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Kapitel 4

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»Oui?«

Luc schätzte die Frau, die ihnen die Tür öffnete, auf Ende vierzig, aber sie sah sehr verlebt aus. Das Haar war schon ergraut, die Falten waren tief. Sie hatte dicke Tränensäcke. Das Leben hier hatte ihr wohl zugesetzt. Auch wenn der Südwesten immer liberaler gewesen war als die Provence oder der Norden Frankreichs – hier in den kleinen Dörfern gab es viele, die rechten Ideen nachhingen und an den Lippen von Marine Le Pen und dem Front National hingen. Da hatte es eine alleinerziehende Algerierin nicht leicht. Erst recht nicht, wenn sie einen kleinkriminellen Sohn hat. Luc hatte von den Kollegen aus dem Commissariat eben Hakim Tadjianes Vorstrafen und Akteneinträge zugemailt bekommen: Einmal Raub, dreimal Diebstahl, zweimal leichte Körperverletzung.

Verlain ergriff das Wort: »Madame Tadjiane?«

»Ja, die bin ich. Sind Sie von der Polizei?«

Sie kannte das schon.

»Ja, Madame, wir sind vom Commissariat in Bordeaux. Ist Ihr Sohn zu Hause?«

»Hakim? Nein, er ist nicht da, er ist an der Strandpromenade von Lacanau-Océan. Trifft sich dort mit Freunden. Hat er was ausgefressen?«

Ihre Sorge erregte Lucs Mitleid. Er wollte sie nicht anlügen.

»Es gab einen Mordfall in der Nähe, Madame. Und wir würden gerne ausschließen, dass Ihr Sohn etwas damit zu tun hat.«

»Mord? Mein Hakim?«

Verlain hatte Tränen erwartet, doch Madame Tadjiane machte es wie jede Mutter: Sie stellte sich wie eine Löwin vor ihr Kind, um es zu schützen.

»Mein Hakim? Unmöglich. Der ist sicher nicht der Artigste, aber Mord? Außerdem ist er fast immer hier. Wann soll das denn gewesen sein? Er war doch hier, mein Junge.«

»Madame Tadjiane, bitte beruhigen Sie sich. Wo war Ihr Sohn denn gestern Abend?«

Sie wurde still und überlegte. Dann schossen ihr die Tränen in die Augen. »Ich weiß es nicht … Ich war auf dem Strandfest in Lacanau. Ich habe dort ein bisschen gearbeitet. Er war hier, als ich ging. Aber danach? Ich weiß es nicht. Aber mein Hakim hat niemanden umgebracht. Sicher nicht.«

Verlain konnte sich lebhaft vorstellen, was Hakim für ein Junge war. Viele der Jugendlichen, die unten in Lacanau rumgingen, waren Gelegenheitsverbrecher, die den Touristen die Brieftaschen stahlen. Dass Hakim mehr auf dem Kerbholz hatte, zeigten seine Vorstrafen. Aber ob so ein Junge zu einem Mord fähig war? Madame Tadjiane rührte Verlain an. Natürlich nahm sie ihren Jungen nur in Schutz, aber es war irgendetwas an ihr, das ihm sehr ehrlich vorkam.

»Könnten wir sein Zimmer sehen? Natürlich bräuchten wir einen Durchsuchungsbefehl, aber es würde Ihren guten Willen zeigen, wenn Sie uns bei unserer Arbeit helfen.«

Sie überlegte nur kurz. »Kommen Sie, schauen Sie einen Moment hinein, vielleicht hilft es Ihnen.«

Sie folgten Madame Tadjiane schweigend die Treppe hinauf. Es war ein kleines ärmliches Haus mit unverputzten Wänden und billigen Möbeln. »Draußen bleiben« forderte ein Schild an der Tür von Hakims Zimmer, ein Hinweis, den Teenager immer gern gebrauchten, um ihr Zimmer zur feindlichen Sperrzone zu erklären. Die Mutter ignorierte den Zettel und öffnete die Tür. Drinnen herrschte das totale Chaos. Klamotten sammelten sich auf dem schäbigen PVC-Boden, an den Wänden hingen abgewetzte Poster nordafrikanischer Rapgruppen und nackter Frauen. Luc glaubte, ein britisches Boxenluder wiederzuerkennen. In der Ecke standen ein alter Computer, zwei Schränke mit abgeplatztem Furnier und ein Sessel mit braunem Bezug.

