Читать книгу Nur eine Petitesse - Anja Gust - Страница 8

Die Kontaktaufnahme

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Sina fackelte nicht lange. Bereits am selben Abend suchte sie das Casino im Kempinski auf. Über ihrer Schulter baumelte nonchalant ihre kleine Handtasche an einer goldenen Kette. Sie trug zu ihrem dunklen Rock eine beigefarbene Tunika mit Perlen-Dekolleté und eine pelzverbrämte Jacke. Vor allem zeigte der lange Seitenschlitz viel Bein, was bei den Vertretern des „starken“ Geschlechtes ausgesprochen gut ankam. Nachdem sie einen der frequentierten Roulette-Tische aufgesucht hatte, dauerte es nicht lange und Eddi fand sich zu ihrer Linken ein. „Fünf auf Noir“, raunte er ihr unauffällig zu.

„Wieso?“

„Laut meinem Schema ist die Wahrscheinlichkeit eines Treffers hier am größten.“

„Faites vos jeux“, forderte der Croupier zu den Einsätzen auf.

Sina setzte hundert Franken.

„Rien ne va plus!“ Die Kugel rollte und blieb auf Sechs Rouge liegen.

„Offenbar ist heute nicht Ihr Tag, Eddi.“

„Ich bin untröstlich, Madame. Aber nach meinen Berechnungen ist …“

„Ach, geben Sie es zu. Sie sind ein Scharlatan! Das kann man nicht berechnen. Entweder man hat Glück oder man hat keines. Der Zufall lässt sich nicht überlisten. Wie so oft ist der Wunsch die Mutter des Gedankens.“

„Man kann aber die Wahrscheinlichkeit abschätzen“, erwiderte er pikiert. „So lassen sich die meisten Gewinne zumindest erahnen. Der Rest bleibt Risiko.“

„Nun gut. Sie geben einem wenigstens etwas Hoffnung“, seufzte Sina und steckte ihm den erwarteten Schein ins Revers.

„Darf ich Sie auf einen Cocktail einladen, Frau Antonelli?

„Warum nicht?“ Die Handtasche untergeklemmt stand Sina auf und hakte sich bei ihm ein. Galant führte Eddi sie zu einer kleinen Bar unweit des Roulette-Tisches. Dort nahmen sie an einem kleinen Zweiertisch Platz. „Das Casino ist ja rappelvoll. Schon als ich ankam, herrschte ein reges Treiben … Unglaublich. Ist heute ein besonderer Tag?“, fragte sie.

„Durchaus“, antwortete ihr Begleiter und gab dem Kellner ein Zeichen.

„Habe ich was verpasst?“

„Campione Vogeler hat allen Gästen, die vor 18.00 Uhr eintreffen, für den heutigen Abend einen Spielrabatt von 50 Franken gewährt. Leider kamen Sie zu spät.“ Eddi hob bedauernd die Schultern.

„Wie kommt er dazu?“, wollte Sina wissen.

„Großzügigkeit“, erwiderte Eddi mit hintersinnigem Grinsen. Der Kellner brachte die Bestellung. Kurze Zeit später stießen sie an.

„Ach, kommen Sie, Eddi! Glauben Sie wirklich, dass diese Leute“, sie machte eine beiläufige Handbewegung zum Roulette-Tisch, „darauf Wert legen? Ich müsste mich schon sehr täuschen, wenn ausgerechnet diese Klientel mit irgendwelchen Almosen zu ködern wäre. Worin liegt also der Haken?“ Verschmitzt zwinkerte sie ihm zu.

„Madame, ich bitte Sie!“, entgegnete er in gekünstelter Empörung. „Was ist das für eine Frage?“

„Eine, die ich Ihnen nach Empfehlung von Herrn Schönleitner stelle“, erwischte ihn Sina kalt und steigerte damit seine Verwirrung.

„Maurice? Wie kommen Sie zu dem?“

„Nennen wir es eine freundschaftliche Empfehlung.“

„Ach was“, entgegnete er, zog kurz am Strohhalm und sah sie abschätzig an. „Sie sollten vorsichtiger sein, Frau Antonelli. Der Bursche hat es faustdick hinter den Ohren.“

„Wie ich sehe, hat das hier anscheinend jeder.“

„Da haben Sie allerdings recht, hehehe“, pflichtete ihr Eddi bei. „Und er erwähnte mich?“

„Ja, durchaus“, bekräftigte Sina. „Anscheinend hält er große Stücke auf Sie.“

„Das wundert mich. Wir haben nämlich nicht gerade das beste Verhältnis zueinander“, räumte Eddi ein.

