin und her. Luc erkannte ihn sofort.
»Stopp, Monsieur, das hier ist ein Tatort. Sie dürfen nicht weiter.« Ein Beamter der Gendarmerie hielt seinen Arm vor das Flatterband, damit Luc es nicht hochnehmen konnte.
Verlain lächelte und zeigte dem beflissenen Kollegen seinen Dienstausweis. »Commissaire Luc Verlain.«
Der Gendarm schaute ihn erstaunt an. »Ist das was für die Pariser Mordkommission?«
»Nein, keine Sorge. Ich habe mich versetzen lassen und bin noch nicht dazu gekommen, meinen Ausweis ändern zu lassen.«
»Verzeihen Sie, Commissaire. Willkommen.«
Der Mann in dem Uniformhemd kam Luc entgegen und rief seinen Namen.
»Lou, Wahnsinn, wie lange ist das her?«
Sie fielen sich in die Arme. Die Wiedersehensfreude war groß, auch wenn sie sich an einem Tatort befanden.
»Zu lange, alter Junge. Hier herrscht schon fast die Prohibition, seitdem du weg bist. Wird Zeit, dass wir mal wieder was trinken gehen.« Luc musste grinsen. Sein Freund Lou sah nicht aus, als wäre er seit seinem Weggang von hier zum Kostverächter geworden. »Ich habe schon gehört, dass du zurückkommst. Der dienstbeflissenste Polizist Frankreichs wurde uns angekündigt. Richard und ich wollten eine Willkommensparty schmeißen.«
»Eine gute Idee. Wir müssen unbedingt bald mal was trinken gehen, mein Lieber. Aber jetzt erzähl mal, was ist hier los?«
»Warte noch kurz, da hinten kommen Etxeberria und sein Team. Mit dieser heißen Filipetti.« Lou lächelte.
Verlain kannte ihn noch aus seinen Anfangszeiten bei der Police Nationale. Sie hatten sich sofort gut verstanden und waren die ganze Zeit über in Kontakt geblieben. Lou wollte damals nichts wissen von den höheren Weihen der Polizei und war ein einfacher Beamter geblieben. Inzwischen war er Chef der Police Municipale in Lacanau und Umgebung. Er verdiente gutes Geld, trug ein wenig Verantwortung und konnte jeden Abend pünktlich zum Essen zu Hause sein. Und seine Frau kochte sehr gut, das sah man ihm an. In Lacanau passierte nichts, ohne dass Lou davon wusste. Er war de facto der Bürgermeister der Gegend und kannte sämtlichen Klatsch und Tratsch. Luc wusste, wie sehr Lou diese Lebensweise schätzte, auch wenn er selbst sich zu Tode gelangweilt hätte, dauerhaft an diesen kleinen Ort gebunden.
»Commissaire Verlain, Sie sind schon hier?« Etxeberria war erstaunt. Seine Stirn lag in Falten, eine heruntergebrannte Kippe klemmte im Mundwinkel. Sein neuer Kollege sah wirklich aus wie eine Karikatur des bösen Polizisten, erst recht hier am Tatort, dachte Luc.
»Ich habe ihn angerufen«, sagte Anouk an Etxeberria gewandt und lächelte Luc zu. Es klang kein bisschen entschuldigend.
»Danke, Anouk, dass Sie unseren Pariser Freund informiert haben.« Jetzt war aus den Falten ein Runzeln geworden, er war miesester Stimmung. »Lou, zeigen Sie uns den Fundort, bitte!« Etxeberrias Aufforderung klang wie ein Befehl.
Sie folgten Lou zu den Männern in den weißen Anzügen, den Gerichtsmedizinern und Kollegen von der Spurensicherung. Die Sonne brannte erbarmungslos auf den Strand. Die Wellen schlugen heftig aufs Land. Der Lärm und das Getöse übertönten die Gespräche der Beamten.
