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Das verkannte Genie

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Die Homepage des Julius Schneeweiß war verlockend. Mit Susi, Tiger, Lucie und Troll bot der Branchenkenner gleich vier Rassekatzen an, deren Vorzüge jeden Liebhaber dieser Spezies geradezu verzücken mussten. Die Palette erwähnter Eigenschaften reichte von verschmust und charakterstark über hingebungsvoll bis zu guter Jäger und zur Zucht geeignet.

Während Julius’ Finger über die Tastatur seines Laptops glitten und er die neuesten Spitzenexemplare in sein Verzeichnis einpflegte, drängte sich ihm unweigerlich ein Vergleich zur medialen Partnersuche auf. Dort ärgerten ihn die Tricks und Halbwahrheiten, mit denen geschummelt wurde, nur um Kasse zu machen.

Ihm war es eine Herzensangelegenheit, bei seinen Kunden die Einsicht zu wecken, dass seine Tiere weit mehr bedeuteten als Streu und Katzenklo. Sie waren ebenso Anschaffung wie Bereicherung. Zumindest sollte es so sein. „Nicht wahr, Peterle“, murmelte er und kraulte dem schnurrenden Kater auf seinem Schoß den Kopf.

Wäre eine Partnersuche von derselben Effizienz, läge die Erfolgsquote garantiert höher. Leider waren Menschen nicht so pflegeleicht, sodass eine rein pragmatische Vermittlung, wie in seinem Fall, unmöglich schien.

Frustriert schloss er die Seite. Dabei erschreckte ihn das eigene, im Bildschirm sich spiegelnde, Konterfei. Ach Gott, wie hatte er sich verändert. Obwohl erst Mitte vierzig, besaß er bereits sehr dünnes, graues Haar, das sich jeder Frisur widersetzte und wie Fransen über die Ohren hing. Seine Stirn war hoch und schmal und seine Miene von einem permanent galligen Ausdruck geprägt. Nur selten verirrte sich ein Lächeln darin und wenn, erinnerte es an Zucker mit Essig. Aber er nahm sich einfach zu vieles zu Herzen, ohne dass man es ihm dankte. Kein Wunder, dass sich der Gram darüber als dauerhaftes Sauerbiergesicht festgefressen hatte.

Auch wenn er nicht unbedingt hässlich war, gefiel sein Gesicht keinem. Eine harte Falte neben seinen Wangenknochen gab ihm etwas Herbes, geradezu Strenges. Hinzu kam seine Unart, die Worte süßlich in die Länge zu ziehen. Damit löste er oftmals Verwunderung, aber auch Antipathien aus, woran er sich schon gewöhnt hatte. Folglich war nur schwer mit ihm umzugehen. Signalisierte man ihm hingegen Verständnis, hielt er es für linkisch. Wurde er kritisiert, deutete er das als Intrige. Niemand konnte es ihm recht machen, weshalb er ein notorischer Einzelgänger blieb.

Gezielt rief er ein passwortgeschützes Programm auf und startete die hauseigene Webcam. Beim Schriftzug ‚Loyalitätspyramide für Mitarbeiter‘ – übrigens von besonders gehässigen Menschen kreiert – grinste er bis über beide Ohren. Kein Geringerer als sein Vorgesetzter und Intimfeind Dr. Anton Heinig hatte diese Möglichkeit zur Optimierung des Personalbestandes erst neulich im Kreise namhafter Manager erörtert. Damit habe man seinerzeit in der Four Seasons Hotelkette große Erfolge erzielt, verkündete er vollmundig. Selbstverständlich verschwieg er die nachfolgende Reduzierung des Personalbestandes um ein Viertel, implizit die desaströse Verschlechterung des Arbeitsklimas.

Gewiss war Julius Schneeweiß als verantwortlicher Prokurist und Personalverwalter von solchen Schweinereien weit entfernt. Und doch wusste er, dass es keineswegs ganz ohne Kontrollen ging. Schließlich gab es nicht nur Gäste mit einem etwas ‚besonderen‘ Lebensstil. Seit Langem brütete er deshalb über einen gangbaren Weg, oder besser, einen halbwegs faulen Kompromiss, um diese Idee auf die hiesigen Verhältnisse umzumünzen. Erst vor Kurzem hatte er dem Direktor den Entwurf seiner Vorstellung von einer internen, kameragesteuerten Personalkontrolle offeriert.

Als Dr. Heinig das hörte, schmetterte er diesen Vorschlag als völligen Blödsinn ab und verbat sich jede weitere, in diese Richtung zielende dumme Bemerkung. Natürlich war das lächerlich und heuchlerisch zugleich. Dazu wusste Julius zu viel über dessen dubiose Machenschaften, wo er sich als Chef nicht so zimperlich zeigte.

Nachdem sich sein Vorgesetzter etwas beruhigt hatte, erlaubte sich Julius, ihm die Vorteile einer tiefergehenden Maßnahme abermals zu erläutern – nun allerdings mit mehr Diplomatie. Und siehe – jetzt horchte der alte Gauner auf. Der Gedanke an eine legale Begründung des leidigen Sparzwanges erhellte für Momente Heinigs schwammiges Gesicht, auch wenn das nichts bedeuten musste. Immerhin war der Doktor für seine schnellen Gemütswechsel bekannt und die Gefahr eines Rauswurfs nicht gebannt. Dennoch schöpfte der Opponent neuen Mut.

Während diese Idee für Dr. Heinig eine höchst fragwürdige Schnurre blieb, wovon er natürlich im Ernstfall nichts wissen durfte, nahm sie für Julius durchaus Gestalt an. Notfalls würde er dafür sogar einiges riskieren. Um die Verbissenheit oder genauer Borniertheit dieses Herrn Schneeweiß zu begreifen, ist es notwendig, seine Person etwas näher zu beleuchten.