„Aber dem Anschein nach vertraut er Ihnen mehr als umgekehrt“, provozierte Sina weiter. „Er meinte, Sie wären für ein offenes Wort jederzeit zu haben und könnten mir einiges zum Ablauf der Dinge hier erzählen.“

„Soso. Sagte er das?“, erwiderte Eddi. „Warum sollte ich das tun?“

„Weil wir einen Deal haben!“

„Ihre Hartnäckigkeit ist anstrengend, Frau Antonelli.“ Eddi kicherte vor sich hin. „Aber warum nicht? Es wissen ohnehin alle.“ Dann erklärte er ihr, dass der Campione Vogeler diesen Laden hier ‚schmeiße‘ – inoffiziell versteht sich. Als Betreiber fungiere hingegen Direktor Anton Heinig. Der wäre als Strohmann für alles Mögliche zuständig. Doch die eigentlichen Fäden zöge der Campione als sogenannte ‚graue Eminenz‘.

„Das muss ja ein einflussreicher Mann sein.“ Sina schlug die Beine übereinander und ließ verdächtig viel Schenkel sehen. Eddis plötzliche Unkonzentriertheit amüsierte sie.

„Das kann man wohl sagen“, seufzte er und bot ihr eine Zigarette an. Dankend lehnte sie ab. „Ach, wissen Sie. Ich bin zu lange in der Branche tätig, als irgendwelchen Spekulationen zu verfallen“, erklärte er und machte eine gekünstelte Pause.

Doch Sina winkte ab und forderte ihn auf, fortzufahren. Daraufhin erklärte ihr Eddi mit gedämpfter Stimme und überaus wichtiger Miene, dass der ‚Boss‘ Vogeler durch Zahlung von Schmiergeldern weite Teile des hiesigen Tourismus kontrolliere. Die Justiz wage sich nur deshalb nicht an ihn heran, weil er mit seinem Wissen einige Herren in der Kantonsregierung in Schwierigkeiten bringen könnte.

„Korruption also?“

„Das ist ein hartes Wort. Nennen wir es lieber Freundschaftsdienste. Behalten Sie das aber für sich“, ermahnte er sie und schlürfte seinen Cocktail.

„Mit anderen Worten, er ist ein Gauner, oder sollte ich besser sagen – der Pate?“, folgerte Sina, worauf ihr Gastgeber nur die Augen verdrehte.

„Aber Madame. Nennen Sie ihn lieber einen cleveren Geschäftsmann. Das ist zwar kein großer Unterschied, klingt jedoch solider. Sind wir nicht alle Geschäftsleute?“

„In der Tat. Sonst könnte man hier auch keinen derartigen Profit machen“, pflichtete sie ihm bei. „Verglichen mit ihm sind Sie natürlich nur ein kleiner Fisch, der hin und wieder ein Zuckerbrot bekommt, während andere den eigentlichen Reibach machen, nicht wahr?“

Die als aufmunternden Trost gemeinte Floskel bewirkte jedoch genau das Gegenteil. Statt zuzustimmen, wurde ihr Gesprächspartner ärgerlich und polterte: „Da irren Sie aber gewaltig! Eddi Corleone speist niemand mit Halbheiten ab! Merken Sie sich das! Wen, glauben Sie, vor sich zu haben, einen Schuljungen? Ich will Ihnen was sagen: Ich bin es, der dem Campione zu diesem Deal verholfen hat. Ich habe ihm Direktor Heinig seinerzeit als Teilhaber des Unternehmens empfohlen und der Patron entlohnte mich dafür! Klar veranlasst er die nötige Geldwäsche. Schließlich muss alles seine Richtigkeit haben. Doch wen kümmert das? Solange alle ihren Vorteil davon haben, ist das in Ordnung!“

„Durchaus. Und während die Spieleinnahmen an der Steuer vorbeifließen, trifft es nur den Fiskus. Das sind ohnehin alles Gauner“, ergänzte Sina.

Verbittert blies Eddi den Rauch in die Luft und konnte sich nur mühsam beherrschen. Offensichtlich hatte sie ihn damit tiefer gekränkt als befürchtet. Erst nach einer Weile entgegnete er: „Ja, das stimmt. Im Leben muss man sich nach der Decke strecken, Frau Antonelli! Oder haben Sie gedacht, dass hier lediglich Engel leben und all der Luxus vom Himmel gefallen ist?“, ereiferte er sich aus Verärgerung über eine solch schnöde Bemerkung. Zudem lockerte ihm sein unterschwelliger Drang nach Rechtfertigung die Zunge. Kein Wunder, dass Sina sogleich nachsetzte und ihm unverblümt an den Kopf warf, dass dieser Campione niemand anderes als der Baron von Billow sei.

