Читать книгу Nur eine Petitesse - Anja Gust - Страница 6

Ein kühner Plan

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Ganze zwei Monate waren inzwischen vergangen, aber Sinas Schwermut ließ nicht nach. Sie begann, den Hof zu vernachlässigen und fand an nichts mehr Gefallen. Immer häufiger musste ihr alter Freund und Nachbar Volker Grimmel unabdingbare Arbeiten übernehmen, da sie stundenlang auf dem Sofa lag und an die Decke starrte. Bisweilen lief sie mit Boy über die Felder und führte sinnlose Monologe. Doch was sie auch tat – sie kam nicht zur Ruhe.

Hierbei war es weniger die Tatsache, jemanden getötet zu haben. Vielmehr quälte sie der Umstand, den dafür Verantwortlichen noch immer auf freiem Fuß zu wissen. Daran änderte auch das abschließende Urteil des Staatsanwaltes nichts, das ihr neben Notwehr und Nothilfe eine große Besonnenheit attestierte.

Wiederholt hatte sie die Beamten darauf hingewiesen und sogar den Namen des Auftraggebers genannt. Da man diese Person jedoch nicht weiter verifizieren konnte (oder wollte), hielt man das für eine Art Wahnvorstellung infolge einer emotionalen Übersteigerung. Dies wäre in Extremsituationen wie der ihren durchaus denkbar. Ein konkreter Verdacht ließe sich daraus jedoch nicht ableiten.

Das war natürlich völlig inakzeptabel und nichts weiter als der untaugliche Versuch, die Sache abzuwürgen. Also zog sie einen renommierten Rechtsanwalt zurate. Zu ihrer Verärgerung schwamm dieser auf gleicher Welle und zeigte von Anfang an kein sonderliches Engagement. Zudem gab er nur spärliche Auskünfte und verschleppte das Ganze, sodass sie sich schließlich selbst einmischte.

Sie studierte Akten, besorgte Informationen und stellte Recherchen an, was ihm gar nicht gefiel. Ihre Eigenmächtigkeiten gefährdeten die Ermittlungen, so sein lapidarer Kommentar. Außerdem schade das ihrer Gesundheit. Sie sähe blass aus und wirke wie ein Nervenbündel, meinte er und empfahl ihr ein gutes Buch oder einen Tapetenwechsel. ‚Quatschkopf‘, dachte Sina und hätte ihm am liebsten in die gerötete Nase gekniffen.

Schon wollte sie sich einen anderen Anwalt suchen. Da sie aber niemandem mehr traute, verwarf sie es gleich wieder. Und doch war ihre Lage jetzt eine völlig andere. Tom hatte ihr sein Schweizer Konto überschrieben. Als sie von der Höhe des Guthabens erfuhr, musste sie sich erst mal setzen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie realisiert hatte, ab jetzt vermögend zu sein.

Handelte es sich doch um einen siebenstelligen Betrag. Zunächst wollte sie davon nichts anrühren und alles einer karitativen Einrichtung spenden. Als ihr Anwalt allerdings zaghaft andeutete, dass Geld Macht bedeutete und geschickt angewandt Wunder bewirken könne, erkannte sie ihre Chance. Selbstverständlich meinte er das in einem anderen Zusammenhang, mehr in ermittlungstaktischer und somit anwaltschaftlicher Hinsicht, löste damit aber ungewollt eine Initialzündung in ihr aus.

Sogleich begann sie, mit ihrem Smartphone zu recherchieren. Noch bevor dieser Advokat etwas begriff, war sie schon aufgesprungen. Aber die plötzliche Idee ließ sie nicht mehr los. Mit wenigen Worten verabschiedete sie sich und versprach diesem alten Fuchs eine Urlaubskarte. Sprachlos starrte er ihr nach.

Nun gab es kein Halten mehr. Sofort begann sie alles Nötige in die Wege zu leiten, angefangen von organisatorischen Fragen über die Weiterführung des Hofes bis zur nötigen Betreuung für Boy. Schweren Herzens brachte sie ihren kleinen Liebling für die nächsten Wochen in die Hundepension nach Bad Bramstedt. Dort wähnte sie ihren Mops in besten Händen und würde sich auch regelmäßig nach ihm erkundigen.

Den Hof überließ sie für die nächste Zeit Volker Grimmel, den sie vorab zu seiner Verwunderung fürstlich entlohnte. „Sei vorsichtig und vergiss nie, dass man auf dich wartet“, waren seine letzten Worte, gefolgt von einer ungelenkigen Umarmung, die sie nur widerstrebend ertrug.

