Читать книгу Monstratorem - Anja Gust - Страница 11
Die Töpferstube
Оглавление„Nein, das ist doch …!“ Sina zog das Lenkrad nach rechts und konnte im letzten Moment einem frontal entgegenkommenden Fahrzeug gerade noch ausweichen. Ihr Wagen kam dabei derart ins Schlingen, dass er sich zu überschlagen drohte. Nur knapp konnte sie ihn abfangen und stieß zu allem Unglück mit dem Kopf gegen das Steuer. Ihr Fuß stand auf der Bremse und nach einer halben Ewigkeit kam der dunkelgrüne Range Rover endlich zum Stehen.
Wo kam der denn so plötzlich her? War der lebensmüde? Durch den Rückspiegel schaute sie ihm noch nach, konnte aber nicht mehr das Kennzeichen erkennen. „Vollidiot!“, rief sie ihm hinterher. Mit rasendem Puls registrierte sie, wie die Rücklichter eines dunkelblauen Audi Avant hinter der nächsten Kurve verschwanden. Sodann sah sie in den Spiegel und bemerkte die Rötung an ihrer linken Stirn. Das würde eine dicke Beule geben. Fahrig kramte sie ihr Smartphone aus der Handtasche hervor und drückte kühlend die Glasfläche auf die schmerzende Stelle. Dann schaltete sie die Warnblinkanlage ein.
Gott sei Dank war Boy unverletzt. Er saß im Fangkorb und hechelte. Wütend stieg Sina aus und besah sich den Schaden: Der linke Außenspiegel war von der Karosserie abgerissen und lag jetzt sicherlich irgendwo da hinten. Sie taumelte einige Meter zurück. Schließlich konnte sie ihn am Straßenrand ausfindig machen. Als sie ihn jedoch näher betrachtete, stellte sie fest, dass es nicht ihrer war. Er gehörte zum blauen Audi. Die Bruchstellen waren noch frisch und vor allem ziemlich markant. Daran wäre jederzeit eine Zuordnung möglich. Also steckte sie ihn ein.
‚Wenigstens hast du auch was abbekommen‘, dachte sie mit einer gewissen Genugtuung, obwohl sie es noch immer nicht recht verstand. Das hätte böse enden können. Dabei lag gar kein Grund vor, sie derart scharf zu schneiden. Die Straße war frei gewesen und sie hatte niemanden behindert. Entweder war der Kerl besoffen oder stand unter Drogen. Der eigene Spiegel hingegen blieb verschwunden.
„Sonntagsfahrer!“ Fluchend stampfte sie zum Rover zurück und stieg ein. Ihren mittlerweile aufgeregt bellenden Mops steckte sie ein paar Leckereien zu und sagte ihm ein paar liebe Worte. Dennoch haderte sie mit sich. Schließlich schaltete Sina die Warnblinkanlage aus und fuhr weiter. Fahrig strich sie sich eine Strähne aus der Stirn. Einen Moment später bog sie auf die Hauptstraße ab und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein.
Der Schreck saß ihr noch lange im Nacken. Dabei war sie bis jetzt euphorisch gewesen, nachdem sie einige Gartenzwerge von Volkers frisch geliefertem Nachschub in eine große Reisetasche gepackt hatte und dazu einige fertig restaurierte Exponate der letzten Wochen. Sie war überzeugt, diese Frau Blank damit zu beeindrucken. Gott sei Dank war alles heil geblieben. Das hätte noch gefehlt. Am heutigen Tage war der Termin fest eingeplant. Nichts war für ein Geschäft tödlicher als Unpünktlichkeit.
Gleichwohl war ihr auch ein wenig mulmig zumute. Eilte dieser Frau Blank doch der Ruf eines schwierigen Charakters voraus. Demnach galt sie als verschroben und eigensinnig. Einige behaupteten sogar, sie habe einen Sprung in der Schüssel. Dennoch blieb unstrittig, dass sie als Expertin für Nostalgie-Design einen ausgezeichneten Ruf genoss. Wen interessierte daher solches Geschwätz!
Sina schaute auf die Uhr und erschrak. Ganze zwanzig Minuten hatte sie verloren. Die galt es jetzt wieder aufzuholen. Daher drückte sie auf die Tube. Boy schlief derweil.