»Madame Tadjiane, könnten wir einen Blick in Ihren Wäschekorb werfen?«

»Natürlich, ich habe nichts zu verbergen.« Sie führte sie in das kleine, braun gekachelte Badezimmer. Etxeberria suchte im Korb, fand aber wiederum nichts, was ihnen helfen könnte.

»Wissen Sie noch, was Ihr Sohn gestern anhatte?«

»Ja, ein T-Shirt und eine Jeans. Das liegt beides noch in seinem Zimmer. Wollen Sie die Sachen mitnehmen?«

»Das wäre sehr gut, Madame. Dann können wir viel schneller ausschließen, dass Ihr Sohn etwas mit dem Mord zu tun hat.«

»Wer wurde denn ermordet? Wir sind so ein kleines Dorf. Wo könnte denn der Verdacht auf meinen Jungen … nein, nein, es ist nicht … Ist etwa der kleinen Derval was passiert?«

Luc und Etxeberria sahen sich schweigend an, dann nickte Etxeberria. »Ja, Caroline Derval ist getötet worden.«

»Nein, das darf nicht sein«, schluchzte sie. »Mein armer Hakim. Der hat sie so gern gehabt, sie haben von Kindesbeinen an miteinander gespielt. Das darf nicht sein. Er hätte ihr nie etwas antun können.« Sie wischte sich sofort wieder die Tränen aus den Augen und sah die Polizisten an.

»Wie war die Beziehung zwischen Caroline Derval und Ihrem Sohn, Madame?«, fragte Luc.

»Wie gesagt, sie kennen … sie kannten sich schon sehr lang. Und in der Schule war Hakim sehr verliebt in sie. Das habe ich gemerkt. Wir reden nicht darüber, er ist sehr verschlossen, aber ich habe es mir gedacht. Und sie haben sich auch öfter getroffen. Seit ein paar Monaten ist das aber vorbei. Irgendwie hatte sich Caro auch verändert, ich kann es nicht beschreiben.«

Hakims Mutter wusste mehr über die Beziehung der beiden Teenager als der Stiefvater des Mädchens, offenbar hatten sie sich doch nähergestanden, dachte Luc.

»Das heißt, der Kontakt zu Caroline hat sich in letzter Zeit verändert?«

»Ja, das hatte er«, sagte sie und schaute in dem kargen Wohnzimmer umher, als suche sie an der abgerissenen Tapete nach ihren Erinnerungen. »Sie haben sich nicht mehr gesehen, und Hakim war sehr traurig, wütend. Sie hatte sich verändert. Sie lief durch die Straße und hatte die Nase oben, verstehen Sie? Sie wirkte, als gehöre sie nicht hierher. Als wäre ihr das hier alles eine Nummer zu klein, als wäre sie jetzt jemand Besseres. Sie hatte sehr teure Sachen an und war immer sehr stark geschminkt. Dabei war sie früher so ein liebes Mädchen …« Sie begann wieder zu weinen.

»Vielen Dank, Madame Tadjiane. Wir möchten Sie bitten, Ihrem Sohn nicht zu sagen, dass wir hier waren.«

Die Frau stutzte. »Warum denn nicht?«

»Wir müssen zuerst mit ihm sprechen und wollen sichergehen, dass er nichts Unüberlegtes tut. Eine Flucht würde ihn noch verdächtiger erscheinen lassen. Verstehen Sie?«

Hakims Mutter nickte.

»Wissen Sie, wo in Lacanau-Océan er sich immer aufhält?«

»Ganz unten am Ende der Promenade, dort, wo der Strand beginnt, da sind sie immer alle. Ich werde ihn nicht anrufen, Commissaire. Ich weiß, dass er unschuldig ist, und das wird er Ihnen auch beweisen können.«

Madame Tadjiane gab ihnen noch das T-Shirt, ein Retro-Shirt mit einer »71« drauf, und eine Stone-washed-Jeans.