Noch am selben Abend packte sie ihre Koffer, vorrangig mit erlesener Kleidung der neuesten Haute Couture. Allein dafür gab sie ein kleines Vermögen aus. Aber von jetzt an wollte sie nichts mehr dem Zufall überlassen. Sie scheute weder Kosten noch Mühe, um Garderobe, Schmuck und Make-up optimal aufeinander abzustimmen. Alles musste stimmig sein, denn ihr Vorhaben verlangte den perfekten Auftritt.

Standesgemäß gehörte dazu ein angemessenes Automobil. Daher gönnte sie sich einen silbergrauen, topausgestatteten Porsche 991. Mit diesem 450 PS starken Boliden bretterte sie via München, Garmisch und Chur in das schweizerische Engadin. In St. Moritz buchte sie sich für die nächsten vier Wochen im Badrutt’s Palace ein – dem führenden Hotel am Platz.

Zuvor hatte sie ihre Identität geändert und gab sich als Geschäftsfrau Maria Antonelli aus Zürich aus. Unlängst hatte sie sich die Papiere illegal für ein paar Scheinchen besorgt.

In der Tat mangelte es diesem Hotel an nichts. Das Frühstück glich täglich einem Festbankett, dessen Exklusivität höchsten Erwartungen entsprach. Selbstredend sprach man hier nicht über Preise. Man gab sich ‚en vogue‘. Wie von Zauberhand wurden die Türen von Herren in dunklen Anzügen und mit Knöpfen in den Ohren geöffnet. Alle Flure waren mit dunkelrotem Läufer ausgelegt und die goldfarbenen Treppenläufe glänzten im Licht der schweren, kristallenen Kronleuchter. Wer hier logierte, war am Ziel.

Sina beschloss, so schnell wie möglich Nägel mit Köpfen zu machen. Folglich traf man sie allabendlich entweder in einem langen malvenfarbenen Kleid oder einer Designerkollektion im Casino des in der Nähe befindlichen Kempinski des Bains. Dorthin ließ sie sich von einem Chauffeur im hoteleigenen Royce fahren und wurde beim Eintreffen – wie in dieser Preisklasse üblich – von einem Portier mit tiefer Verbeugung empfangen. Da sie durch ihr generöses Trinkgeld bald auffiel, hielt man sie für eine inkognito reisende Aristokratin, um die sich bald erste Gerüchte rankten.

Im Casino erregten neben dem stetigen Treiben vor allem das französische Kartenspiel ‚Trente et quarante‘ und Roulette ihr Interesse. Geschickt mischte sie sich unter die skurrilen Gäste, um deren Gehabe und Denkmuster zu studieren.

Und was war hier nicht alles vertreten: Versnobte Bänker, die in ihrer Flegelhaftigkeit ganz unmöglich waren, alternde Playboys mit ihren aufgetakelten Gespielinnen, bis hin zu exaltierten Damen edler Herkunft, die so viel Blasiertheit an den Tag legten, wie es selbst im ‚Grand Elysee‘ in Hamburg undenkbar wäre – und das will schon etwas heißen.

Das Stimmengewirr an den Spieltischen glich einem unstimmigen Chor. Den meisten Effekt machten dabei diejenigen mit dem größten Gleichmut und der meisten Nonchalance: Wer selbst bei immensen Verlusten gelassen blieb und sich darüber noch amüsierte, war auf der Siegerstraße. Es war unfassbar, wie wenig Bedeutung man dem Geld beimaß und je gelassener man blieb, desto größer die Bewunderung.

So war es nur natürlich, dass Sina in ihrer Unbeschwertheit schnell hervorstach und damit anderen die Show stahl. Wirkte doch ihre Zwanglosigkeit angesichts der gespielten Naivität ungemein erheiternd und verlockend zugleich. Das weckte Neugier und sie gab sich alle Mühe, diese durch manch ungelenke Bemerkungen noch zu steigern.

Kein Wunder, dass von der alten Sina nicht mehr viel blieb. Aus der Nudel vom Lande wurde eine Dame des Jetsets und Lifestyles. Sogar ihr Gestikulieren deutete auf eine gekünstelte Verspieltheit hin, wie sie jeden Vertreter höherer Gesellschaftsschichten auszeichnete. Man sprach nicht direkt, sondern deutete nur an und das meist nasal. Anstatt zu lachen, lächelte man leicht angesäuert, um den Eindruck eines Hochmutes zu erwecken. Hinzu kam der Vorteil einer singlereisenden, vermögenden Frau, die sie für gewisse Herren interessant machte.