Lou schrie gegen die Wellen an. »Es ist ein Mädchen, 17 Jahre. Ihr Name ist Caroline Derval. Sie kommt aus Brach, Sie wissen schon, dieses Kaff hinter Lacanau. Sie hatte ihren Ausweis dabei. Keine Ahnung, was sie hier hinten am Strand wollte. Es gab ja ein Strandfest gestern Abend, aber das war vorne an der Promenade.«
Luc hörte Lous Erklärungen zu, schaute seine Kollegen an und dachte darüber nach, wie diese Situation auf Außenstehende wirken musste: Da standen sie in ihrer Professionalität und sprachen über einen toten Menschen. Und dann erst fiel der Blick auf den Boden: Dort lag das blonde Mädchen, das Gesicht abgewandt, Blut war auf dem Hinterkopf geronnen. Sie hatte strohblonde, von der Sonne gebleichte Haare. Luc hätte gerne ihr Gesicht gesehen. Dieses große schlanke Mädchen musste eine Schönheit gewesen sein. 17 Jahre … Wie viele Mädchenleichen hatte er im Laufe seiner Karriere schon sehen müssen. In den Pariser Vororten war er an so manchem Tatort gewesen, an dem ihm die Grausamkeit und Banalität des Todes das Blut in den Adern gefrieren ließen. Die Opfer wurden immer jünger. Drogen, Prostitution, häusliche Gewalt. Oder alles zusammen. Und jedes Mal wieder war er aufs Neue geschockt, abgestoßen, voller Mitgefühl.
In Situationen wie hier am Strand von Lacanau krampfte sich immer noch alles zusammen, und er war sich sicher: Wenn das eines Tages aufhören sollte, würde er den Job hinwerfen. Er wollte nicht so sehr abstumpfen, dass er nur noch das Opfer und nicht den Menschen, nur noch den Fall und nicht das tragische Schicksal sah. Auch wenn er versuchte, immer eine professionelle Distanz zu wahren, verfolgten ihn viele seiner Fälle bis in den Schlaf.
Das Mädchen war mit einer schwarzen Lederjacke und einer Jeans bekleidet. Auch an der Jacke waren Spuren geronnenen Blutes zu sehen. Der Anblick war gespenstisch. Immer wieder beugte sich einer der Männer in den weißen Anzügen zu ihr herunter. Und dann drehte einer die Leiche um. In diesem Moment bekam sie ein Gesicht. Ein menschliches. Ein schönes. Sie hatte helle Haut, die Augen waren geöffnet und dunkel. Es lag ein sanfter Zug darauf, keine Wut, kein Entsetzen. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, so als wollte sie eben noch etwas sagen, vielleicht hatte sie auch schreien wollen. Sie war ohne Zweifel eine junge Frau gewesen, die die Blicke auf sich gezogen hatte, ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können.
Etxeberria rief den Gerichtsmediziner heran. Verlain kannte ihn nicht. »Was wissen Sie schon?«
Der Mann sah Etxeberria an, schaute auf die Leiche und trug die bisherigen Erkenntnisse vor: »Sie lag hier am hinteren Teil des Strandabschnitts. Erst vor anderthalb Stunden hat ein Spaziergänger sie entdeckt, sein Hund ist hier hoch bis fast zur Düne gerannt. Sie ist seit Mitternacht tot, ungefähr. Erschlagen mit einem stumpfen Gegenstand, vielleicht einem Stein. Den Schädel muss ich mir in der Pathologie mal genauer anschauen.«
»Ist sie vergewaltigt worden?«, wollte Etxeberria wissen.
»Ziemlich sicher nicht am Fundort, sie war vollständig bekleidet. Aber ganz ausschließen kann ich es nicht. Ich rufe Sie später an, sobald ich Genaueres weiß.«
Der Gerichtsmediziner nickte den Polizisten zu und ging in Richtung Absperrung. Die Mitarbeiter der Spurensicherung suchten im Sand nach weiteren Hinweisen.