»Danke für Ihre Hilfe, Madame«, sagte Verlain, und Etxeberria fügte hinzu: »Sie hören von uns.«

Als sie zu den Autos zurückgingen, sagte Etxeberria: »Commissaire Verlain, ich würde jetzt gerne diesen Hakim festnehmen und die Klamotten in die Spurensicherung bringen. Was schlagen Sie vor?«

»Wir sollten ihn nicht festnehmen, sondern freundlich einladen. Ansonsten sehe ich es wie Sie. Bei der Vernehmung wäre ich aber gern dabei.« Etxeberria grummelte nach dieser Belehrung, nickte aber. »Dann sammle ich jetzt Anouk ein, und wir fahren noch zu der Freundin von Caroline«, entschied Luc.

»Oh, Sie stehen schon auf Du und Du? Das ging schnell.«

»Wir sind doch ein Team, Commissaire«, sagte Luc und wartete kurz, um die Wirkung seiner Worte abzuwarten. Als Etxeberria merklich schluckte, verabschiedete sich Luc.

Etxeberria rief ihm noch hinterher: »Ich glaube, wenn wir Hakim haben, haben wir unseren Mann.«

Etxeberria ging auf Hugo und Anouk zu, die ihnen entgegenkamen, winkte den jungen Mann zum Auto und stieg auf der Beifahrerseite ein. Hugo setzte sich hinters Steuer, und sie fuhren los.

Anouk und Luc schauten dem Wagen hinterher.

»Der ist sich aber sehr sicher«, sagte Verlain und umriss mit kurzen Worten die letzte Stunde.

Anouk und Hugo hatten einige Nachbarn befragt, aber nicht viel herausbekommen. Alle kannten Caroline und waren bestürzt über ihren Tod, wussten aber nichts über mögliche Liebschaften. Oder wollten nichts sagen. Das Ansehen der Polizei war hier nicht sehr hoch, genauso wie die Bereitschaft, mit Fremden zu sprechen.

»Fahren wir also zu Anne-Françoise.«

Luc lenkte den Wagen wortlos die zwei Kilometer bis in den kleinen Ort kurz vor der Küste. Es war vier Uhr, die Sonne brannte immer noch heiß vom Himmel, der mit Schäfchenwolken gespickt war. Sie hielten in der kleinen Straße im Zentrum des Dorfes und stiegen aus. Sie war von der breiten Hauptstraße an der gotischen Kirche Saint-Vincent abgegangen, rundherum standen die alten Backsteinhäuser, als würden sie den Weg zum Gotteshaus weisen wollen. Alte Seekiefern spendeten Schatten, und in den Vorgärten der meisten Häuser waren die Büsche ordentlich gestutzt. Lacanau wollte etwas hermachen, und einen der ordentlichsten Vorgärten hatte das Haus der Familie Dupuy. Verlain rümpfte über die »Schönstes Dorf des Aquitaine«-Mentalität die Nase, und Anouk grinste, weil sie seine Gedanken erriet.

Luc läutete, und wenige Augenblicke später öffnete eine hübsche Frau mittleren Alters, die genauso aussah wie ihr Vorgarten: So gepflegt, als würde sie auf die Jury für die »Schönste Frau in mittleren Jahren im Aquitaine«-Wahl warten. Anouk musste beinahe wieder grinsen, besann sich dann aber, weil sie wusste, dass sie an diesem Tag noch oft die traurige Nachricht vom Tod des Mädchens überbringen mussten.

»Guten Tag, Madame, Sie sind die Mutter von Anne-Françoise Dupuy?«, fragte Anouk.

»Ja, das bin ich. Charlène Dupuy. Und wer sind Sie, bitte?«

»Ich bin Anouk Filipetti, und das ist Luc Verlain. Wir kommen vom Commissariat in Bordeaux und würden gerne mit Ihrer Tochter sprechen.«

»Worum geht es denn?«

»Das erklären wir Ihnen später, vorher möchten wir mit ihr selbst reden.«

Die Frau führte die beiden in ihr Haus. Luc sah sich um. Die Inneneinrichtung stand dem Äußeren des Hauses in nichts nach, auch hier wurde die Aquitaine-Mentalität in Perfektion gelebt: Der Flur hing über und über voll mit maritimen Gegenständen – doch nicht solche, die echte Fischer besaßen und auch in der Hütte von Lucs Vater hingen, sondern der ganze teure Krimskrams aus dem »Schöner-Wohnen«-Laden: Ein neues beiges Fischernetz, der unvermeidliche rot-weiße Rettungsring, bedruckt mit dem gelben Löwen von Aquitaine, dem Wappentier der Region, nach Richard von Löwenherz. Auf den Fensterbänken und Schränken lagen Muscheln und glänzten in der Sonne, die durch die großen Fenster hereinschien, und schrien fast die Spießigkeit heraus, die Luc hier in jedem Haus an der Küste erwartete.