Julius Schneeweiß war der Spross einer Herumtreiberin, die lieber ihren Joint rauchte, als sich der Erziehung ihres Kindes zu widmen. Jahrelang tingelte sie durch das Land, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Dieses offenbarte sich just in einem bärtigen Aussteiger, mit dem sie dann tagelang verschwand und ihren Sohn seinem eigenen Schicksal überließ. Es gab nichts, woran sich der kleine Julius orientieren konnte. Keine Regeln, keine Zuverlässigkeit und kein wirkliches Zuhause. Sein Leben hing in der Schwebe und folgte in seinem Verlauf allein dem Zufall. Ganz zu schweigen von den mütterlichen Gemütsschwankungen, bis ihn seine Mutter eines Tages an einem Rastplatz einfach ‚vergaß‘.

Die Wirtin der nahegelegenen Schänke ‚Heilig Spätzle‘ bemerkte den Siebenjährigen am Abend zum Schichtwechsel. Als er am nächsten Morgen noch immer mit dem dreckigen Stoffbären im Arm auf der Bank saß und die Beine in der Luft baumelten, nahm sie sich seiner an. Als fünftes Kind war er seitdem in der familiären Wirtschaft geduldet, aber nicht beliebt. Schließlich galt es, ein Maul mehr zu stopfen. So wurde er zeitlebens herumgestoßen. Ohne Halt im Leben wuchs er, taumelnd wie ein Stück Treibgut auf stürmischer See, heran.

Allein die Hausherrin wachte über sein Wohl. Wenn sie wegschaute, gab es eine feste Rangordnung unter den Geschwistern, an dessen Ende stets Julius stand. Die Folge war, dass er des Öfteren grundlos den ledernen Gürtel des Wirtes zu spüren bekam und bald nicht mehr zwischen gut und schlecht unterscheiden konnte. Obwohl man ihm bereits im Kindesalter eine schizoide Neurose attestiert hatte und er die Oberstufe später mehr schlecht als recht absolvierte, drängte ihn der Ziehvater zum Militärdienst. Widerstrebend kam Julius diesem Wunsch nach und verpflichtete sich in der Armee als Unteroffizier.

Jedoch kam er mit den dortigen Gepflogenheiten nicht klar. Vor allem litt er unter dem Ruf des ewigen Rotarsches, weshalb er vorzeitig seinen Abschied nahm. Damit fiel er zu Hause in Ungnade, sodass er sich dort bald nicht mehr blicken lassen konnte. Daraufhin hatte er sich ein Zimmer im Dorf genommen, begann zu trinken und trieb sich in Spelunken herum. Nicht selten kam es zu Streitereien, in deren Folge er in arge Bedrängnis geriet. Nach einer mörderischen Zechtour, die ihm fast das Leben gekostet hätte, besann er sich und nahm ein Wirtschaftsstudium an einer Privat-Akademie auf.

Überraschenderweise überzeugte er mit einem glänzenden Abschluss zur Bedeutung von Risikoanlagen im Zuge der dualen Marktstrategie. Dafür erhielt er von der Akademie viel Lob und trug seither die Nase ziemlich hoch. Fortan hielt er sich für unfehlbar und führte sich auch so auf. Woher er das Geld für die Studiengebühren nahm, blieb allerdings unklar. Man munkelte von einem ergaunerten Honorar für eine Auftragsarbeit unter Verwendung fremden geistigen Eigentums.

Zwar geschah das derart verklausuliert, dass es ihm nicht richtig nachgewiesen werden konnte, aber der Makel des Unseriösen haftete ihm seitdem an. Dennoch wurde er wohlwollend im Kempinski aufgenommen. Seitdem zeigte er dort eine krankhafte Arbeitswut, die oftmals Ärger und Verwunderung gleichermaßen auslöste.

Neuerdings neigte er allerdings zu selbstherrlichen Allüren und überschritt nicht selten seine Kompetenzen. So erdreistete er sich allen Ernstes, in den Hotelzimmern kleine ‚sehende‘ Uhrenspione auf den Nachttischen zu platzieren. Mit dieser Art verdeckter Beobachtung gedachte er, die Loyalität und Zuverlässigkeit der Mitarbeiter vor Ort zu überprüfen.

Sagte er sich: Wo kein Kläger, da kein Richter – solange niemand davon wusste. Der Begriff ‚Gewerkschaft‘ war im hiesigen Bereich ohnehin ein Fremdwort. Endlich konnte man das leidige Problem der stichprobenartigen Taschenkontrolle optimieren. Ob es Heinig passte oder nicht – der Erfolg würde ihm, Julius, Recht geben. Ihn frustrierte ohnehin schon lange das quälende Gefühl einer chronischen Unterforderung. Da sein Herz aber an diesem ‚Saustall‘ hing (wie er das Hotel bisweilen nannte), gab es weiß Gott Mittel und Wege, gewisse Dinge auch ohne Heinigs Zustimmung zu regeln. Und wenn der Direktor bei seinem täglichen Rundgang unbedingt die Mannschaft auf Strecke bringen musste, sollte er zumindest seinen Schrittzähler neu eichen.

Während Schneeweiß, in seinem Drehsessel lümmelnd, den Monitor betrachtete, der gleich mehrere Zimmer in wechselnden Sequenzen zeigte, blieb sein Blick an einer Amazone haften, auf die er schon lange ein Auge hatte. Dabei handelte es sich um die Angestellte Rosanna Schönleitner. Erst kürzlich hatte er sie wieder für den ‚Room Dienst‘ einteilen müssen, nachdem sie durch einen Eklat im Gaststättenservice aufgefallen war. Aber solch ein Ding konnte er nicht durchgehen lassen. Da kannte er nichts.