Verlain wandte sich an Etxeberria: »Ein junges Mädchen, bekleidet am Strand, erschlagen mit einem Stein. Klingt nach Affekt, nach Beziehungstat, oder?«
Etxeberria nickte. Die erste Einigkeit. Die Professionalität war in so einem Moment größer als der Wille zur Profilierung. Sie sahen auf die Leiche und auf das Blut am Hinterkopf. Eine Menge Blut. Es musste eine große Wunde unter den blonden Haaren sein.
»Da hat ihr jemand den Schädel ziemlich brutal eingeschlagen«, sagte Anouk. »Muss eine furchtbare Wut gehabt haben.«
Verlain drehte sich weg, nahm aus seiner Tasche eine Schachtel Parisienne und zündete sich eine Zigarette an. Parisienne würde er hier unten wahrscheinlich gar nicht in jedem Tabac kriegen, dachte Verlain, und stöhnte innerlich auf. Dann würde er zurückwechseln müssen auf Gauloises rouge, ärgerlich. Er blickte aufs Meer. Es war merkwürdig. So viel Leid, so viel Vergänglichkeit, an einem so schönen Ort.
Ein Mitarbeiter der Spurensicherung erhob sich und hielt ein Streichholzpäckchen in der Hand. »Das hier hatte sie bei sich. Außerdem ihr Portemonnaie mit ihrer Carte d’Identité, ihrer Carte Bleue und zehn Euro.«
Das Streichholzheftchen war bedruckt mit Werbung für Le Garage de Brach, die Werkstatt in dem kleinen Dorf. Luc kannte sie sogar. Er erinnerte sich, dass in Brach höchstens 500 Menschen wohnten, wenn überhaupt. Und nun war einer aus ihrer Mitte tot. Eine furchtbare Nachricht für alle dort. Alle bis auf denjenigen, der vielleicht etwas damit zu tun hatte, der wusste, was in den schicksalhaften Stunden, Minuten oder gerade mal Sekunden hier am Meer geschehen war.
»Untersuchen Sie alles auf Fingerabdrücke und schauen Sie nach, ob Sie noch irgendwas am Strand finden. Wenn es nicht mit dem Spaten geht, bestellen Sie einen Bagger, ich will alles finden, was es hier gibt.«
Etxeberrias Ton war harsch. Luc war erstaunt, dass die Kollegen das mit sich machen ließen. In Paris würden sie diesen Ton nicht durchgehen lassen. Bei der Pariser Police Nationale war in den letzten Jahren die Erkenntnis gereift, dass Chefs und Mitarbeiter eng zusammenarbeiten müssen, ohne steile Hierarchien. Das half sehr bei Extremsituationen. Doch hier im Aquitaine galt offenbar noch der alte Kasernenton, der eher zur Gendarmerie passte.
»Wir müssen die Eltern benachrichtigen«, fuhr Etxeberria fort. »Das machen wir beide zusammen, Filipetti.«
Sofort trat eine peinliche Stille ein. Luc drehte sich zu Etxeberria um und schaute ihm in die Augen.
»Das denke ich nicht, Commissaire, bei allem Respekt. Wir sind gleichgestellt, wie Sie heute Vormittag richtig bemerkten. Und natürlich werden wir alle nach Brach fahren. Filipetti und Pannetier können bei den Nachbarn klingeln, und wir informieren die Familie. Schließlich ist das unser einziger Anhaltspunkt. Und alle Ermittlungen werden genau dort beginnen, wenn die Spurensicherung hier nichts weiter herausfindet. Ich bitte Sie um etwas mehr Kollegialität.« Er korrigierte sich: »Nein, ich bitte Sie nicht darum. Ich erwarte sie.«
Etxeberria wollte etwas erwidern, besann sich dann aber und murmelte nur irgendetwas Unverständliches in seinen Oberlippenbart. Dann drehte er sich um und stapfte den Strand entlang Richtung Parkplatz. Luc hätte es an dieser Stelle nicht eskalieren lassen müssen, aber er wollte es. Er wollte von Anfang an zeigen, dass er sich auf eine gute Zusammenarbeit gefreut hatte, aber im Zweifel auch eine Rivalität annehmen würde.