Ihr Haar trug sie jetzt schulterlang und gewellt. Außerdem benutzte sie neben einem exklusiven Eau de Cologne viel Make-up. So schminkte sie sich die Lippen mit Swarovski Liploss und drehte ihre Wimpern ein. Es verstand sich von selbst, dass sie ihre Brust auspolsterte und tiefere Ausschnitte bevorzugte.

Hin und wieder sah man sie, einen Zigarillo mit Spitze rauchend, im Foyer, wo sie sich, die Beine übereinandergeschlagen, in ein Buch vertiefte, jedoch aus den Augenwinkeln das Publikum beobachtete. Sprach man sie auf die Lektüre an, schwärmte sie von James Joyce oder Hermann Hesse und verstand es, jeden Interessenten mit dem Eindruck hoher Belesenheit zu verblüffen.

Kurzum, sie war sozusagen über Nacht von einer schlichten Newcomerin zum genusssüchtigen, intellektuellen Vamp mutiert, welcher ganz offen auf Männerfang aus war.

Es dauerte nicht lange und die ersten Interessenten stellten sich ein. Das war gleichermaßen erheiternd wie beschämend. Einige maßen sie krankhaft aufdringlich auf der Suche nach irgendeinem Makel. Andere zwinkerten ihr dreist zu und machten anzügliche Bemerkungen. Einmal setzten sich zwei Typen ungeniert zu ihr. Als sie festgestellt hatte, dass es sich nur um Blender handelte, begann sie diese mit einer ausgedachten Sprache zu vergraulen. Sina benötigte jemand Bestimmtes. Und dieser musste als Einheimischer über das nötige Insiderwissen verfügen, das sie für ihre Zwecke benötigte. Alles andere war vertane Zeit.

Bereits am folgenden Abend spielte ihr der Zufall eine erste Chance in die Hand. Nachdem sie das Treiben beim Roulette beobachtet und erstmals einen kleinen Betrag gesetzt hatte, gewann sie unerwartet.

Als sie es erneut wagte und sich der Gewinn wiederholte, zog sie eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich. Darunter befanden sich die Herren jener Sparte, die den ganzen Abend nichts anderes taten, als den Gewinnern Tipps zu geben, in der Hoffnung auf kleinere Gratifikationen. Einer stach dabei besonders hervor.

Er ‚betreute‘ neben ihrer Person zwei weitere Damen, die im Moment recht erfolgreich waren. Eine grauhaarige, ältere Frau mit kostbarem Chinchilla Fummel um den Hals und riesigen Ohrgehängen schien seine Favoritin zu sein. Sie hatte vor Eifer bereits ein ganz fleckiges Gesicht bekommen und konnte sich gar nicht mehr bremsen.

An den Nägeln kauend starrte sie mit banger Erwartung auf die rollende Kugel, als hinge davon ihr Leben ab. War diese dann gefallen, zuckte die Dame jedes Mal wie nach einem Stromstoß zusammen und schaute verwundert auf. Kurz, sie befand sich in einer von gereizter Stimmung beherrschten krankhaften Spielsucht, worauf sich der Typ spezialisiert hatte.

Es war nur natürlich, dass es auch Sina mal versuchte. Sogleich riet er ihr vor dem ‚Rien ne va plus‘ zu einem Einsatz auf ‚Zéro schwarz‘. Von einem unbestimmten Impuls getrieben, ließ sie sich darauf ein. Auf die Frage nach dem Warum erklärte er ihr anhand einiger unklarer Fakten, dass sie mit mathematischer Sicherheit gewinnen würde, wenn sie jetzt setzte.

Und wieder drehte der Croupier das Rad. Zu ihrer Überraschung kam Zéro. Sina hatte jetzt vervierfacht und bekam gleich zwei Dutzend Jetons zugeschoben. „Wie machen Sie das nur?“, fragte sie ihren im dunklen Anzug und gelber Krawatte gekleideten Ratgeber erstaunt, worauf er dies grinsend als sein Berufsgeheimnis erklärte.

„Sagen Sie, warum spielen Sie nicht selbst, Herr …?“

„Edouard Corleone, gnädige Frau.“ Er deutete eine leichte Verbeugung an. „Für gute Freunde auch Eddi. Eddi, der Glücksbringer.“

„Angenehm“, erwiderte sie höflich.

„Wissen Sie, weil es dann kein Geheimnis mehr wäre“, kam er auf ihre Frage zurück.

„Ach, kommen Sie.“ Sina winkte ab. „Geben Sie zu, dass Sie vom Hotel engagiert wurden, um die Spieler zu motivieren! So läuft das. Das habe ich längst durchschaut!“

„Aber nicht doch! Es ist mehr eine Gabe der Natur“, erwiderte er in aller Bescheidenheit und machte eine unbestimmte Geste.