Eddis Reaktion ähnelte jener von Maurice. Die Tatsache, dass sie diese Namen ganz offen aussprach, steigerte seine Verunsicherung. War das eine Provokation aufgrund einer aus Gerüchten und Spekulationen beruhenden Vermutung, oder besaß sie tatsächlich tiefere Einblicke? Eddi war verwirrt.

„Wie kommen Sie denn darauf?“, empörte er sich und versuchte, die Sache ins Lächerliche zu ziehen.

„Ich habe einiges gehört. Und nicht nur das. Mir ist bekannt, dass der Prokurist des Kempinskis oder Co-Manager, wie es hier so schön heißt, Herr Schneeweiß, ebenfalls Dreck am Stecken hat“, verblüffte ihn Sina weiter. (Dessen Namen hatte sie aus dem Impressum eines simplen Hotelprospektes. Aber Eddis tapsige Art, verbunden mit einigen leichtfertigen Bemerkungen, waren zu verlockend, um es nicht zu versuchen.)

„Was wissen Sie davon?“, sprang er prompt an.

„Genug, um ihn in Verlegenheit zu bringen!“, bluffte Sina kalt.

„Das ist doch alles Blödsinn!“, schimpfte Eddi. „Ich sage Ihnen, an der Sache ist nichts dran! Man versucht, ihm etwas in die Schuhe zu schieben. Ich kenne Herrn Schneeweiß und weiß genau, dass er ein korrekter Mensch ist. Für Schmierereien ist er nicht der Typ!“

„Wieso sind Sie sich sicher?“

Eddi überlegte kurz. Zögerlich erwiderte er: „Wenn man ihn so lange kennt wie ich, kann man ihn einschätzen!“ Nervös drückte er die Kippe aus. „Herr Ober, einen Cognac bitte!“

„Meinen Sie nicht, dass Sie sich täuschen?“, provozierte Sina weiter.

„Hören Sie, Frau Antonelli!“ Augenblicklich senkte Eddi seine Stimme. „Herr Schneeweiß vergreift sich nicht an jungen Mädchen! Wer das behauptet, lügt!“

Das war es also. Diese Neuigkeit überraschte Sina. Im Fall eines möglichen Kontaktes könnte sie sich als vorteilhaft erweisen. Hartnäckig blieb Eddi bei seiner hohen Meinung zu diesem Herrn. Stand er etwa in dessen Schuld? Ein Grund mehr, nachzusetzen.

„Und dennoch wird er dessen bezichtigt“, hielt sie ihm entgegen.

„Unsinn. Das kommt nur von Leuten, die ihn durch den Dreck ziehen wollen. Allen voran der Heinig – das größte Schwein, das hier rumläuft! Er kann ihn nicht abservieren, weil er ihn braucht.“

„Lassen Sie den Hotelmanager aus dem Spiel! Von dem habe ich anderes gehört“, behauptete Sina dreist.

„Ja? Was denn? Etwa, dass dieser Doktor ein korrekter Leiter ist, der seinen Pflichten nachkommt? Dass ich nicht lache! Der steckt bis zum Hals im Dreck und versucht, von sich abzulenken. Oder glauben Sie im Ernst, er hätte sein neues Haus aus legalen Mitteln finanziert? Ganz zu schweigen von seiner Frau Madleen. Die hat vielleicht Nerven … Dieses verdammte Miststück. Überall hängt sie sich rein … Ich sage Ihnen nur eines, der Sumpf hier ist tiefer, als Sie denken.“

„Sie werden unsachlich, mein Lieber“, ermahnte ihn Sina.

„Schon möglich. Aber bei dem Namen schwillt mir der Kamm“, fuhr Eddi mit gedämpfter Stimme fort, während der Kellner den Cognac brachte. „Wie gesagt, die Vorwürfe gegen Herrn Schneeweiß sind völlig haltlos. Das kann ich beschwören.“

„Woher wissen Sie das?“

„Ich weiß es eben!“

„Verstehe. Sie wollen nicht darüber reden“, unterstellte Sina und schaute ihn an, als wäre ihr just in dem Moment ein Licht aufgegangen. „Aber für jemanden wie Sie, der stets am Katzentisch sitzt, obwohl er über große Talente verfügt, muss das ziemlich frustrierend sein“, stichelte sie erneut.