Anouk lächelte Verlain an. »Nehmen wir Ihren Wagen«, sagte sie. »Meinen bringt die Gendarmerie zurück nach Bordeaux.«
Luc war nur kurz verwundert über ihre forsche Art. Es war keine Frage gewesen, sie hatte für sie beide entschieden. Luc gefiel das sehr. Sie gingen den Weg zur Strandpromenade gemeinsam. Luc warf noch einen Blick auf die Surfer und stieg dann die Treppe in den Ort hinauf. Dort waren noch die Stände vom Strandfest am Vorabend aufgebaut.
Anouk zeigte auf Lucs Jaguar. »Ich wusste ja, dass man in Paris bei der Police Nationale nicht schlecht verdient, aber dass es so gut ist …«, sagte sie lachend.
Luc stieg ein, und Anouk setzte sich neben ihn.
»Der hat einfach nur ideellen Wert für mich. Ich war nach der Ausbildung zwei Monate in London bei Scotland Yard und habe da unglaublich viel gelernt«, sagte der Commissaire. »Und danach habe ich ihn mir gekauft. Er fährt wie ein Schiff, einfach immer majestätisch geradeaus.« Anouk lächelte und strich über das Armaturenbrett aus echtem Holz. »Und ich wollte nie ein französisches Auto fahren. Diese neumodischen Plastikkisten, die mir vorschreiben, wann ich mich anschnallen und wie ich die Spur halten muss«, ergänzte Luc.
»Oh ja, das verstehe ich. Mein Dienst-Citroën macht mich auch wahnsinnig.«
Sie lächelten sich an. Es tat gut, nur ein wenig zu plaudern, nach diesen Bildern vom Strand, die sich bei beiden ins Gedächtnis gebrannt hatten. Alles, was ihnen jetzt bevorstand, würde noch belastend genug werden. Aussagen, Lügen, Geständnisse.
»Etxeberria ist unglaublich«, sagte Anouk, nachdem sie eine Weile schweigend gefahren waren. »Da hat man einen Mord im Jahr, der Fragen aufwirft, und dann benimmt er sich so. Sie hätten ihn mal erleben sollen, als uns gesagt wurde, dass Sie kommen.«
Verlain schaute nicht zu Anouk, sondern richtete den Blick weiter auf die Straße, wo sich die Sonne auf dem Asphalt spiegelte.
»Ich kann ihn schon ein bisschen verstehen. Wenn man mir jemand vor die Nase setzen würde, wäre ich auch sauer.«
»Ein bisschen Ehrgeiz ist ja ganz gut, aber er übertreibt es einfach. Fachlich ist er toll, aber warum dieser Übereifer? Wir wollen doch alle das Gleiche: Diesen Typen kriegen, der das getan hat.«
»War es ein Typ?«, fragte Luc, erstaunt über Anouks plötzlichen Ausbruch.
Sie schwieg und sah starr geradeaus durch die Windschutzscheibe. Sie dachte nach. Sagte nichts.
»Ich kenne Etxeberria gar nicht aus meiner Zeit in Bordeaux. Wo kommt er her?«, durchbrach Luc die Stille.
»Er war vorher in Biarritz. Da war er sogar der Boss des ganzen Commissariats. Irgendetwas ist dann dort vorgefallen, mit korrupten Beamten und Schutzgeld. Das war vor sechs Jahren. Es gab Ermittlungen gegen ihn, und er wurde hierher versetzt. Aber ich bin ja auch erst vor einem knappen Jahr gekommen, da hatte er sich schon ein bisschen mit der Situation arrangiert.«
»Haben Sie was dagegen, wenn ich eine rauche?«
»Nein, kein Problem«, antwortete Anouk. »Ich nehme auch gerne eine.«
Wieder zwei Parisienne weniger.