Im ersten Stockwerk klopfte Madame Dupuy an eine Zimmertür, ehe sie sie öffnete. »Anne? Hier sind zwei Polizisten, die gern mit dir sprechen würden.«

Anouk und Luc betraten hinter der Mutter den Raum und standen einem Mädchen gegenüber, das ganz anders aussah, als sie erwartet hätten. Anne-Françoise Dupuy wirkte wie eine elegante Latina. Sie war nicht sehr groß und hatte einen dunklen Teint und ein hübsches, feingeschnittenes Gesicht. Die Augen leuchteten intelligent in einem strahlenden Braun, und sie lächelte die beiden Polizisten an, fragend, aber offen und einladend. Madame Dupuy ließ die drei allein.

»Bonjour, Mademoiselle.«

»Bonjour. Was ist denn passiert?«

Anouk atmete kurz durch. »Mademoiselle, wir haben eine sehr traurige Nachricht für Sie.«

Dann brach sie ab, und Luc spürte ihr Zögern. Er sprach weiter. »Caroline Derval, Ihre Freundin …«

Anne fiel ihm sofort ins Wort. »Caro? Was ist mit Caro? Ist ihr was passiert?«

Luc nickte. »Ihre Freundin ist tot. Sie ist letzte Nacht ermordet worden. Es tut uns sehr leid.«

Anne-Françoise sah erst zu Luc und dann zu Anouk, dann schaute sie aus dem Fenster, als erwarte sie, dass dort draußen, wo die Sonne schien und die Autos durch die baumgesäumte Straße fuhren, das Leben anhalten würde.

»Das geht nicht.« Dann schaute sie wieder Luc an, herausfordernd, so als könne er die schlechte Nachricht zurücknehmen. »Das kann nicht sein. Gestern Abend war sie doch noch da, und sie war so fröhlich, endlich wieder. Sie kann nicht … Sind Sie sicher?«

Luc schaute kurz zu Anouk, sie verstand und sagte: »Ja, wir sind uns sicher, Mademoiselle. Es tut uns leid.«

»Wie ist sie … Hatte sie Schmerzen?«

»Das können wir noch nicht sagen«, sagte Verlain, der ehrlich sein wollte. »Sie ist noch in der Gerichtsmedizin.«

Anne-Françoise schluckte und unterdrückte krampfhaft die Tränen.

»Können wir Ihnen ein paar Fragen stellen?«

»Ja, können Sie, aber … wurde sie vergewaltigt?«

»Auch das können wir noch nicht mit Gewissheit sagen, bisher gehen wir aber nicht davon aus.«

Anne-Françoise nickte.

»Sie haben eben gesagt, dass Caroline endlich wieder fröhlich war. Was haben Sie damit gemeint?«

Das Mädchen sah erneut aus dem Fenster auf den im Wind wankenden Baum und schaute dann in die Ferne. Als sie antwortete, wirkte sie gefasst, doch in ihrer Hand zerdrückte sie gleichzeitig das Kissen, das vor ihr auf dem Bett lag.

»Sie wirkte wieder glücklich. Ich weiß auch nicht. Es ging drunter und drüber bei ihr in der letzten Zeit. Sie wollte dazu nichts sagen, das war merkwürdig. Sonst hat sie mir immer alles erzählt, aber in den letzten Wochen war sie irgendwie verschlossen.«

»War sie unglücklich verliebt?«, fragte Anouk.

Anne-Françoise floss eine Träne über die Wange. Schnell wischte sie sie mit dem Handrücken weg. Luc war erstaunt, wie tapfer und reif dieses Mädchen war.