„Natürlich. Und die Erde ist eine Scheibe!“ Sie lachte unbeschwert, was ihm sichtlich missfiel.

„Sie sollten diese Dinge nicht abwerten. Alles hat seine Berechtigung. Wenn Sie verzeihen ...“ Flugs verschwand er und tauchte an einem anderen Tisch wieder auf. Dort gesellte er sich neben seine grauhaarige Diva, die momentan am Verlieren war. Nachdem er sich zu ihr hinabgeneigt und ihr etwas ins Ohr geflüstert hatte, setzte sie erneut.

Schlagartig brachte ausgerechnet jener windige Vogel Sina auf eine Idee. Sie winkte einen Kellner herbei und übergab ihm ihre Visitenkarte mit der Bitte, diese jenem Herrn dort – sie wies beiläufig auf Eddi – zu überbringen.

Sie selbst schlenderte in Richtung Bar, wo ebenfalls ein reges Treiben herrschte. Hier blieb sie stehen und sah sich suchend um. Letztlich wählte sie das Foyer. Dort platzierte sie sich auf der Chaiselongue, legte ihren schwarzen Fuchskragen ab und erwartete, einen Zigarillo rauchend, diesen zwielichtigen Herren. Und siehe, der ließ nicht lange auf sich warten.

„Frau Antonelli“, überschlug er sich mit vor Wonne bebender Stimme und blickte demonstrativ auf die Karte, als müsse er sich von diesem Glückstreffer noch einmal überzeugen. „Sie sehen mich zutiefst erfreut. Schon immer wollte ich die Bekanntschaft einer Geschäftsfrau aus Zürich machen.“

„Sie Charmeur“, schmeichelte sie ihm augenblicklich, worauf sich seine Lippen genüsslich spitzten und er ihr einen galanten Handkuss gab.

Auch wenn er mit seinem dunklen, vollen Haar auf den ersten Blick recht ansehnlich wirkte, machte er bei näherer Betrachtung einen verlebten Eindruck. So hatte er tiefe Ringe unter den Augen und einen ungesunden gelben Teint, was auf ein Alkoholproblem hindeutete. Dass er nichts anbrennen ließ, verriet schon sein überaus süßliches Lächeln, das absolut nicht mit dem starren Blick harmonierte, womit er sie bereits auszog. Er mochte so um die fünfzig sein, hatte ein wuchtiges Kinn und eine etwas schiefe Nase. Unter buschigen Brauen verbargen sich zwei unruhig funkelnde Augen, die ständig auf der Suche zu sein schienen.

Wie alle Machos war er maßlos von sich eingenommen. So wippte er leger mit dem Knie und verstand sich auf großartige Posen; kurzum, er hielt sich für unwiderstehlich, was vor allem in seiner durchgedrückten Brust und dem beim Reden zurückgezogenen Kinn deutlich wurde.

Durch gewisse Signale bestärkte ihn Sina in diesem Glauben: Galant schlug sie die Beine übereinander und ließ ihn durch den seitlichen Rockschlitz mehr sehen, als gut für ihn war. Dazu lehnte sie sich entspannt zurück und zupfte versonnen an ihrem Ohrläppchen, während er sich über sein sorgsam schmalrasiertes Oberlippenbärtchen strich.

Nur eine aufgedonnerte Brünette, die in wenigen Metern Entfernung seitlich von Sina stand, war irritierend. Warum starrte diese derart unverhohlen zu ihr herüber? War sie etwa eifersüchtig? Aber Sina lächelte das Problem weg und beugte sich so weit vor, dass sie ihr die Sicht auf Eddi nahm. Trotz allem verspürte sie deren bohrende Blicke. Doch Sina setzte voll auf Sieg. Aus leichtgeöffneten Lippen hauchte sie ihm ein: „Ich finde Sie ungemein charmant“ ins Ohr.

Daraufhin nahm seine Miene einen kapriziösen, spöttischen und zugleich koketten Ausdruck an, wie er affiger kaum möglich war. Als ihm Sina dann noch den Dunst ihres Zigarillo entgegenhauchte, konnte er sich nicht mehr zügeln.

„Zwei Champagner, bitte!“, rief er dem vorbeieilenden Kellner zu und hob lässig den Finger. Dieser nickte und trabte weiter.

Abermals wandte sich ihr Eddi keck die linke Braue hebend zu und frohlockte: „Ich weiß nicht, was Sie bislang über mich erfahren haben. Aber ich bin für meine Qualitäten bekannt, Frau Antonelli.“ Und als wäre das noch nicht genug, wurde er jetzt unverschämt direkt mit der Frage, ob sie einen kultivierten Schwätzer bevorzuge lieber einen ganzen Mann.