Hinter der nächsten Kurve in Ostenfeld leuchtete unvermutet das signalrote Haltelicht eines Bahnüberganges und die Schranken senkten sich zügig hinter dem Andreaskreuz. Diesen Übergang hatte sie eigentlich noch schaffen wollen. Sina reihte sich in die wartende Autoschlange, stellte den Motor aus und bemerkte vor sich einen Fiat Panda mit einer gehäkelten Klorolle in der Hutablage. Aus Erfahrung wusste sie, dass die Öffnungsphase nur sehr kurz war. Wenn ihr Vordermann nicht aus dem Knick kam, könnte es knapp werden.
Der Zug kam aus Richtung Rendsburg und hielt unmittelbar am nahegelegenen Bahnsteig. Als sich die Schranke klirrend hob, hätte sie diese Pappnase im Panda am liebsten angeschoben. Aber Gott sei Dank kam sie mit rüber. Nun konnte sie wieder Zeit gutmachen. Bald darauf bog der Rover in der Ortschaft Westensee ein.
Nun brach die Sonne endgültig durch die Wolkendecke. Von den Gletschermassen der Eiszeit geschliffen, von der Quelle der Eider gestempelt und vom Wetter geprägt, blätterte sich die Schönheit des östlichen Hügellandes vor ihr auf. Das tat ihrer Seele gut.
Zur Linken fuhr sie an der mittelalterlichen Catharinenkirche vorbei, die auf der Rückseite mit der Sakristei und der Ahlefeldtschen und Bosseer Kapelle erhaben auf ihren Feldsteinen thronte. Selbst eine jahrelang schwelende Fehde um dieses prestigehafte Gotteshaus konnte dem ehrwürdigen Gebäude nichts anhaben. Raubrittertum, dänische Ahnen, Wallfahrtsort, einen angeblichen Goldschatz, der Pest und einer mutwillig gelegten Brandstiftung zum Trotz, leuchtete die Kirche mit silberner Turmspitze weit über das Land. Sina nahm sich vor, Heiligabend am Gottesdienst teilzunehmen. Laut Volkers Tipp bestach die Zeremonie durch das minutenlange Glockenläuten in die Weihnachtsnacht hinein. Allein bei dem Gedanken überzog sie eine Gänsehaut.
Konzentriert starrte sie auf den abschüssigen Weg, schaltete in den zweiten Gang und fuhr in Richtung Ortsmitte. Sina beobachtete eine ältere Dame, die mit der rechten Hand ihren schwarzen Pudel an einer roten Leine führte, mit den Fingern der Linken ihren Lodenmantel vor der Brust zusammenhielt und auf den ortsansässigen Kaufmann zu tippelte. An der nächsten Kreuzung wies ein Schild in Richtung Töpferkunstgalerie. Langsam holperte ihr Rover über das Kopfsteinpflaster der Straße ‚Im Wiesengrund‘ dem ersehnten Ziel entgegen.
Dort parkte sie am Grünstreifen, stieg aus und besah sich nochmals den Schaden. Alsbald erlöste sie den quengelnden Mops aus der Transportsicherung und setzte ihn auf den Boden. Sofort schnüffelte er los und platzierte seine Duftmarke an den nächstgelegenen Busch. Dann hängte sie sich ihre Handtasche über, nahm Boy auf den Arm und mit der anderen Hand die Tasche mit der Verhandlungsware. Danach begab sie sich zu dem kleinen, unscheinbaren, ein wenig windschiefen Haus, das mal wieder einen Farbanstrich vertragen konnte.
Boy kläffte, als sie ihn an der Haustür herunterließ, und verriet somit ihre Ankunft. Noch bevor Sina den Klingelknopf drücken konnte, wurde die Tür geöffnet. „Guten Tag, Frau Blank. Sina Brodersen mein Name. Wir waren um fünfzehn Uhr verabredet“, begrüßte sie die Hausherrin und überspielte mit einer forsch entgegengestreckten Hand ihre Nervosität.
„Aja. Kommen Sie nur herein“, erwiderte die grauhaarige Dame mit dem dunkelblauen Arbeitskittel und einer altmodischen Haarklammer über der Stirn. Sie machte eine einladende Geste. Wortlos schritt die Töpferin vorweg und führte ihren Gast in das nostalgisch eingerichtete Wohnzimmer.