»Ich hatte eher das Gefühl, sie war glücklich verliebt. Sie müssen wissen, Caro war sehr erfahren, sie war ja so hübsch. Alle Jungs standen auf sie. In der Schule die Mitschüler, am Strand die Touristen. Und sie spielte damit. Seitdem sie vierzehn war, trug sie knappe Bikinis und kurze Röcke. Sie mochte Jungs. Viele Jungs. Verstehen Sie, was ich meine? Sie hatte immer so viel Spaß am Leben und … na ja, eben auch an Jungs. Sie flirtete rum und verliebte sich gerne.«

»In wen war sie denn zuletzt verliebt? Wir haben gehört, sie hatte eine Beziehung mit Hakim Tadjiane?«

Anne-Françoise schaute Luc kurz an und lächelte für einen Moment. »Nein, das war lange vorbei. Sie wollte hier raus. Da konnte sie doch keine Beziehung mit Hakim führen. Die waren mit fünfzehn zusammen. Wenn man das so nennen kann. Da hat sie alles gelernt, und Hakim hat alles von ihr gelernt. Sie haben sich geküsst und so. Und dann hat sie ihn sehr schnell verlassen. Er war immer noch hinter ihr her, hat ihr Briefe geschrieben und so. Hat ständig angerufen.«

»Können Sie sich vorstellen, dass er etwas mit diesem Mord zu tun hat?«

»Hakim? Nein, der ist zwar nicht der Klügste, und er macht auch echt komisches Zeug, aber das kann ich mir nicht vorstellen. Der war so verliebt, der hätte Caro niemals wehgetan. Der hätte jeden verprügelt, der ihr zu nahe kommt.«

»In wen war sie denn dann verliebt?«, wollte Anouk wissen.

»Das hat sie mir nicht gesagt, also keinen Namen oder so. Er war älter und hatte Geld, so viel weiß ich. Und er war nicht von hier. Sonst hätte ich ihn gekannt.«

Anouk und Luc schauten sich an, nur einen kurzen Augenblick. Es war seltsam. Sie hatten schon nach kurzer Zeit dieses stumme Einverständnis, das er in seinem Pariser Kollegium erst in jahrelanger Zusammenarbeit aufgebaut hatte. Doch Anouk hatte gleich gemerkt, dass das Gespräch in eine entscheidende Richtung steuerte. Und genau wie er war sie jetzt noch zehn Prozent wacher als ohnehin schon.

»Wie lange kannte sie den Mann? Hat sie Ihnen denn gar nichts erzählt?«

»Vor zwei Monaten oder so hat sie auf einmal Geschenke mit in die Schule gebracht, teuren Schmuck und eine neue Uhr. Da habe ich sie gefragt. Sie hat nur gesagt, dass sie sich endlich jemanden geangelt hat, der ihrer würdig ist. Und nicht so einer wie Hakim, ein Dorftrottel, ein Zuwanderer aus armem Hause. Sie hat sich immer so hart ausgedrückt. Das war ihre Art, auch wenn sie vorher ein bisschen in Hakim verknallt war. Aber mehr hat sie mir nicht gesagt. Sie hatte nicht mehr so viel Zeit für mich. Ich habe natürlich noch oft nachgefragt, aber sie wollte nichts sagen. Sie hat nur erzählt, dass sie es geheim halten, weil sie nicht wollen, dass die Leute reden. Sie hat mir sonst immer alles erzählt. Vielleicht hätte ich …« Sie brach ab, und wieder traten ihr die Tränen in die Augen.

»Machen Sie sich bloß keine Vorwürfe. Wie hätten Sie denn ahnen sollen, dass etwas nicht stimmt?«, sagte Anouk schnell.

Anne-Françoise nahm ein Taschentuch und wischte sich die Tränen ab. »In den letzten Wochen wirkte sie wieder so durch den Wind und war traurig. Da habe ich sie noch mal gefragt, aber sie wollte nichts erzählen.«

»Hatten sie sich getrennt?«, fragte Anouk, und Luc schloss den Mund wieder. Er hatte genau dieselbe Frage stellen wollen.