„Wie wahr. Wie wahr“, pflichtete er ihr bei. „Darauf versteht man sich hier!“ Man sah ihm seine Erregung an. Hin und wieder schluckte er und bekam einen trüben Blick. Nichts mehr war geblieben von dem dominanten Strahlemann. Sinas Worte zeigten Wirkung. Er wirkte jetzt wie ein Häufchen Elend und stand kurz vorm Heulen.

„Und den Beistand des Campione Vogelers, alias von Billow, ‚erkauft‘ sich dieser Heinig durch die Abfuhr der Gewinne, deren Höhe niemand nachvollziehen kann“, kombinierte Sina weiter.

„Sagen wir es mal so: Der Direktor hat sich damit einen zuverlässigen Zeugen gesichert, der ihn bezüglich möglicher Korruptionsvorwürfe ganz wesentlich entlasten würde. Der Baron verfügt über gewisse Möglichkeiten, müssen Sie wissen. Das ist doch legitim bei unberechtigten Anschuldigungen, oder? Und er ist mächtig, sehr mächtig. Mit seinen Methoden ist er in höchste Kreise vorgedrungen. Dabei gibt er sich zurückhaltend und besonnen. Aber täuschen Sie sich nicht. Er hat das Gemüt einer Mamba. Erst vergiften, dann fressen. Schließlich erkennt er nur ein Gesetz an – sein eigenes. So ist es seit jeher üblich – und wer wollte was dagegen tun? Sie etwa? Sagen Sie mal, was geht Sie das eigentlich an? Kommen Sie etwa von Interpol? Hat man Sie auf ihn angesetzt? Da beißen Sie bei mir aber auf Granit! Das garantiere ich Ihnen, ich werde alles leugnen, was ich soeben gesagt habe! Und sollten Sie dieses Gespräch auf Band mitgeschnitten haben, erwürge ich Sie auf der Stelle! Verlassen Sie sich darauf! Eddi Corleone legt niemand rein!“

„Wieso sollte ich Sie reinlegen wollen?“, entrüstete sich Sina. „Wir plaudern doch bloß.“

„Sicher. Aber in einer unangenehmen Weise!“, antwortete er, eine steile Falte zwischen den Brauen. „Ich empfehle Ihnen schnellstens, einiges von dem, was ich gesagt habe, wieder zu vergessen!“

„Danke für Ihre Fürsorge. Aber ich kann auf mich aufpassen“, versicherte ihm Sina und verwies kopfnickend auf eine Frau am Roulette-Tisch, die gerade am Verlieren war.

„Ihre Aufmerksamkeit ist bemerkenswert“, giftete Eddi zurück. „Aber überlassen Sie mir den Zeitpunkt des Eingriffs. Die Dame hat sich bisher noch nicht nach mir umgesehen.“

„Muss Sie das erst?“

„Madame! Nichts wirkt in diesem Geschäft unprofessioneller als Aufdringlichkeit“, erklärte er indigniert und leerte den Cognacschwenker. „Sehen Sie, sie sucht nach mir. Jetzt muss ich mich gelassen geben. Immerhin bin ich ein viel gefragter Mann. Meine Hilfe ist ein Privileg.“ Nachdem er der Dame freundlich zugenickt hatte, bemüßigte er sich jetzt, zu ihr hinüberzugehen.

Sina blieb an der Bar zurück und durchdachte in aller Ruhe die neuen Informationen. Eddi war zwar ein Leichtfuß und impulsiver Brubbelkopf, der sich schnell um Kopf und Kragen redete, aber gerade deshalb ein Glücksgriff. Maurice hatte recht. Wer weiß, was er noch alles wusste.

Sie beschloss, künftig gelassener zu bleiben und keinesfalls etwas zu erzwingen. Das wäre nicht nur kontraproduktiv, sondern auch gefährlich. Wenn in der Tat hier alles so korrupt war, wie er andeutete (und es gab keinen Grund, daran zu zweifeln), sollte sie vorsichtiger sein. Unerkannte Querverbindungen könnten sie schnell entlarven.

Während sie umherschaute und das Treiben an den Spieltischen verfolgte, erfasste sie zugleich die ganze Farce. Die meisten der Spieler setzten weniger aus Vergnügen als aus Renommiersucht. Mit einem kalten Lächeln zu setzen, galt als mondän. Unabhängig vom Ergebnis entschied die Art der Reaktion über Schwäche oder Überlegenheit des Spielers. Von daher wurde ein Gewinn nie bejubelt, sondern lediglich belächelt. Ebenso wie man eine Niederlage beiläufig wegsteckte. Das war Contenance, das war deliziös und diente jener zweifelhaften Selbstdarstellung, die man hier so ungemein nötig hatte.