Prompt schärfte er seine Konzentration und folgte interessiert jeder ihrer Bewegungen, denn sie hatte eine fabelhafte Figur. Da gab es nichts zu meckern. Vor allem ihr Steiß hatte es ihm angetan. Kein Wunder, dass er jetzt förmlich am Monitor klebte und verzückt die Finger küsste. Nur das hotelverordnete Dirndl mit der weißgeschnürten Bluse, aus dessen Ausschnitt ihr Busen geradewegs herausquoll, missfiel ihm. Auch wenn sie daran schuldlos war, wirkte das unanständig und billig. Leider hatte er zur, von „oben“ angeordneten, Dienstbekleidung (noch) kein Stimmrecht. Sonst wäre diese alberne Tracht als solche längst abgeschafft. Doch was war das? Schlagartig erstarrte er.

„Das darf doch nicht wahr sein!“, entfuhr es ihm erbost, als er bemerkte, wie sie von einer angebrochenen Seltersflasche auf dem Nachttisch trank. Mit fahriger Handbewegung verscheuchte er den Kater vom Schoß und zoomte das Bild heran. Und siehe, als könnte er ihre Gedanken erahnen, ging sie zum Schminktisch hinüber. Dort nahm sie einen Flakon aus der Kulturtasche des Hotelgastes und sprühte sich etwas Parfüm auf ihre rosaschimmernde Haut.

Julius bekam den Mund nicht mehr zu. Das war ja unerhört! Unmittelbar darauf klaubte sich Rosanna eine Banane aus dem nahestehenden Obstkorb. Langsam schälte sie diese und biss zaghaft hinein. Schneeweiß griff sich unwillkürlich an den Hals und stellte eine perverse Assoziation her, die ihn völlig kirre machte. Als sie sich zudem noch mit fremder Schminke die Wimpern verschönerte, biss er sich in die Faust, um einen Schrei zu unterdrücken. Dann aber sprang er auf und ballte die Fäuste. „Wart’s nur ab, du Luder. Dir werde ich helfen!“

Keine drei Minuten später passte er die Übeltäterin im Flur in Richtung Fahrstuhl ab. Aufgepeitscht wie er war, hatte er sich schon einiges zurechtgelegt. Doch als er vor ihr stand und sie ihn ganz erschrocken von unten herauf anschaute, war alles wieder weg. Seine Knie wurden weich, seine Stimme begann zu versagen, und er hatte plötzlich ein saudummes Gefühl. „Nanu? Schon Feierabend?“, war das Einzige, was er herausbrachte und das noch ziemlich schnodderig.

„Warum nicht? Es ist sechzehn Uhr“, erwiderte sie dreist und sah ihn verwundert an.

„Tut mir leid, bei mir ist es gerade fünf vor“, korrigierte er sie sofort recht barsch. „Oder gehen Sie immer überpünktlich?

„Was für eine Frage … Natürlich nicht. Aber falls es Sie beruhigt, ich habe heute fünf Minuten früher begonnen.“

„Tatsächlich? Dann sollten wir wohl künftig Stechuhren einführen“, spöttelte Julius.

„Ja. Das wäre vielleicht angebracht“, meinte sie gleichmütig. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen.“ Sie versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen, doch er stellte sich ihr weiterhin in den Weg.

„Was soll das, Herr Schneeweiß?“ Rosanna wich einen Schritt zurück.

„Wieso? Was soll was?“

„Sie wirken so … aufgedreht.“

„Finden Sie?“

„Ja.“

„Nun ja, wenn Sie so angenehm duften, könnte man glatt denken … Was ist das eigentlich?“ Er beschnüffelte sie jetzt ganz ungeniert genau dort, wo er es beobachtet hatte, und kam ihr dabei unanständig nahe.

„Tut mir leid. Ich weiß nicht, was Sie meinen.“ Rosanna wich errötend vor ihm zurück.

„Wirklich nicht? Ich frage nur, weil mir der Duft sehr extravagant erscheint. Mir fällt es schwer zu glauben, Sie könnten sich ein solches Parfüm bei einem Stundenlohn von zehn Franken fünfzig leisten. Ich würde es eher bei einer Dame aus der hiesigen Jeunesse dorée3 vermuten“, behauptete er und beäugte sie durchdringend.

„Was wollen Sie damit sagen?“, empörte sich Rosanna sofort. Doch in ihrer Stimme schwang Verunsicherung.

„Ich will gar nichts sagen. Ich wünsche mir, dass Sie künftig darüber nachdenken, was Sie in den Zimmern unserer Gäste so treiben. Manches fällt auf, manches nicht. Im Übrigen sind meines Wissens die Bananen dort abgezählt.“

Rosanna verspürte einen Stich im Herzen. Wie war das möglich? Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. „Na, hören Sie mal! Das ist … ungeheuerlich!“, fuhr sie ihn entrüstet an.

„Das finde ich auch. Darum sage ich es ja“, erklärte Julius kühl. Nervös schaute er sich um, als fürchte er einen Horcher. Dann fuhr er mit gedämpfter Stimme fort: „Was würden Sie sagen, wenn ich etwas beweisen könnte, was Sie in arge Verlegenheit bringen würde? Ich meine eine Peinlichkeit, die Sie kaum rechtfertigen könnten?“

„Was ist das für eine Frage?“

„Eine, die Sie beantworten sollten.“

Ihr stockte der Atem. Sollte er etwas ahnen?

„Verstehen Sie mich richtig. Das ist jetzt eine rein hypothetische Frage“, setzte er scherzend hinzu.

„Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen. In jedem Fall würde ich mich nicht erpressen lassen, sondern eine Klärung von neutraler Stelle erbitten“, entgegnete sie höflich. Doch ihre Stimme bebte.

„Selbst auf die Gefahr einer Niederlage?“ Eine diebische Freude leuchtete in seinen Augen.

Stolz drückte sie den Rücken durch. „Selbst dann“, antwortete sie ungerührt.

„Das freut mich“, entgegnete er zu ihrer Verwunderung.