Sie fuhren schweigend raus aus Lacanau in Richtung Brach. Minuten später flogen sie förmlich die kerzengerade Straße entlang, erst die Umgehungsstraße von Lacanau und dann die Departementstraße durch die dichten Pinienwälder. Luc genoss das Tempo. In Paris brauchten sie immer ewig zum Einsatz. Selbst mit Blaulicht auf der Busspur stand man mehr, als man fuhr.
Brach lag etwas abseits vom Meer, auf halber Strecke Richtung Bordeaux. Die Sonne verschwand nun manchmal hinter kleinen Schönwetterwolken.
Anouk sprach in die Stille. »Ist es nicht wunderschön hier?«
Luc brummte. »Ja, es ist schön. Aber auch eng.«
Anouk schaute ihn von der Seite an. »Sie kommen von hier, oder? Sie sehen gar nicht mehr das Grün der Bäume und diesen Kontrast zur Sonne und zum Strand …«
Luc sah auf. Er überlegte. »Doch, ich sehe es … Aber ich hatte es wohl vergessen.« Er wunderte sich über seine Worte. Und doch besagten sie genau das, was er vorhin empfunden hatte, als er in Lacanau-Océan oben auf der Promenade die Wellen gesehen und seine Nase in den Wind gestreckt hatte. Dieser Blick. Unter seinen Füßen der weiße Sand. Dann die Bäume, kilometerweit das Grün, und dieser Himmel. Ein Blau, das es nur am Atlantik gab. Und dann hatte Luc durchgeatmet. Und wieder Luft bekommen. Als ob er jahrelang nicht mehr richtig geatmet hatte. Dass er sich gegenüber der neuen Kollegin nun so öffnete, überraschte ihn selbst.
Anouk lächelte ihn unverwandt an. »So ist das, Commissaire. Ich bin in Nizza aufgewachsen und habe die Promenade des Anglais jahrelang als furchtbare Touristenstraße gesehen – bis ich lange Zeit nicht mehr da war. Eines Tages bin ich zurückgekehrt und habe das Wunder dieser Bucht wiedergesehen. Und gespürt. Und dann war es um mich geschehen. Alles war gut.«
Luc stutzte. Sie hatte etwas gesagt, das auch ihm gelegentlich über die Lippen kam. Diese Wendung aus ihrem Mund. Er erinnerte sich oft an Momente, an Augenblicke, bei denen sich seine Stimmung oder seine Sicht auf die Welt so änderte, dass auf einmal alles gut war. Und jetzt sagte diese hübsche Frau genau diese Worte. Luc sah kurz zu ihr hinüber, erstaunt und still. Sie schaute ihn aus ihren braunen Augen an, dann blickte sie wieder nach vorn.
Luc war überfordert von der Nähe, die so plötzlich zwischen ihnen entstanden war – und gleichzeitig war er überfordert damit, überfordert zu sein. Er wechselte rasch das Thema.
»Wie ist eigentlich Hugo Pannetier so? Er wirkt sehr cool.«
»Das ist er. Ein ruhiger Typ, aber sehr sympathisch. Etxeberria versucht, glaube ich, ihn auf seine Seite zu ziehen. Aber auch wenn Hugo eben mit ihm mitgefahren ist – instrumentalisieren lässt er sich nicht.«
»Das ist gut. Da sind wir, Mademoiselle, willkommen in Brach.«
Als Verlain aussteigen wollte, hielt Anouk ihn am Arm fest: »Ah, Luc … Nennen Sie mich Anouk.«
Verlain drehte sich zu ihr um. »Gern, Anouk.«
Er spürte ihre Berührung noch, als er schon längst auf der Straße von Brach stand.