Oh nein – dieses Spiel diente nicht dem Gewinn, sondern der Darstellung, frei nach dem Motto: ‚Was kostet die Welt‘! Und all diejenigen, die davon lebten, machten sich nur die Verschwendungssucht einer finanziell strotzenden Elite zunutze, die es nicht anders verdiente, als ausgenommen zu werden.

Aus diesem Grunde wäre jede Verurteilung Heuchelei. Im Gegenteil, es traf genau die Richtigen. Sinas Glaube an das Gute im Menschen begann zu bröckeln.

Es mochten etwa fünfzehn Minuten vergangen sein, als sie plötzlich von einem unangenehmen Typen angesprochen wurde. Allein die überflüssige Frage: „Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?“, kam einer billigen Anmache gleich.

Als er sich dann auch noch ungefragt ihr gegenüber platzierte und dreist aus seinem Sektglas trank, oder besser schlürfte, wollte sie schon die Security rufen. Wenn sie es nicht tat, dann nur, weil es im Moment keinen Grund zur schlechten Laune gab. „Wie kommen Sie darauf?“, fragte sie stattdessen zurück.

Zwischen zwei Schlucken erwähnte er beiläufig, dass sie diesen Eindruck mache. Er sprach diese Worte unerwartet souverän, was eine gewisse Autorität verriet.

„Da täuschen Sie sich“, erwiderte Sina, die nur wenig Lust auf ein Gespräch verspürte und überlegte, wie sie ihn am besten abservieren konnte. Er trug einen dunkelblauen Anzug und eine graue Krawatte, dazu Slipper von Gucci, natürlich imitiert. Das fiel ihr ins Auge. Sein sorgsam frisiertes grau meliertes Haar und seine getönte Brille gaben ihm etwas Eitles, Affiges. Auch wenn sein Gesicht keineswegs – trotz Fettrollen am Hals – hässlich wirkte, glich es einer Maske. Ob es an seinem kläglichen Versuch nach Harmlosigkeit lag oder dem dümmlichen Grinsen, blieb offen. In jedem Fall schien er nicht das zu sein, was er vorgab, er machte den Eindruck eines widerlichen Schmierfinken.

„Ganz schön was los heute“, bemerkte er lässig, hielt seine dunkelbraunen Augen aber weiterhin auf Sina gerichtet. „Wie es aussieht, sind viele vom Spielfieber gepackt. Also wenn Sie mich fragen ...“

„Ich frage Sie aber nicht “, kam ihm Sina zuvor.

Kurz senkte er seinen Kopf, wobei seine Augen fast komplett unter seinen breiten Brauen verschwanden. „Schade. Dem Anschein nach sind Sie im Begriff, einen Fehler zu machen.“ Er sah wieder auf, jetzt aber anders. Sein Lächeln war verschwunden.

„Sie werden es kaum glauben, aber ich mag keine Leute, die mich auf meine Fehler aufmerksam machen“, erwiderte Sina barsch.

„Das sollten Sie aber. Gerade wenn Sie sich mit einem Strolch abgeben, der hier normalerweise nichts zu suchen hat.“

„Wen meinen Sie?“

„Das wissen Sie doch genau. Sie sollten vor ihm auf der Hut sein. Erst kürzlich hat er zwei Damen so lange zum Spiel genötigt, bis sie bankrott waren. Das könnte Ihnen ebenso passieren.“

Seine Direktheit grenzte an Unverschämtheit. Dementsprechend schonungslos reagierte Sina. „Und wenn schon. Was geht Sie das an?“

Erstaunt sah er auf und sagte schlicht: „Ich beuge nur vor.“

„Wer sind Sie überhaupt, dass Sie sich so etwas anmaßen?“, wollte Sina jetzt wissen und musterte ihn abschätzig.

„Oh Verzeihung. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt – Hausdetektiv Francesco Wegener vom Security Service.“

„Das dachte ich mir“, konterte Sina. In Wahrheit war sie überrascht.

„Wieso?“

„Ein Mann, der sich mit diesem Outfit präsentiert, hofft immer, nicht erkannt zu werden. Nicht wahr?“, bemerkte sie mit ruhiger und dennoch leicht angespannter Stimme.

Er stutzte. „Was wollen Sie damit sagen?“

„Nichts. Ich stelle nur fest.“ Sie wandte sich ab, als betrachtete sie das Gespräch als beendet.