Oh Gott, wie primitiv! Sina zeigte sich entsetzt und erwiderte in gespielter Empörung: „Na, hören Sie mal! Was denken Sie von mir?“

„Nun, dass Sie eine Frau sind, die ein Abenteuer sucht“, erwiderte Eddi verletzend direkt.

„Falsch, mein Bester!“, wies ihn Sina kühl zurecht.

„Was dann?“ Eddi zog ein überaus dummes Gesicht, das ihm erstaunlich gut stand.

„Am besten, wir reden Klartext!“

„Na dann. Nur zu!“ Er lächelte unsicher.

„Nun, wie ich sehe, wissen Sie, wie der Hase läuft. Vor allem, wie man andere Leute bestiehlt!“, schockierte sie ihn.

Schlagartig zuckte er zusammen und sein feistes Grinsen wich einer erschrockenen Grimasse. „Wie bitte?“

Lächelnd bemerkte sie: „Oder wie war das vorhin mit dem Desigual-Portemonnaie, das Sie der älteren Dame aus der Tasche gezogen haben, während Sie ihr ein paar wertvolle Tipps ins Ohr flüsterten?“

„Das ist … Also, das ist ja wohl ...“ Er schnappte nach Luft wie ein ans Ufer gespülter Karpfen. Schließlich versicherte er ihr, dass es sich nur um ein Missverständnis handeln könne oder eine optische Täuschung. Selbst eine Verwechslung bot er als Alternative an.

„Oh nein! Aus der Nummer kommen Sie nicht mehr heraus!“

„Wie meinen? Ähm … Ich wollte nur …“ Eddi wand sich jetzt wie ein Aal in salzigen Sägespänen und verschluckte die letzten Worte. Umgehend malte sich eine tiefe Bestürzung in sein Gesicht und ließ ihn seine missliche Situation begreifen. Jetzt bekam die Szenerie einen sehr hässlichen Anstrich und ließ die Temperaturen um ein paar Grad sinken.

„Wollen Sie mir die Brieftasche gleich übergeben oder bevorzugen Sie eine andere Lösung?“, bot ihm Sina kalt lächelnd an.

Eddi überlegte einen Moment, knickte dann ein und übergab ihr die Brieftasche. „Ich bitte Sie von Herzen, bloß keinen Skandal“, begann er zu wimmern und zog sich verstört den Kragen auf, als leide er plötzlich unter Atemnot. Ach Gott, war ihm das unangenehm. Fast hätte sie ihm das Köpfchen gestreichelt.

Ein Kellner brachte die perlend gefüllten Gläser auf einem silbernen Tablett und durchbrach die unerfreuliche Stille. „Ein Gruß vom Hause“, sagte er, überreichte die Getränke und zog sich, als er die finsteren Blicke der Beiden bemerkte, verwirrt zurück. Aus dem Augenwinkel fiel Sina erneut die Brünette auf, die wieder ungeniert zu ihr hinüberschaute. Kurz darauf verschwand die Fremde im Gedränge.

„Können Sie es nicht so arrangieren, dass es die Dame selbst verloren hat? Ich wäre Ihnen außerordentlich verbunden“, bedrängte er sie.

„Natürlich könnte ich das. Aber warum sollte ich?“

„Weil Sie … Herrgott! Was treiben Sie eigentlich hier für ein Spiel?“, fuhr Eddi sie an.

„Mäßigen Sie bitte Ihren Ton! Man kann Sie ja überall hören!“, wies ihn Sina zurecht. Langsam gefiel sie sich darin, diesen Kerl zu quälen.

Verärgert runzelte er die Stirn. „Was verlangen Sie von mir?“

„Aber Herr Corleone, wie sollte ich von Ihnen etwas verlangen? Wäre das nicht unangemessen? Sie sollten mich besser fragen, welchen Gefallen Sie mir tun könnten. Das klänge schon ganz anders.“

Eddi stand kurz vorm Platzen. „Also gut. Bitte. Womit kann ich Ihnen einen Gefallen tun?“, überwand er sich jetzt.

„Ich benötige einige Auskünfte, nichts weiter.“

„Auskünfte? Was für Auskünfte?“ Seine Stimme überschlug sich.

„Über Dinge, die mich interessieren. Das Syndikat zum Beispiel.“

Augenblicklich verschluckte er sich und wurde kreidebleich. „Sie sind verrückt!“

„Und wenn? Ist das schlimm?“, hielt ihm Sina entgegen.