„Wie bitte? Was freut Sie daran?“

„Dass Sie mich nicht enttäuscht haben. Nichts hasse ich mehr als vorteilsdenkende Kleinkrämer. Das können Sie mir glauben. Davon haben wir hier genug! Wen interessiert ein Schuss aus einem teuren Flakon oder das Fehlen einer Banane? Es trifft ja keinen Armen, verstehen Sie?“, spulte sich Schneeweiß plötzlich auf und bekam vor lauter Eifer ganz rote Backen.

„Nicht ganz. Aber wenn es so ist, wie ich jetzt annehme, dann sollten Sie tun, was Sie tun müssen!“, ernüchterte sie ihn jäh.

„Ist das Ihr letztes Wort?“ Enttäuscht wich er zurück.

„Was erwarten Sie?“, beargwöhnte sie ihn.

„Etwas Entgegenkommen vielleicht?“, tastete er sich erneut heran.

„In welcher Form?“

„Mit mehr Freundlichkeit vielleicht?“, wandte er mit seltsam bebender Stimme ein.

Rosanna stutzte für einen Moment. Sie hatte ein Problem, dieses Angebot zu begreifen. Als es ihr aufging, hätte sie ihn am liebsten geohrfeigt. Nur eine Form absurden Mitleids hielt sie zurück.

„Wenn es das ist, was ich jetzt annehmen muss, schlagen Sie es sich aus dem Kopf“, wies sie ihn mit verächtlicher Miene zurecht. „Ich bin tief enttäuscht von Ihnen, Herr Schneeweiß. Schämen Sie sich! Ich hielt Sie stets für einen Mann mit Charakter. Dass Sie sich aber soweit vergessen, ist nun wirklich unter Ihrem Niveau!“

Das zeigte Wirkung. Auf einmal glich er einem begossenen Pudel und rang um Fassung. Sein Plan, sie in die Ecke zu drängen, war zerplatzt. Er wusste nicht, was er tun sollte. Abrupt fühlte er, dass er sich nicht mehr in der Gewalt hatte und fürchtete, irgendeine Abscheulichkeit zu begehen. (Aber nur eine klitzekleine piksende Bosheit, kein Verbrechen, dazu war er zu feige.)

Die eigene Schlechtigkeit vor Augen fühlte er sich wie angespuckt und schämte sich – ein unerträgliches Gefühl. Sofort bemühte er sich um Schadensbegrenzung: Sein Pflichtbewusstsein zwänge ihn zu Dingen, die er hinterher bereue, erklärte er umständlich. Damit nicht genug, er entschuldigte sich in aller Form für seine ‚dumme Bemerkung‘. Er sei nicht bei Verstand gewesen und es täte ihm leid.

Jetzt verstand Rosanna überhaupt nichts mehr. Hatte sie das alles bisher nur als Ouvertüre betrachtet und schon mit dem Schlimmsten gerechnet, überraschte sie ein solch abrupter Rückzug nun doch.

„Sie verwundern mich, Herr Schneeweiß“, gab sie unumwunden zu. „So viel Großmut hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.“

„Was heißt hier Großmut? Sie verkennen einfach die Lage! Das ist alles!“, machte er plötzlich unmissverständlich klar.

„Mag sein. Dennoch danke ich Ihnen für ihre Offenheit.“ Da Rosanna das Gespräch nicht unnötig verlängern wollte, verabschiedete sie sich und begab sich nach draußen, ohne dass er Anstalten machte, sie daran zu hindern.

Außerhalb des Geländes erwartete sie ihr Bruder Maurice in seinem klapprigen Golf. Er hatte ebenfalls Dienstschluss.

Normalerweise fuhr er Rosanna von hier aus immer nach Hause. Allerdings war heute Vaters Geburtstag und somit eine der wenigen Gelegenheiten für eine familiäre Zusammenkunft. Obwohl Maurice an seiner Schwester hing, missbilligte er ihre Haltung zum Vater. Auch wenn dieser ein alter Griesgram war, so hatte er doch ein großes Herz.

Das sah seine Schwester freilich anders, weshalb sie schon lange von zu Hause ausgezogen war. Im Gegensatz zu einigen Almbäuerinnen hatte sie das kärgliche Dasein voller Mühsal und Improvisation satt und fühlte sich als Stadtmensch. Seit ihrer Kindheit schlummerte in ihr eine ungestillte Sehnsucht nach einem anderen Leben, als auf einer Hütte zu versauern. Folglich schied sie als mögliche Erbin für den väterlichen Hof aus. Dafür stand jetzt Maurice als jüngerer Bruder Pate.

Hinzu kam ihr knapp einjähriger Sohn Maxi aus einer Beziehung zu einem Hotelgast, was der Vater als große Schande betrachtete. Obwohl Rosanna bis heute hartnäckig darüber schwieg, war Maurice es über verschlungene Kanäle gelungen, den Kindesvater ausfindig zu machen. Wie war er erstaunt, dabei auf keinen Geringeren als einen prominenten Fernsehmoderator zu stoßen. Dieser war mit einer bekannten Journalistin verheiratet und führte in den Medien eine sogenannte Vorzeigeehe. Schon deshalb war die damalige Liaison seiner Schwester von explosiver Brisanz, weshalb ihr vehementes Mauern auf eine diesbezügliche Übereinkunft schließen ließ.

Für Maurice bestand kein Zweifel, dass Rosanna jenen Mann einst geliebt hatte. Welchen Knopf dieser Schnösel allerdings gedrückt hatte, dass sie darüber alle Vernunft vergaß, blieb ihm rätselhaft. Zudem nahm er an, dass sie dessen finanzielle Hilfe aus falsch verstandenem Stolz ausgeschlagen hatte, denn sie führte ein sehr bescheidenes Leben. Musste sie immer so stur sein? Auch wenn sie es niemals zugeben würde, schien sie unter jener Vertuschung zu leiden. War das der Preis ihrer Liebe?

„Nanu? Heute Giorgio Armani?“, begrüßte sie Maurice mit einem taxierenden Blick, nachdem sie eingestiegen war.