Doch so schnell gab dieser Kerl nicht auf. „Sie sind bei mir in besten Händen. Hier gibt es eine Menge Gauner und Betrüger. Sich in Sicherheit zu wähnen, ist ein Vorteil, den Sie wertschätzen sollten. Ernsthaft wäre zu erwägen, dass …“

Sina lachte bei den Worten besten, sollten und ernsthaft kurz auf. Sie verstand, diese Euphemismen sehr wohl zu interpretieren: Kurzum, es glich einer blumig umschriebenen Nötigung in der Hoffnung, ihm auf den Leim zu gehen. „Es ehrt Sie. Allerdings ist das in meinem Fall überflüssig, Herr Wegener. Ich weiß, was ich tue“, ließ sie ihn wissen.

„Ach, was Sie nicht sagen.“ Der Spott war unüberhörbar. „Und warum sind Sie, bitte schön, heute Morgen dieser Servierkraft beigesprungen? Sie wussten doch gar nicht, worum es ging?“

„Wie bitte?“ Augenblicklich weiteten sich ihre Augen. „Na, sagen Sie mal!“ Ihre Geduld war erschöpft. Es reichte. Trotz aller Vorsicht polterte sie los: „Was erlauben Sie sich!“

„Wieso? Ich habe Ihnen doch nur eine Frage gestellt“, entgegnete der Detektiv verwundert.

„Das war keine Frage! Sie wollen mich ins Verhör nehmen! Im Übrigen bin ich der Meinung, dass ich Ihnen keine Rechenschaft schulde. Wenn Sie mich bitte entschuldigen …“ Sina erhob sich.

„Aber was soll das jetzt, Frau Brodersen?“, fragte er mit besonderer Betonung ihres Namens.

Schockiert hielt Sina inne und hatte sofort begriffen. Sie spürte ein starkes Erröten und war für einen Moment unschlüssig, wie sie reagieren sollte.

„Tut mir leid. Sie verwechseln mich. Mein Name ist Maria Antonelli“, wich sie ihm aus.

„Ich weiß, ich weiß. Die Geschäftsfrau aus Zürich. Jedenfalls haben Sie darunter eingecheckt“, entgegnete der Detektiv gelassen und nippte erneut an seinem Sektglas.

„Ja und?“, erwiderte Sina, da sie den Eindruck hatte, dies sei noch nicht alles gewesen.

„Verstehen Sie mich richtig, Frau Brodersen alias Antonelli“, begann er sich genüsslich zu verbreitern. „Ich könnte Sie sofort auffliegen lassen und aufs Übelste denunzieren. Wenn ich es nicht tue, dann nur, weil ich heute einen guten Tag habe.“

„Ach, so ist das.“

„Ja, so ist das“, wiederholte er giftig.

„Was wollen Sie von mir?“, wollte Sina jetzt unvermittelt wissen.

„Im Moment noch gar nichts. Aber das kann sich schnell ändern“, erwiderte er mit einem abscheulichen Lächeln. „Bis dahin werde ich Sie beobachten. Nun – ich weiß nicht, warum Sie Ihre Identität verschleiern und aus welchem Grund Sie im Badrutt’s abgestiegen sind. Sollten Sie jedoch etwas Unbedachtes in diesem Land tun, werden Sie es zu spüren bekommen! Seien Sie versichert, dass ich Sie im Auge behalte.“

Das musste Sina erst einmal sacken lassen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Falls der Baron auf irgendeinem Weg davon erfahren sollte, wäre alles gefährdet. Das musste unter allen Umständen verhindert werden. Was jetzt zählte, war Ruhe und Übersicht. Koste es, was es wolle.

„Hören Sie, Herr Wegener. Wie Sie sehen, bin ich etwas durcheinander. Aber ich bin in der Tat inkognito hier“, begann sie sich zu erklären. „Der Grund besteht darin, dass ich auf der Flucht bin. Zwar nicht wegen irgendwelcher materiellen Forderungen, sondern um einer aufdringlichen Person zu entgehen. Wenn Sie verstehen.“

„Natürlich“, pflichtete er ihr bei, nachdem er emotionslos zugehört hatte. „Welchen Sinn sollte es sonst auch machen, hier unterzutauchen?“

„Sie haben es erfasst, Herr Wegener. Es wäre mir lieb, wenn Sie das für sich behielten. Kann ich auf Sie zählen?“

„Selbstverständlich, Frau Brodersen!“

„Frau Antonelli, bitte“, korrigierte Sina sofort.