Dieses war zu Sinas Verwunderung neben allerlei antiquiertem Mobiliar mit einem Übermaß an Plüschtierchen, gehäkelten Deckchen und sonstigen Nippsachen aus Porzellan und Plastik vollgestellt, oder genauer gesagt: vollgemüllt. Frau Blank musste gar einige dieser Teile beiseiteräumen, um einen Stuhl freizumachen. Überraschenderweise prangten einige passable Gemälde an den Wänden, allerdings schief und verstaubt. Alles in allem war es so bedrückend eng, dass Sina erste Anzeichen ihrer Klaustrophobie bemerkte. Diese äußerten sich in kaltem Schweiß und leichtem Zittern. Nervös knibbelte sie an den Fingernägeln.
Sie nahm mit sichtlichem Unbehagen Platz, wobei sie sofort bemerkte, dass die Hausherrin ihrem vorauseilenden Ruf durchaus gerecht wurde. Sie wirkte überaus pedantisch und untermalte ihr Reden mit sonderbaren, völlig überflüssigen Gesten. Ihr Gesicht hingegen schien angenehm, wobei man ihr die Sechzig noch nicht ansah. Ihre Haut war noch jugendlich straff und wies lediglich an der Augen- und Mundpartie einige Fältchen auf. Allerdings verbreitete sie eine große Unruhe, indem sie sich ständig umsah, unkontrollierte Verrenkungen machte und hin und wieder mit dem linken Mundwinkel zuckte.
Auch schien sie es mit der Reinlichkeit nicht besonders genau zu nehmen. So entdeckte Sina sofort einige größere Flecken auf der schon bejahrten Couch. Weiterhin roch es ziemlich stark nach kaltem Rauch und feuchter Wäsche. Am meisten jedoch störten sie die langen, dunklen Spinnweben in den Ecken. Alles wirkte düster und altbacken. Außerdem dämpften die trüben Scheiben das Tageslicht merklich. Das war schon sehr befremdlich.
Sina hob den Mops auf ihren Schoß. Ihr missfiel, dass die Gastgeberin sofort das Wort ergriffen hatte und unentwegt von Dingen schwatzte, die mit ihrem Besuch nur wenig zu tun hatten. Das war typisch für Leute, die unter chronischem Gesprächsmangel litten und nun die Gelegenheit ergriffen, alles Mögliche loszuwerden. Vor allem, was niemanden interessierte. So beklagte die Alte unter anderem die Folgen der jüngsten Maul- und Klauenseuche, schimpfte auf den Landarzt, der anscheinend seine Praxis nicht in Griff habe, und landete schließlich beim Jahresallzeithoch des Wasserstandes des Nord-Ostsee-Kanals und der damit verbundenen Schleusenproblematik. Kurzum, sie redete reichlich durcheinander, was sofort ein merkwürdiges Empfinden in Sina auslöste. Erst nach und nach gelang es ihr, das Gespräch, oder genauer, den Monolog dieser offenbar etwas überspannten Dame in die notwendige Richtung zu lenken.
„Sie kommen also wegen der Gartenzwerge“, meinte die Töpferin schließlich und sah ihren Gast verschmitzt an. „Und in dieser Tasche sind die Exemplare, die Sie mir zeigen wollen!“ Doch bevor Sina etwas erwidern konnte, machte Frau Blank einen erneuten Schlenker. „Was ist denn das für ein Hund? Ist das überhaupt einer? Der sieht so komisch aus!“ Mit einem Ausdruck des Unwillens wies sie auf Boy, der achtsam auf Sinas Schoß saß und die Töpferin fortwährend anknurrte. „Beißt der etwa? Kriegt der überhaupt Luft, so wie der aussieht?“
„Wo denken Sie hin, Frau Blank! Das ist Boy, mein Mops. Natürlich kriegt er Luft. Schließlich ist er ein ‚Freiatmer‘!“
„Ein Freiatmer?“, wiederholte sie erstaunt und zog ein langes Gesicht. „Was es alles gibt!“
„Und stellen Sie sich vor. Er ist das liebste und treueste Wesen auf der ganzen Welt“, versicherte Sina sogleich. „Und ich kann Ihnen versprechen, er ist völlig harmlos. Allerdings nur zu guten Menschen. Er spürt das nämlich.“
„Na, dann muss ich mich ja vorsehen, bei meiner wilden Natur, hahaha“, scherzte die Hausherrin und wusste wohl selbst nicht, worüber sie lachte. „Darum knurrt er auch so. Verstehe!“ In diesem Augenblick erhob sich Boy und bellte. Anscheinend spürte er die Antipathie dieser Frau.