„Lass mich“, antwortete sie mucksch. Fahrig stellte sie ihre Handtasche in den Fußraum, schloss den Sicherheitsgurt und nestelte an ihrem Dirndl herum.

„Was ist? Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?“, scherzte Maurice, während er den Motor startete und losfuhr.

„Kümmere dich um deinen eigenen Kram“, antwortete sie gereizt und sortierte ihre Sachen. Unterwegs wechselten sich frischgemähte Wiesen mit Kiefern- und Tannenwäldern ab, unter deren dichtem Wuchs das Tageslicht gedimmt wurde und der Landschaft einen eigenwilligen Charme verlieh. „Ist das Parfüm wirklich so aufdringlich?“, wollte sie nach einer Weile wissen und sah ihren Bruder verunsichert an.

„Man riecht es halt.“

„Du wirst es nicht glauben, aber ich hatte soeben eine Unterredung mit Herrn Schneeweiß. Er machte eine ähnliche Anspielung“, gestand sie zögernd.

„Dieser Trottel?“, fragte er ungläubig. „Ich dachte, der spielt nur mit seinen Katzen!“

„Offenbar nicht. Er führt etwas im Schilde.“

„Wie meinst du das?“

„Nun ja … Wie soll ich sagen … Seine Bemerkung klang … anders. Irgendwie … mehr wie eine Ermahnung oder besser Erpressung! Es war entsetzlich.“

„Ach, herrje“, folgerte Maurice mit düsterem Blick. „Geht das schon wieder los? Wenn er es zu weit treibt, sag Bescheid und ich lasse mir was einfallen.“

„Es ist ja nichts passiert.“ Umgehend beruhigte sie ihn und bereute ihre Leichtfertigkeit.

Beiläufig betrachtete sie die vorbeifliegende Landschaft. Ab und an blinzelte die Sonne zwischen den Wolken hindurch. Zu ihrer Rechten lag eine kleine Kirche, die von einem niedrigen Gitterzaun umfriedet war. Jenseits des Gitters lagen die Gräber unter hohen Bäumen, die das abschüssige Gelände verschatteten. Sie verfolgte einen kopfsteingepflasterten Weg. In der Ferne durchschnitten Kiefern die Landschaft bis zu den ersten Gebirgsausläufern. Hoch oben glichen die Schneereste vom Himmel gefallenen Wattebäuschen. Noch war nicht zu erahnen, was der Winter bringen würde.

Maurice entging ihr Kummer nicht. Dennoch würde sie ihn niemals damit belasten. Dazu war sie viel zu stolz. Lieber litt sie still vor sich hin. So war es schon immer. Dieser Konsorte Schneeweiß war in sie verknallt und würde nicht lockerlassen, bis er am Ziel wäre. Doch soweit durfte es niemals kommen. Dafür würde er sorgen. „Ich hätte da eine Idee“, stieß er plötzlich euphorisch aus.

Verwundert sah ihn Rosanna an. „Was meinst du?“

„Du erinnerst dich sicher an die Frau, die dir neulich beigestanden hat – Frau Antonelli aus Zürich. Ich war mit ihr gestern in den Bergen. Sie scheint mir ein anständiger Mensch zu sein. Wenn sie sich über deinen Verehrer beschwert, könnte das wie eine Bombe einschlagen. Heinig duldet keinerlei Schwächen. Vielleicht käme ihm das gut zupass. Er findet seinen Prokuristen ohnehin unausstehlich.“

„Nicht nötig! Ich komme mit der Situation schon klar“, wiegelte Rosanna ab.

Doch Maurice ließ nicht locker. „Ich glaube, wir können ihr vertrauen.“

„Mir gefällt das nicht.“

„Warum nicht? Schneeweiß ist ein Drecksack und hat nichts anderes verdient!“

„Ich weiß nicht“, wich sie unsicher aus.

„Ich werde Frau Antonelli um diesen Gefallen bitten. Sie wird es für uns tun. Ich weiß es.“

„Du kannst doch diese Frau damit nicht belästigen!“

„Sie würde uns aber helfen.“

„Woher willst du das wissen?“

Maurice errötete. „Ich weiß es eben.“

Plötzlich meinte Rosanna, ihren Bruder nicht wiederzuerkennen. Seine Euphorie verblüffte sie. „Sag mal, wie kommst du nur darauf?“

„Versteh doch – es ist eine günstige Chance“, ereiferte er sich sogleich.

Doch seine Schwester wollte davon nichts hören. Julius Schneeweiß rangierte in der dortigen Hierarchie ohnehin nur weit unten und sein Einfluss war gering. Schon deshalb wäre es unklug, sich erneut mit dem Management zu überwerfen. Im Grunde war er nichts weiter als ein bedauernswerter Einfaltspinsel, der in ihrer Gegenwart große Nervosität zeigte. Im Bestreben, mehr zu erreichen, überzog er des Öfteren und machte sich damit lächerlich. Wenn er es merkte, wurde er unsicher und wirkte noch wunderlicher. Kurzum – er war nichts weiter als ein unbeholfener Kauz.

Inzwischen waren sie am väterlichen Hof angekommen. Dieser befand sich etwa zehn Kilometer von St. Moritz entfernt auf einer einsamen Anhöhe. Die Einsamkeit war hier bewusst gewählt, denn nichts wäre für einen eingefleischten Eigenbrötler wie Urs Schönleitner tödlicher als ständig quengelnde Nachbarn.

Widerwillig öffnete Rosanna die Beifahrertür. Gerade als sie dem Wagen entstiegen war, stürmte ihr Hofhund Rufus entgegen. Mit seinen fünfzig Kilo war er ein echter Radebrecher von Bernhardiner und sie hatte alle Mühe, ihren einstigen Liebling zu beruhigen. Draußen an der Werkbank dengelte derweil Vater Urs die Sense, ohne sie im Mindesten zu beachten.