Er schluckte erneut. „Wissen Sie, was Sie da von mir verlangen?“

„Ja natürlich. Deshalb habe ich ja auch Sie dafür ausgesucht“, schockierte sie ihn kaltschnäuzig.

Eddi fühlte sich überrollt. „Wer sind Sie?“, wollte er jetzt mit großen Augen wissen.

„Eine Geschäftsfrau aus Zürich. Das sagte ich doch.“

„Unsinn. Wer sind Sie wirklich?“

„Ist das wichtig?“

„Hören Sie! Ich bin kein Idiot!“

„Das sagt doch auch keiner!“, erwiderte Sina verwundert.

„Um eines klarzustellen: Wenn Sie mich reinlegen wollen, breche ich Ihnen das Genick!“, drohte er ihr an und war kurz davor aufzuspringen.

„Aber ich bitte Sie. Wie kommen Sie denn darauf?“

„Weil ich so etwas kenne! Und das geht nie gut aus. Glauben Sie mir. Ich habe Erfahrung!“ Während Eddi das sagte, sah er sich ängstlich um.

„Das lassen Sie meine Sorge sein“, erwiderte Sina unbeeindruckt.

„In Ordnung. Wenn Sie die Sache mit dem Portemonnaie bereinigen, dann stehe ich Ihnen zur Verfügung.“

„Ich werde mein Bestes geben“, versprach Sina im Gegenzug. Sie stellte den Champagnerkelch beiseite und steckte das Portemonnaie in ihre Handtasche. Wenig später war sie im Spielsalon verschwunden.

Dort trat sie seitlich an die noch immer spielende Dame heran und wartete einen geeigneten Augenblick ab. Dann agierte Sina geschickt mit ihrer Handtasche, spielte für einen Moment die Hilflose und bückte sich blitzschnell, um die vermeintlich verloren gegangene Brieftasche aufzuheben.

„Oh, wie nett.“ Zum Dank schenkte ihr die Frau fünf Jetons. Kurz darauf widmete sie sich mit wilder Ungeduld erneut dem Spiel.

Sina kehrte ins Foyer zurück. Sogleich kam ihr Eddi aufgelöst entgegen. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin tief in Ihrer Schuld, gnädige Frau“, bestürmte er sie, als er merkte, dass sie Wort gehalten hatte. Ungeachtet des Publikums kniete er vor ihr nieder und küsste demütig ihre Hand.

Unangenehm berührt entzog sie sich ihm. „Lassen Sie den Unsinn“, zischte sie ihn an. „Ich werde zu gegebener Zeit darauf zurückkommen. Bitte gehen Sie jetzt, bevor wir Aufsehen erregen!“

Oje, wie war ihr das peinlich, zumal einige Bedienstete von der Rezeption abschätzig zu ihr herüberschauten. Auf der Stelle beschloss Sina, zurück ins Badrutt’s zu fahren.

Unerwartet kam ihr in der Hotellobby der Chauffeur entgegen, ein unscheinbarer junger Mann, den sie bisher erst zweimal flüchtig gesehen hatte, aber nicht unsympathisch wirkte. „Dürfte ich Sie etwas fragen, gnädige Frau?“

Sie sah ihn verwundert an. Irgendwie sah es komisch aus, wie er in seiner mausgrauen Hoteluniform mit den goldenen Knöpfen plötzlich vor ihr stand und verlegen die Mütze drehte.

„Bitte. Nur zu“, ermunterte sie ihn.

„Wie haben Sie das angestellt?“

„Was meinen Sie?“ Sina stand jetzt auf dem Schlauch.

„Ich meine diesen Mann. Wie haben Sie ihn dazu gebracht, Ihre Hand zu küssen?“, fragte er erstaunt.

„Das haben Sie gesehen?“

„Ja, von der Tür aus und konnte es einfach nicht glauben.“

„Warum nicht?“ Sinas Stirn legte sich in Falten.

„Normalerweise macht der das nicht. Er ist sehr eitel, müssen Sie wissen, und glaubt, alle Frauen lägen ihm zu Füßen.“

„Sie kennen ihn?“

„Wer kennt den nicht.“ Er verzog angesäuert das Gesicht. „Das ist Eddi Corleone, ein stadtbekannter Hochstapler und Betrüger. Er ist der Katalysator der hiesigen Glücksspielerszene. Normalerweise hat er im Casino Hausverbot. Doch er versteht es, das immer wieder zu umgehen. Inzwischen wird er vom Personal geduldet, da er durch sein Engagement letztlich den Umsatz ankurbelt.“

„Wirklich? Das ist ja ungeheuerlich.“ Sina zeigte sich empört.