„Er hatte heute einen schweren Tag“, sagte Sina zu seiner Verteidigung.
„So so. Nun ja, jetzt sind Sie ja hier und das ist schön“, bemerkte Frau Blank. „Sie müssen wissen, dass ich seit dem Tod meines Mannes alleine bin und manchmal schon mit den Wänden rede. Wissen Sie, wie es ist, von ihnen erschlagen zu werden?“
„Sie meinen, von den Wänden?“, fragte Sina irritiert.
„Nein! Von denen, die durch die Wände kommen. Plötzlich sind sie da und reden mit einem, ohne dass ich sie sehen kann. Mit jemandem zu reden, den man nicht sehen kann, ist sehr schwierig. Obwohl ich das öfter tue, kann ich mich nicht daran gewöhnen. Ist das nicht komisch?“
„Durchaus nicht“, erwiderte Sina und rutschte nervös auf ihrem Platz herum.
„Das sagen Sie doch nur, um mich zu beruhigen“, folgerte die Hausherrin und sah sie scheel an.
„Warum sollte ich?“
„Weil Sie jetzt denken, ich habe nicht alle Tassen im Schrank! Das denkt nämlich jeder, sobald ich davon anfange! Aber ich sage Ihnen, es gibt sie! Sogar in diesem Raum!“ Sie schaute sich ängstlich um.
„Wen meinen Sie mit ‚sie‘?“, wagte Sina nachzufragen.
„Wenn Sie das erst fragen müssen, haben Sie es nicht begriffen.“
Sina zog ratlos die Augenbrauen bis zum Nonplusultra, denn sie hatte in der Tat kein Wort verstanden. Ohne dieses Rätsel zu lösen, wurde Frau Blank mit einem Male überaus geschäftig.
Sogleich begab sie sich zu einem linksseitig an der Wand befindlichen Regal, setzte ihre Brille auf und begann es zu durchwühlen. Nachdem sie eine Mappe herausgezogen hatte und darin zu blättern begann, kramte sie schließlich Sinas E-Mail-Anfrage hervor. Rasch vergewisserte sie sich noch einmal ihres Anliegens und kam erstaunlich schnell zur Sache. „Frau Brodersen aus Ahlefeldt also. Interessant. Sie wohnen tatsächlich dort alleine auf dem Hof?“
„Woher wissen Sie das?“ Sina war erstaunt und erschrocken zugleich.
Die Hausherrin zog die Brille auf die Nasenspitze und sah sie über den Brillenrand durchdringend an. „Sie sind doch die Tochter von Lore Brodersen, nicht wahr? Und von ihrem Mann, dem Kurt ‚Kinderschreck‘, wie man ihn damals nannte, oder?“
Augenblicklich verspürte Sina einen Stich im Herzen. Diese Frau kannte ihre Eltern? Damit war nun wirklich nicht zu rechnen.
„Jetzt staunen Sie, nicht wahr!“ Frau Blank grinste zufrieden. „Ich hatte sofort so ein komisches Gefühl, als ich Ihre Mail bekam und den Namen las. Dann überlegte ich, ob das wohl die kleine Sina mit den weißen Kniestrümpfen und den kurzen Faltenröcken von einst war. Jaja, jetzt gucken Sie! Haha, habe ich Sie ertappt. Sie werden sich kaum daran erinnern, aber wir sind einander schon einmal begegnet. Damals waren Sie allerdings noch ganz klein und ihr Papa spielte mit Ihnen auf seinem Schoß ‚Hoppe, hoppe Reiter‘. Ich kannte ihre Mutter ganz gut, Gott hab sie selig, und nun ja, wenn es nicht zu vermessen klänge, ich weiß daher auch einiges über Sie.“
„Wirklich?“ Augenblicklich wurde Sina ganz schlecht. Am liebsten wäre sie jetzt hinausgerannt. „Ich denke, das gehört jetzt nicht hierher!“, blockte sie dieses Thema ab. „Sie wissen nun ja, weshalb ich komme, und daher sollten wir besser darüber reden. Es ist mir nämlich sehr wichtig.“
„Ich verstehe. Man will ja auch an manches nicht erinnert werden, nicht wahr?“, stichelte die Töpferin weiter und vergrößerte damit Sinas Unbehagen bis zur Unerträglichkeit.