Sie hatte ihren Vater lange nicht gesehen und stellte fest, dass er stark gealtert war. Tiefe Falten zerfurchten sein sonnengegerbtes Gesicht und die kleinen Augen waren von zahllosen Runzeln umfurcht. Obwohl erst Mitte sechzig, wirkte er gute zehn Jahre älter. Aber seit Mutters Tod ließ er sich gehen. Selbst sein grauer Vollbart reichte ihm mittlerweile bis auf die Brust.

„Grüezi. Alles Gueti zum Geburtstag“, begrüßte ihn Rosanna nach Landesart, ohne dass der Vater etwas erwiderte. Während Maurice den Wagen wendete und neben dem Hanomag-Schlepper einparkte, durchkramte sie ihre Handtasche und legte eine Tafel Schokolade auf den Tisch. Der Alte schwieg weiterhin beharrlich. „Für dich. Bitte schön“, versuchte Rosanna es nochmals und stellte eine Flasche Morand Abricotine hinzu.

„Schließ lieber den Blusenknopf, oder willst du dich erkälten?“, bemerkte der Vater beiläufig. Es klang wie eine seltsame Mischung aus Bewunderung und Verachtung, wie sie nur ein verknöcherter und verschrobener Bergbauer seines Schlages beherrschte. Im Grunde hatte sie nichts anderes erwartet. Im Gegenteil, sie konnte froh sein, wenn er überhaupt mir ihr redete.

Doch seltsam. Während Rosanna diese als Ohrfeige gemeinte Frechheit reglos hinnahm, ließ sie die vom Vater beabsichtigte Erschütterung völlig kalt. ‚Herrgott, jetzt kann ich ihn nicht einmal mehr hassen‘, dachte sie und war über sich selbst erstaunt.

Früher gefiel sich seine Tochter in der Rolle der Gekränkten, bockte schnell und wehrte jeden Versöhnungsversuch ab. Obwohl sie selbst am meisten darunter litt, zahlte sie es ihm mit ihrer offen zur Schau getragenen Gleichgültigkeit heim. Seither kam sie nicht mehr davon los.

Mit verkniffenen Lippen ging sie direkt in die dunkle Küche. Benommen betrachtete sie den alten Steinofen und den Küchentisch, an dem ihre Mutter tagein tagaus gestanden hatte. Hier fühlte sie sich ihr unglaublich nah. Anna Schönleitner war eine energische Frau gewesen und wusste sich in schwierigen Lagen zu behaupten. Zu Lebzeiten war sie der eigentliche Herr im Haus. Anders als der Vater bewies sie in vielen Dingen eine erstaunliche Festigkeit. Zudem verfügte sie über die Gabe der Großmut. Sie konnte lachen und verzeihen und verstand es, ihrer Tochter die Wärme zu geben, die ihr der Vater verweigerte.

An jenem Tag, als Rosanna ein letztes Mal die Mutter im Licht einer schummrigen Lampe sah, bat diese ihre Tochter, immer brav zu sein. Der Vater liebe sie auf seine Weise. Das nachfolgende Versprechen fiel ihr schwer, da sie bereits den Wortbruch ahnte.

Es war gut, dass die Bäuerin das jetzige Zerwürfnis nicht mehr erleben musste. Der Vater hatte den Verlust seiner Frau bis heute nicht verkraftet und verfiel oft in tagelanger Trübsal. Regelrecht apathisch starrte er dann stundenlang vor sich hin. Mit dem Finger zeichnete Rosanna jetzt die Maserung der Eichenplatte nach. Es war Mitte Juli. Trotzdem war ihr kalt. Auf einmal schmeckte ihr Speichel säuerlich.

Im Rahm einer Milchflasche kämpfte eine Fliege um ihr Leben. Prompt nahm Rosanna einen Holzlöffel aus der Tischschublade, fischte das Insekt heraus und trug es zur Tür. Kraftvoll schlug sie den Löffel aus. Dann blieb sie im Türrahmen stehen und schaute in Richtung des Weinspaliers, bis sich ihr Blick in der Ferne verlor.

Sicherlich, das Leben in den Bergen war nicht einfach. Auf die Fliegen des Sommers folgten die Eisblumen des Winters. In den wärmeren Monaten vermischte sich der würzige Geruch zahlloser Alpenkräuter mit dem kräftigen Duft der Tannen, welche das Ende der Baumgrenze markierten. Rosanna schaute durchs Fenster auf das majestätische Gebirge mit seinen kahlen Felsen, durchbrochen von blau-weißen Gletscherzungen.

Es war eine weite Fläche, leer und windzerfurcht. Hoch oben war es gefährlich. Auf den ungesicherten Pisten drohte man schnell, auf ein Schneebrett zu treten und in eine Spalte einzubrechen. Trotz Warnungen wagten sich immer wieder unerfahrene Touristen dort hinauf, ohne den Blick für Veränderungen im Schnee, Verformungen der Felsen und vor allem ohne Respekt vor dem Berg. Nie im Leben würde Rosanna freiwillig hinauf zu den Fallwinden gehen.

Während sich Maurice zum Vater gesellte, öffnete sie erneut ihre Tasche und holte einen Knochen für Rufus hervor, der sich im Schatten der kleinen gekalkten Scheune ausgestreckt hatte. Sogleich kam der Hund herbeigetrottet. „Siehst du, mein Dicker, da drüben sitzt der unverbesserliche Einsiedler und will nicht begreifen. Und warum? – weil wir uns ähneln. Kein Wunder, dass er mich hasst“, flüsterte sie und kraulte ihm den massigen Kopf. Rufus wedelte mit dem Schwanz. Für einen Moment kehrte Frieden in ihr Herz. Schließlich erhob sie sich. Ein Lufthauch fuhr in ihr Haar. „Da ist sie wieder, die Kälte“, murmelte sie.