„Und noch eins: Manche Frauen vergöttern ihn tatsächlich. Ist er mal abwesend, erkundigen sie sich sogleich nach seinem Verbleib. Sie sollten sich vor ihm vorsehen.“

„Danke für den Hinweis. Ich bin überrascht, Herr …“

„Schönleitner. Maurice Schönleitner.“

„Angenehm. Maria Antonelli aus Zürich.“ Sie gab ihm geziert die Hand. Sodann geleitete er sie zum Fahrzeug und öffnete die Tür. „Vielen Dank“, sagte sie und musterte beiläufig seinen Siegelring an der rechten Hand, die er im selben Moment, so wollte ihr scheinen, übereilt zurückzog.

Sina fand das ungewöhnlich für einen gewöhnlichen Bediensteten. Nachdem sie eingestiegen war, schloss er sanft die Wagentür, die sich, wie von Zauberhand, fester an die Gummilitze saugte. Die Nacht war mild und sternenklar. Die Straßen wirkten menschenleer.

„Wie lange machen Sie das schon?“, fragte sie, während der Wagen majestätisch aus der Kurve rollte.

„Sie meinen, Chauffeur?“ Er warf ihr einen kurzen Blick durch den Rückspiegel zu. Sina nickte. „Noch nicht lange. Geschenkt wird einem heutzutage ja nichts.“

„Was erwarten Sie? Niemandem wird etwas geschenkt.“

„Eben. Daher muss man sehen, wo man bleibt. Vor allen Dingen in der heutigen Zeit.“

„Das hört sich ja recht missmutig an“, bemerkte sie.

„Wie man’s nimmt. Schließlich gibt es hier nicht viel Auswahl. Früher habe ich auf einem Hof gearbeitet, Kühe gemolken und Felder bestellt. Doch nachdem die Milchpreise in den Keller rutschten, ging es nur noch bergab. Den Rest können Sie sich denken. Aber das sind Dinge, die sich jemand wie Sie sicher kaum vorstellen kann. Das ist ein echter Knochenjob. Man hat immer zu tun. Das Vieh muss versorgt werden. Feierabend gibt es dort nicht. Eine riesige Schinderei rund um die Uhr. Das ist jetzt kein Vorwurf gegenüber jemandem, der das nicht kennt. Im Gegenteil, ich bewundere jeden, der den Vorzug hat, auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen“, seufzte Maurice.

„Das ist tröstlich zu hören. Aber Sie können mir glauben, ich habe mir manches auch nicht ausgesucht.“

„Das klingt ja, als wären Sie mit Ihrem Leben nicht zufrieden.“ Erstaunt sah er sie durch den Rückspiegel an.

Augenblicklich winkte Sina ab. „Wer ist das schon? Zufriedenheit ist nicht nur eine Frage des Geldes. Luft nach oben ist immer.“

„Da haben Sie recht!“, lachte Maurice und meinte daraufhin, dass es da bei ihm noch viel Platz gäbe. „Ich habe mir vor ein paar Jahren von einer Dame Ihres Standes sagen lassen, dass man selbst im Glück unglücklich sein kann. So gesehen gehört zum wahren Glück wohl immer ein Quäntchen Pech, um es wertzuschätzen. Ich glaube, sie wollte damit sagen, dass es schwer ist, als Millionärin einen Mann zu finden, der es ehrlich meint. Vordergründig sieht man bei einer solchen Frau immer nur das Geld. Und wer das bestreitet, lügt.“

„Finden Sie?“

„Unbedingt, denn wie sollte man einer Millionärin das Gegenteil beweisen können? Ich meine, immerhin hat sie alles. Womit könnte man sie also erfreuen? Mit einer Blume oder einem Gedicht? Natürlich“, beeilte er sich hinzuzufügen, „ist die Kunst der Poesie absolut lobenswert.“

„Haben Sie es denn bereits versucht?“

„Ich? Ein Gedicht?“ Schmunzelnd winkte er ab.

„Warum nicht? Oder irgendetwas, was man auf dem Affenfelsen der Moderne perfekt inszenieren kann?“

„Um Gottes willen.“ Er verdrehte die Augen. „Das würde ich niemals wagen.“

Sie winkte ab. „Die meisten Millionäre sind nur durch Erbschaft oder Heirat zu ihrem Reichtum gekommen. Erarbeitet haben ihn die wenigsten. Glauben Sie denn nicht an das Wunder eines glücklichen Zufalles?“

„Oh, durchaus. Nur trifft es mich nicht.“

„Warum so pessimistisch?“

„Weil ich es mir nicht vorstellen kann. Wenn man Sie reden hört, glaubt man nicht, dass Sie, ich meine, dass Sie …“ An dieser Stelle geriet er ins Stocken.