Nach diesem Diskretionsversprechen bestellte Sina noch zwei Martini, um es zu besiegeln. Sie hoben die Gläser. Prompt fiel ihr Blick, Gott weiß warum, auf den goldenen Siegelring an seinem Finger. Hatte sie den nicht unlängst irgendwo schon gesehen? Um jede unnötige Gesprächsverlängerung zu meiden, schützte sie plötzliche Kopfschmerzen vor. Kurz darauf erhob sie sich, nahm ihre Handtasche und ließ ihn einfach sitzen.

Zügig ließ sie sich ins Badrutt’s zurückfahren. Unterwegs sah sie sich wiederholt um. Selbst im Fahrstuhl meinte sie, sich nicht wiederzuerkennen. Wo war bloß ihre gewohnte Selbstsicherheit geblieben? Sina verstand die Welt nicht mehr. Verstört eilte sie in ihr Zimmer und legte nach dem Schließen die Kette vor die Tür.

Innerhalb von Sekunden streifte sie ihre Handtasche von der Schulter und ließ sich aufs Bett fallen. Rotz und Wasser heulend, mit dem Kopf auf dem Kissen wie ein Huhn auf dem Hackklotz, hinterließ ihre Mascara auf dem weißen Bezug schwarze Flecken. Wenig später war sie eingeschlafen, ohne ihre pelzverbrämte Jacke aufgeknöpft zu haben.

Wegener indes blieb über seine weitere Vorgehensweise unentschlossen. Längst hatte er im Zuge seiner Recherchen Kenntnis vom Vorfall in Schleswig-Holstein erhalten und konnte sich denken, was sie wirklich vorhatte.

Natürlich gab er keinen Pfifferling darauf, dass sie auch nur das Geringste bezwecken könnte. Er hielt das Ganze für die Schnurre einer in ihrer Eitelkeit verletzten Frau. Deshalb verzichtete er vorerst auf Gegenmaßnahmen.

Vielmehr beschloss er, diese Frau Brodersen für die nächste Zeit zu beobachten und den Baron vorerst noch nicht zu informieren. Er würde es aber tun, sobald sie unbequem würde.

Während er gedankenversunken an seinem Martini nippte, vernahm er von der anderen Seite her ein schrilles: „Unverschämtheit! Das ist ja die Höhe! Machen Sie, dass Sie wegkommen!“

Sofort erhob sich der Detektiv und begab sich zum Roulette-Tisch, von wo der Lärm drang. Dort herrschte große Aufregung. Allen Ernstes behauptete eine der Damen, soeben von Eddi bestohlen worden zu sein. Natürlich bestritt dieser das und behauptete, die zur Rede stehende Brieftasche lediglich sichergestellt zu haben, da sie achtlos abgelegt war.

Den Vorwurf des Opfers, ob er sie veralbern wolle, tat er mit einem empörten: „Was erlauben Sie sich?“ ab. Daraufhin nannte ihn die Frau einen Lügner und – was ihn besonders kränkte – einen Lumpenhund. Um eine weitere Eskalation zu vermeiden, hielt es der Security-Mann für unvermeidlich, den Beschuldigten ohne weitere Erklärung effektvoll am Kragen zu packen und mit einem schmerzhaften Armhebel nach draußen zu befördern.

Vor der Tür, wohin ihnen eine ganze Gruppe schaulustiger Gäste gefolgt war, erteilte ihm Wegener offiziell ein endgültiges Hausverbot. Eddis Interventionsversuch würgte er im Ansatz ab. Dann jagte er ihn unter dem Beifall der Umstehenden mit einem beherzten: „Lass dich hier nicht mehr blicken, du Auswurf!“ wie einen räudigen Hund davon und klopfte sich demonstrativ die Hände ab.

Kaum hatte sich die Ansammlung unter lobender Anerkennung für sein couragiertes Einschreiten verzogen, lief der Sicherheitsmann dem Verjagten hinterher. Am Zauntor holte er ihn ein und hieb ihm tröstend auf die Schulter.

„Ich hoffe, du hast Verständnis für meine Lage“, schwächte Francesco das Ganze ab und bot diesem ‚Aufwurf‘ eine Zigarette an. „Du weißt, dass ich so etwas nicht deckeln kann. Mach‘ mir also keinen Vorwurf!“

„Mache ich auch nicht“, brummte Eddi, der dieses Spiel bereits kannte und wie ein Halbstarker seine Daumen beiderseits in den Hosenbund gehakt hatte. „Aber musstest du mich gleich beleidigen? Immerhin bin ich dein Bruder!“

„Mama Mia! Was genug ist, ist genug!“, lamentierte Francesco.