„Tut mir leid, aber was meinen Sie?“, kehrte sie jetzt ungewollt zu diesem Thema zurück. Und wieder klopfte ihr das Herz bis zum Hals.
„Ach, so dies und das, was damals alle wussten, oder besser, zu wissen glaubten. Das ist ja immer ein Unterschied und es ist einfach furchtbar, diese ständigen Tratschereien auf dem Lande. Darum interessiert es mich zum Beispiel auch gar nicht, was man über mich erzählt … Und nun geben Sie schon her. Was haben Sie da?“, brach sie plötzlich ab und schob ihre Brille wieder auf den Nasenrücken.
Sina setzte Boy auf den Boden, der sogleich herumzuschnüffeln begann. Dann nahm sie die Tasche auf und breitete vor ihrer Gastgeberin auf dem Tisch einige Stücke der mitgebrachten Kollektion aus, überwiegend putzige Wichtelmänner aus Keramik und Ton. Voller Spannung erwartete Sina ihre Einschätzung.
„Nun ja, die Farben, Nuancen und Schattierungen sind schon recht bemerkenswert nach der Restauration. Durchaus solide Arbeiten. Haben Sie noch mehr davon?“, fragte die Expertin nach einem kurzen, kritischen Blick.
„Habe ich. Aber ich dachte mir, ich zeige Ihnen erst einmal die, welche mir am bemerkenswertesten erscheinen.“
„Papperlapapp! Das ist typisches Anfängergeschwätz!“, blaffte die Töpferin plötzlich völlig unerwartet los. „Die wirklich guten Stücke sind meist die am wenigsten Bemerkenswerten. Das ist ja das Verflixte! Weniger die Farben als der Ausdruck ist an ihnen entscheidend. Verstehen Sie, der Ausdruck! Allein darauf kommt es an! Nehmen wir doch mal den hier!“ Sie nahm jetzt einen von den kleineren Wichtelmännern, dessen Farbe schon arg verblichen war und nur noch einen Ansatz von seinem einstigen Aussehen verriet. „Für einen Laien erscheint er auf den ersten Blick völlig wertlos, und man würde ihn jederzeit ohne mit der Wimper zu zucken entsorgen. Aber jetzt sehen Sie sich ihn mal etwas genauer an.“
Sie hielt ihn Sina unter die Nase wie einem dummen Kind, das nichts versteht und nichts begreift. „Und was sehen Sie? Sein Gesicht! Fällt Ihnen nichts auf? Es wirkt traurig. Im Gegensatz zu den anderen hat diese Figur eine Physiognomie und eine solche bedingt eine Seele. Wer käme schon auf die Idee, einen leidenden Zwerg darzustellen, wenn nicht mit einer ganz bestimmten Absicht? Sie werden sich jetzt sicher fragen, was das soll, denn da achtet doch ohnehin keiner drauf. Weit gefehlt, kann ich da nur sagen, weit gefehlt, Frau Brodersen. Die Gestalt eines Zwerges steht synonym für unser Leid und nicht für unsere Freuden. Ja, Sie hören richtig, für unser Leid. Das ist auch der tiefere Grund für die Neigung der Menschen, ihre Umwelt auf diese Weise zu verkünsteln. Nur im Zwerg, niemals im Riesen, versinnbildlicht sich unsere Nichtigkeit in Vollendung. Nur so wird sie in dieser Adaption als Figur der Heiterkeit als genaues Gegenteil wahrgenommen, was wiederum unseren Sieg über den Weltenschmerz symbolisiert. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht?“
„Oje. Nein, ich …“, räumte Sina sichtlich verwirrt ein.