»Nein, das glaube ich nicht. Das hätte sie mir erzählt. Und gestern Abend war alles gut. Sie wirkte beim Dorffest wieder sehr gelöst. So, als wäre das Problem verschwunden. Sie lachte und sprach von ihrer Zukunft. Und von einem Mann. Dass er der Mann ist, der ihr Leben verändern könnte. Ich glaube, es ist der gleiche wie vor zwei Monaten. Sie hat wieder etwas von einer Reise erzählt, die die beiden geplant hatten.«

Verlain war gespannt. »Wohin wollten sie fahren?«

»Er wollte sie nach Cannes entführen, mit allem Luxus. Übernachten an der Croisette. Das ist für ein Mädchen von hier ein Traum.«

»Dieser mysteriöse Liebhaber scheint ja wirklich Geld zu haben«, sagte Verlain.

»Ja, das war ihr wichtig«, sagte Anne-Françoise. »Aber er muss auch gut aussehen, das war ihr fast noch wichtiger.«

Verlain wartete einen Moment. »Fällt Ihnen noch irgendetwas ein zu dem Mann? Es könnte alles wichtig sein.«

Anne-Françoise überlegte. »Er war nicht von hier, das habe ich ja schon gesagt. Sie war immer in Etappen glücklich, sozusagen. Also denke ich, dass sie sich immer gefreut hat, wenn er hier war. Er hat immer in irgendeinem Hotel geschlafen, und sie war dann nachts oft bei ihm. Ich weiß aber leider nicht, in welchem.«

Anouk und Luc nickten beruhigend, denn Anne-Françoises Stimme war leiser geworden, zitterte, so als wäre ihre Leidensfähigkeit für heute aufgebraucht. Als würde der Schock um den Mord an ihrer besten Freundin nun bei ihr angekommen sein. Beide merkten, dass das Mädchen genug hatte.

»Wir danken Ihnen. Wenn Ihnen noch irgendwas einfällt, rufen Sie uns an?«

Anne-Françoise nickte. Anouk gab ihr eine Visitenkarte vom Commissariat, und sie verließen ihr Zimmer.

»Monsieur?«

Luc drehte sich um. »Ja, Mademoiselle?«

»Können Sie mich anrufen, wenn Sie wissen, ob sie leiden musste? Ich möchte nicht alles über ihren Tod aus der Zeitung erfahren.«

Verlain nickte. »Natürlich, ich melde mich, sobald ich das Ergebnis der Rechtsmedizin habe.«

Verlain wusste, dass er das nicht durfte, aber er wollte für dieses kluge, tapfere Mädchen gerne eine Ausnahme machen.

Auf dem Weg nach Bordeaux schwiegen sie und hingen ihren Gedanken nach. Nach einigen Kilometern erklangen in der Ferne Polizeisirenen, dann kamen ihnen zwei Mannschaftswagen der Sondereinheit CRS entgegen und rasten an ihnen vorbei. Merkwürdig, dachte Luc und sah den Wagen im Rückspiegel nach. Die Sondereinheit hier in der ruhigen Gegend? Hatte das etwas mit ihrem Fall zu tun? Er verwarf den Gedanken wieder. Nach ein paar Minuten durchbrach er die Stille.

»Ein kluges Mädchen.«

»Sie wirkte so furchtbar erwachsen«, entgegnete Anouk, die scheinbar das Gleiche gedacht hatte. »Und diese schreckliche Nachricht macht sie leider noch erwachsener.«

Luc nickte. »Hat sie alles gesagt, was sie über den Typen weiß?«

»Ich glaube schon«, sagte Anouk und bestätigte damit Lucs Eindruck. »Aber was ich spannender finde, ist, dass sie Hakim für unschuldig hält. Sie waren immerhin einige Jahre zusammen auf der Schule, da lernt man sich gut kennen. Und diesem Mädchen traue ich zu, ihn einschätzen zu können.«

»Und auch da glauben wir ihr, oder?«

»Warten wir mal die Vernehmung ab, aber ich glaube auch nicht, dass er es war.«

Luc nickte. »Wir müssen den geheimen Freund des Mädchens finden, bevor er untertaucht.«

Anouks Handy klingelte.

»Filipetti? Ja …?« Anouk hörte zu. »Ja, gut. Verstehe. Danke, Hugo.« Sie legte auf. »Madame Derval hat die Leiche identifiziert. Es ist Caroline.«

Luc nickte wieder.

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