„Ach ja? Und das Maß bestimmst natürlich du! Und um Eindruck zu machen, musstest du mich noch beleidigen!“ Eddi spuckte aus. „Prendi il diavolo!2“ Und nachher rennst du wieder in die Kirche, trällerst mit weißer Weste in deinem ach-so-frommen Chor ein ‚Halleluja‘ und meinst …“

„Vorsicht, mein Freund. Pass auf, was du sagst!“

„Du warst es doch, der mich am Kragen gepackt und beleidigt hat“, antwortete Eddi mit reduziertem Mitleid.

„Ja, und womit? Mit Recht!“, keilte Francesco zurück.

„Ja, ja! Wie immer. Du hast ja immer recht. Dummerweise finde ich, dass ich auch im Recht bin!“, knurrte sein Bruder.

„Seit wann bist du so dünnhäutig?“, wunderte sich Francesco. „Ehrlich gesagt verstehe ich deine ganze Aufregung nicht. Habe ich dich bisher nicht aus allem rausgehalten? Wo wärst du ohne mich? He? Was kann ich dafür, wenn du dich erwischen lässt! Du solltest froh sein, dass ich die Sache auf diese Weise geregelt habe. Oder wäre es dir lieber gewesen, sie hätte diesen widerlichen Heinig informiert? Der hätte doch glatt die Bullen gerufen und im ungünstigsten Fall wärst du eingefahren. Aber zum Glück hattest du ja noch deinen Bruder, den du jetzt zum Dank beschimpfst!“

„Aber musstest du mich gleich Auswurf nennen?“, fluchte Eddi, den Tränen nahe. „Bin ich nicht ein Mensch? Habe ich keine Würde?“

„Ach komm. Jeder schwächelt mal. Was soll ich denn machen, wenn diese Schrapnelle danebensteht.“, intervenierte Francesco, seinen vorwurfsvollen Blicken ausweichend. „Du kennst unseren Deal. Anfüttern ja, aber nicht überziehen. Das sind wir unseren Gästen schuldig.“

„Bleib mir bloß vom Leib!“, tobte Eddi. „Nicht mehr lange und ich packe aus. Dann wollen wir mal sehen, was dein verehrter Dr. Heinig sagt, wenn er erfährt, wer du in Wahrheit bist. Von wegen Wegener.“

„Halt bloß den Mund!“

Doch Eddi ließ sich nicht aufhalten. Er trat auf seinen Bruder zu und kam ihm gefährlich nahe, dass sich fast ihre Nasen berührten. Unentwegt mit dem Zeigefinger auf Francescos Brust tippend provozierte er weiter. „Einen dümmeren Namen hättest du dir nicht aussuchen können. Nur keine Sorge, er passt du dir – linkisch und verlogen!“, schimpfte er und spuckte verächtlich aus. „Und was deinen großartigen Auftritt soeben betrifft; du kannst sülzen, was du willst – Quark wird durch Treten nur breiter, aber nicht fester!“

„Du solltest nicht mehr so viel trinken, Eddi! Sonst kann ich bald nichts mehr für dich tun!“ Francesco hatte schnell gelernt, wie die Welt funktionierte und welcher Platz ihm darin gebührte – der an der Spitze. Diesbezüglich tat er alles. Ermahnend bemerkte er: „Es ist besser, wenn ich das nicht zur Kenntnis nehme.“

„Wichser!“ Eddis spuckte vor ihm aus. „Ich weiß, was ich künftig tun werde und du mein heiliger Gottessohn wirst mich daran nicht hindern! Verpiss dich!“

„Willst du Chamäleon etwa zum Spielverderber werden? Das würde ich mir überlegen!

„Ich habe keine Angst! Vor niemandem!“, schrie Eddi. Dann starrte er ihn mit offener Feindseligkeit an. „Leck mich, du mieses Schwein!“ Mit diesen Worten ließ er seinen Bruder stehen und zwang ihn somit zu einem entsprechenden Bericht, den Francesco eigentlich vermeiden wollte.

Leider kannte er Eddi und seinen Jähzorn und wusste, dass er in seinem Zustand zu allem fähig war. Daher war Selbstschutz zwingend notwendig. Mit gleichgültiger Miene zog er sein Smartphone aus der Tasche. Während des Telefonates bewegte er die Schuhspitze auf dem Boden hin und her, als zerquetschte er etwas.

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