Kurz darauf suchte sie die Scheune auf. Mit stockendem Atem hob sie den Riegel und öffnete die knarrende Tür. Postwendend wurde sie von der Dunkelheit umfangen, nur durchbrochen vom trüben Licht der Stallfenster. Die Zeit stand still. Rosanna trat näher. Trockenes Laub knirschte unter ihren Sohlen. Ihre Augen begannen, die Dunkelheit zu durchdringen. Ein Schnauben hier und dort, ein Klirren der eisernen Ketten und ein Rascheln im Stroh. Aus einer Ecke drang das Kollern einer Pute. Der Geruch glotzender Milchviecher wehte ihr entgegen. Ein neugieriges Muhen ertönte, eine Selbsttränke rauschte.

Mit einem Mal dominierte der Glockenton der Milchkuh Lisa die Geräuschkulisse – Rosanna erkannte ihn sofort. Ein paar Lichtstrahlen glitzerten auf der rostigen Egge an der gekalkten Wand neben der Holztür. Auf dem Dielenboden stand eine Schubkarre, aus der ein Vorschlaghammer ragte. In einem schrägen Lichtbalken tanzte der Staub. Dann bemerkte sie die Spinnweben im Gebälk. Sie wusste um die in den Ecken und Winkeln lauernden Beutefänger. Der alte Ziegenbock meckerte wie gewohnt in seinem Verschlag. Hunderte rötlicher Kristalle glitzerten auf dessen Salzleckstein. Ein weiterer Sonnenstrahl stahl sich durch eine Ritze des Schindeldaches. Dieser Gang in den Schuppen kam einer Offenbarung gleich. Von den Erinnerungen gequält, empfand Rosanna eine unangenehme, beinahe schmerzhafte Reizbarkeit, die sie nicht lange ertrug. Ruckartig wandte sie sich ab.

Kurze Zeit später fand sie sich am Tisch bei Vater und Bruder ein. Beide hatten sich inzwischen über irgendetwas erhitzt. Maurice zog einen Stuhl für sie heran und schob ihr eine Tasse Kaffee zu. Dieser war aufgrund des manischen Sparzwanges des Vaters wie immer ungewöhnlich, um nicht zu sagen peinlich dünn. Urs würdigte sie indes keines Blickes.

„Dass ich nicht lache“, rief der Vater aus. „Alles selbstlose Reden. Lass das meine Sorge sein. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass so etwas funktioniert!“

„Versteh’ doch Papa. Ein Café brächte nur Vorteile und du hättest immer Gesellschaft“, griff Maurice das Gespräch wieder auf.

„Unsinn!“, würgte ihn der Alte ab. „Ausufernder Tourismus, Hektik, Lärm. Gerade du solltest wissen, dass man die Berge niemals herausfordern sollte. Und im Übrigen habe ich genug zu tun.“

„Tut mir leid, aber das wird nicht reichen“, intervenierte Maurice. „Spätestens, wenn das Milchvieh abgeschafft ist, wirst du …“

Urs schlug mit der Faust auf den Tisch, worauf Rosannas Kaffeetasse überschwappte. „Nur über meine Leiche! Die Lisa wird nur per Abdecker den Hof verlassen!“

„Seid nicht töricht“, warf Rosanna ein und erntete böse Blicke.

„Du könntest endlich den ganzen Tag deine Wurzelmänner schnitzen oder Touristen die Mühsal des bäuerlichen Lebens erklären“, ließ Maurice nicht locker. „Das wäre kein Vergleich zur sonstigen schweren Arbeit … Außerdem würdest du somit einen Teil unserer Traditionen bewahren!“

Urs strich sich über den Bart. „Die Schnitzereien sind nur ein Zeitvertreib im Winter. Davon kann man doch nicht leben. Und noch bin ich kein alterndes Urgestein, das man anderen in einem Schaukasten präsentiert.“

„Du magst recht haben, Vater. Aber …“

„Nichts aber! Hast du jedes Gefühl für Pflicht und Ehre verloren?“

„Mit solchen Tugenden kann man heutzutage den Hof unmöglich halten!“, brauste Maurice auf. „Tut mir leid. Ich habe die Regeln nicht gemacht.“

Der Vater schwieg. Jedoch verfolgte er jede Regung der Geschwister, jeden Blick, jede noch so kleine verstohlene Geste. Plötzlich raunzte der Alte: „Du solltest dich schämen, so zu reden, Maurice! Offenbar hat dich ein bestimmter Einfluss verwirrt!“ Vorwurfsvoll schaute Urs zu seiner Tochter hinüber.

„Sag ruhig, was du denkst, Papa. Ich bin doch ohnehin an allem schuld“, provozierte sie ironisch, wobei sie in aller Ruhe die Kaffeepfütze mit einem Zellstofftuch auftupfte.

„Wer hat dich gefragt?“, schäumte Urs prompt, den ihr Gleichmut kränkte. „Ich habe mein Leben hart gearbeitet. Und nur weil mich meine Kräfte verlassen, heißt das noch lange nicht, dass der Hof unrentabel ist. Schönleitners sind ein altes Bauerngeschlecht, die stets aus nichts etwas gemacht haben. Seit Urzeiten haben wir hier gelebt und werden es weiterhin tun. Dieses Land liegt uns im Blut. Mein Urgroßvater Johann hat das alles aufgebaut“ – er klopfte demonstrativ mit dem Knöchel des doppeltberingten Fingers auf den Tisch – „und es wurde über Generationen weitergetragen. Ich werde niemals zulassen, dass das alles umsonst gewesen sein soll!“

„Das ist ja unbestritten, Papa“, versuchte es Maurice erneut. „Nur wer flexibel genug ist, hat eine Chance! Das solltest du bedenken.“

„Du willst mich nur weichkochen!“, erriet der Vater schnell und lachte bitter auf. „Meinst du, ich merke das nicht? Und“ – er neigte erneut den Kopf in Richtung Rosanna – „ich kann mir denken, warum.“

„Die Welt hat sich verändert!“, meinte Maurice.