„… zu denen gehören, die aus einer Laune heraus mehrere Wochen am Stück Urlaub in einem Luxushotel machen?“, ergänzte Sina seine Gedanken.

„Nein, nein. So würde ich es nicht sagen“, korrigierte Maurice. „Sie sind so verdammt aufgeschlossen. Das ist man hier nicht gewohnt.“

„Oh, danke schön.“ Sie lächelte. Durch das Kompliment ermutigt, wandte sie sich ihm erneut fragend zu. „Sagen Sie, Herr Schönleitner, Sie erwähnten vorhin diesen Eddi Corleone. Habe ich den Namen richtig verstanden?“

„Ja, so heißt er“, entgegnete Maurice.

„Tut mir leid, doch das lässt mir keine Ruhe. Ich meine, ich habe diesen Nachnamen irgendwo schon mal gehört. Sagen Sie … kommt Eddi etwa auch aus Pontresina?“

„In der Tat. Dort kommt er her.“

„Ist er zufällig mit einer Frau Carlotta Corleone verwandt?“

Kaum hatte sie den Namen ausgesprochen, bemerkte sie im Rückspiegel Maurices erschrockenen Blick. Nervös ließ er seine Augen zwischen der Fahrbahn und dem Spiegel wandern. Und nicht nur das. Mit einem Schlag verwandelte er sich vom unbeschwerten Plaudermaul zu einem verschlossenen Griesgram. Es dauerte eine ganze Weile, bis er darauf einsilbig antwortete. Zwar bejahte er ihre Frage, wies aber zugleich auf die Unmöglichkeit hin, darüber offen zu sprechen – und schon gar nicht mit Eddi.

„Warum diese Geheimniskrämerei?“

„Frau Antonelli. Sie hinterfragen Dinge, über die man besser schweigt.“

„Jetzt machen Sie mich aber neugierig“, gestand Sina ihm ein.

„Darf ich offen sein?“

„Ich bitte darum.“

Maurice blinkte, fuhr rechts ran und stellte den Motor in den Leerlauf. Dann legte er den Arm über die Lehne und wandte sich ihr zu. „Wissen Sie, es könnte mich den Job kosten, wenn ich Ihnen Näheres sage. Doch um alles in der Welt – woher haben Sie diesen Namen?“

„Sie meinen, Carlotta Corleone?“

Er nickte.

Sina errötete und stammelte fadenscheinig: „Ich meine, mich zu erinnern, vor Jahren in einem Zeitungsartikel – ich glaube, es war die Neue Zürcher – etwas über einen Mord gelesen zu haben. Und da wurde der Name erwähnt.“

„Das wurde er eben nicht“, korrigierte er sie. „Frau Corleone ist durch einen Unfall ums Leben gekommen und das war der Presse nicht mal eine Randnotiz wert. Von einem Mord war keine Rede. Wie kommen Sie also darauf?“ Durchdringend starrte er sie an.

„Kann sein, dass ich es verwechsle … Ich erinnere mich nicht mehr genau. Tut mir leid.“

„Die Entschuldigung liegt ganz meinerseits. Aber ich wünsche mir, dass es zu keinerlei Missverständnissen kommt. Sie sind als Gast und Tourist herzlich willkommen. Nur sollten Sie nicht versuchen, irgendwelche Dinge aufzuwühlen, über die man besser schweigt.“

„Ist das jetzt eine Warnung?“, fragte Sina erstaunt.

„Nur ein gut gemeinter Rat.“

„Das lässt ja auf einiges schließen.“

„Hören Sie, Frau Antonelli“, wand er sich, „ich möchte einfach nicht, dass ...“ Abrupt stockte er.

„Was möchten Sie nicht?“, fragte sie rasch nach.

„Nichts. Vergessen Sie es.“

„Ich verstehe nicht …“ Sina biss sich auf die Unterlippe.

„Es tut mir leid. Mehr kann ich Ihnen ehrlich nicht sagen.“ Maurice drehte sich nach vorn zurück. Blinkend fuhr er an und fädelte den Wagen sanft in den fließenden Verkehr ein.

Den Rest des Weges verbrachten sie schweigend. Wenig später rollte der Rolls-Royce vor das Eingangsportal des Hotels und Sina stieg ernüchtert aus.

Kurz darauf betrat sie ihre Suite. Vom Fenster aus sah sie auf die dunklen Berge. Sollte dahinter das gelobte Land liegen?

Nur eine Petitesse

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