„Gott sei Dank“, entgegnete Rosanna.

Urs überging deren Bemerkung. An Maurice gewandt sagte er: „Veränderungen hin – Veränderungen her. Wenn du den Hof einmal übernehmen willst, musst du ein Herz dafür entwickeln. Da geht es nicht allein um Zweckmäßigkeit. Es muss dir zur Leidenschaft werden, verstehst du? Dieses Stück Erde ist durchtränkt vom Schweiß deiner Vorväter. Das kann dir doch nicht egal sein! Was ist? Warum guckst du so? Deine Schwester brauchst du nicht zu suchen! Sie versteht davon ohnehin nichts!“

„Woher willst du wissen, was ich verstehe?“, schoss Rosanna zurück, die dessen Gelaber nicht mehr ertrug.

„Du solltest nicht so vorlaut sein! Immerhin hast du bisher genug Unverstand bewiesen. Sonst hättest du längst eine Familie gegründet“, kanzelte sie der Vater ab und traf sie damit tief.

„Jetzt ist es aber genug, Papa!“, fuhr ihn Maurice an und sah beschwichtigend zu Rosanna.

„Lass ihn doch. Ich habe nichts anderes erwartet“, hielt ihn seine Schwester zurück. „Vater stellt mal wieder klar, was keiner Klarstellung bedarf. So ist es doch immer. Er hat recht und die Welt ist in Ordnung.“

„Du wirst deiner Mutter immer ähnlicher“, grummelte Urs. „Sie war ebenfalls um Ausreden nie verlegen und hatte ständig das letzte Wort. Nur mit dem Unterschied – die Anna hatte meistens recht.“

„Dann wird sie auch ihren Grund dafür gehabt haben“, meinte Rosanna. „Aber da du nie darüber nachgedacht hast, war das wohl nötig.“

„Von wegen! Ich kann dir sagen, was nötig gewesen wäre! Ich hätte dir öfter mit dem Holzlöffel eins überziehen sollen! Dann hättest du vielleicht nicht so viel Schande über unsere Familie gebracht!“

„Papa!“, intervenierte Maurice erneut und sprang auf. „Das gehört jetzt nicht hierher!“

„Und ob! Sie soll ruhig wissen, wie ich und unsere Nachbarn darüber denken! Früher hatte man einen Bastard den Nonnen vor die Tür gelegt! Gott sei Dank ist das Wissen um deinen Fehltritt unserer Mutter erspart geblieben!“

„Maxi ist kein Fehltritt! Im Gegensatz zu dir hätte Mama wenigstens so viel Anstand besessen, ihren Enkel mal zu besuchen! Als ob das Kind etwas dafür kann“, warf ihm Rosanna an den Kopf.

„Es geht nicht um den Bankert, es geht um dich, verdammt! Ständig machst du Schwierigkeiten!“, wetterte Urs mit sich überschlagender Stimme. „Bei all unseren Vorfahren hat es das noch nie gegeben! Daher schäme ich mich für dich! Aber es gibt ein Gericht Gottes, sei dir gewiss! Und eines Tages wirst du für deine Ehrlosigkeit büßen müssen! Du glaubst dich bevormundet, nur weil ich dir ein anderes Leben vorschreibe, und meinst, das sei altmodisch! Wer gibt dir das Recht, dich über unsere Traditionen zu stellen? Lass dir gesagt sein, dass es einen großen Unterschied zwischen Eigenwillen und Unvernunft gibt! Offenbar hast du noch nie darüber nachgedacht, sonst hättest du längst bemerkt, dass jede Tradition ihren Sinn hat!“

Hasserfüllt starrte sie ihren Vater an. Wahrlich, es fehlte nicht viel und sie hätte ihm den Rest des lauwarmen Kaffees ins Gesicht gekippt, in dem sie die ganze Zeit mit dem Löffel rührte. Warum tat sie sich so etwas immer wieder an? Wäre ihr Bruder nicht gewesen, sie hätte den Alten längst über den Jordan gejagt. Diese ständigen fadenscheinigen Moralappelle konnte er sich sparen. Und wenn sie jetzt nicht ging, dann nur aus Rücksicht auf ihren Bruder.

Um die erhitzten Gemüter abzukühlen, schlug Maurice vor, die Steigeisen auf Verschleiß zu überprüfen. „Hilfst du mir, Vater?“

„Später. Erst muss die Sache zu Ende gebracht werden“, stänkerte der Alte weiter, der jetzt offenbar in Fahrt kam. „Erst einmal will ich wissen, was deine Schwester dazu sagt!“

„Was willst du denn jetzt hören?“, raunzte diese schnippisch. „Im einundzwanzigsten Jahrhundert hat sich der Sinn von Traditionen verändert. Heutzutage sind sie keine Fesseln mehr und jeder hat das Recht …“

„Bitte hört auf! Ihr habt sicherlich beide recht!“, versuchte es ihr Bruder ein letztes Mal, wurde aber sofort von seiner Schwester ausgebremst.

„Lass’ gut sein, Maurice! Hier geht’s ums Prinzip. Vater sollte endlich begreifen, dass jeder das Recht auf seine eigenen Entscheidungen hat.“

„Wohlan! Dann bist du ja das beste Beispiel einer Fehlentscheidung“, spottete Urs weiter und massierte einen Krampf in seiner Nackenpartie, der ihn inzwischen infolge seiner Anspannung befallen hatte.

„Schon möglich. Aber es war mein Entschluss und ich trage die Verantwortung“, erklärte Rosanna entschieden und sah keinen Sinn mehr in einem weiteren Gespräch. Denn wie immer hörte der Vater nicht zu und wollte auch gar nicht verstehen. Sie beschloss, dass dieser Besuch der letzte gewesen war. Mochte der Alte doch in der Hölle schmoren. Was kümmerte es sie?

Nur eine Petitesse

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