„Das sollten Sie aber, denn nur so können Sie die künstlerisch wertvollen Exemplare erkennen! Halten Sie mich eigentlich für verrückt?“, fragte sie jetzt erstaunlich direkt und schien sich darüber auch noch zu amüsieren. „Ich frage das nur, weil das jetzt normal wäre, denn Sie haben garantiert kein Wort von dem, was ich sagte, verstanden.“
„Habe ich auch nicht“, gab Sina unumwunden zu, „muss ich das denn? Sie sind doch die Expertin, nicht ich!“
Frau Blank stutzte für einen Moment, klatschte spontan in die Hände und rief voller Begeisterung aus. „Oha, das ist gut! Das muss ich mir merken! Sie gefallen mir, wirklich! … Sind Sie schon lange im Geschäft, Frau Brodersen, oder darf ich Sina sagen?“, begann sie jetzt mit einem seltsamen Lächeln vertraulich zu werden.
„Aber bitte sehr … Wenn ich ganz ehrlich sein soll, bin ich noch nicht sehr lange im Geschäft. Genauer genommen habe ich überhaupt keine Ahnung. Darum bin ich ja hier. Und wenn ich ehrlich bin, erhoffe ich mir durch diesen Besuch so einiges“, setzte Sina hastig hinzu.
„Ach, so ist das.“ Tabea lachte und betrachtete ihren Gast schlitzohrig von der Seite. „Du willst dir Tricks abluchsen, um mir Konkurrenz zu machen? Nur zu! Konkurrenz belebt bekanntlich das Geschäft. Ich stehe dir mit Rat und Tat gerne zur Verfügung. Nur eines bitte ich mir aus – lache niemals über mich!“
„Natürlich nicht!“ Sina schaute irritiert.
„Und nun zeig mal her, was du noch so hast!“, forderte Frau Blank und begann sogleich, noch weitere Stücke zu inspizieren. Dabei ließ die Art, wie sie es tat, ein wirkliches Interesse, man kann schon sagen ‚Gespür‘ erkennen, das nur einer tiefen Leidenschaft entspringen konnte, selbst wenn das einem Außenstehenden reichlich komisch anmutete. So hielt sie jedes Stück gegen das Licht, drehte und klopfte es ab und hielt es sich danach lange ans Ohr. Hinzu kamen ihre durchaus fundiert sachkundigen Bemerkungen, auch wenn diese zuweilen etwas schwülstig und hochtrabend den Eindruck einer gewissen Überspanntheit vermittelten.
Es bestand kein Zweifel, dass diese Frau nicht ganz bei Trost war. Doch wen interessierte das, solange sie Erfolg hatte. Und während Sina weiterhin mit einer gewissen Befremdung die Aktivitäten ihrer Gastgeberin beobachtete, die sorgsam ein Stück nach dem anderen inspizierte und jetzt sogar ein Okular benutzte, fiel ihr deren rissigen Hände auf. Offenbar arbeitete die Töpferin auch viel mit Chemikalien und legte keinen sonderlichen Wert auf eine pflegende Handcreme.
Plötzlich hielt sie einen der Wichtelmänner in die Höhe, es war der mit der abgeknickten Zipfelmütze und der Laterne in der Hand, und betrachtete eingehend den Bodenbereich. Dann nahm sie eine Pinzette zur Hand und begann darin herum zustochern. „Nanu? Was haben wir denn da?“, und hatte auf sonderbare Weise eine im Fußbereich des Zwerges verborgene Klappe geöffnet. Damit nicht genug. Nun zog sie auch noch einen silberfarbenen Schlüssel heraus und betrachtete ihn verwundert. Aber das war durchaus kein gewöhnlicher Schlüssel. Das sah man sofort. Auffallend war, dass er zu beiden Seiten einen Bart besaß, der wiederum durch einen Innenknick eine besonders hohe Verschlussstufe verriet. Mit anderen Worten, er ähnelte einem Safe- oder Tresorschlüssel, den sein Besitzer womöglich schmerzlich vermisste. „Woher haben Sie die Figur?“, wollte die Töpferin wissen.
Sina zuckte nur mit den Schultern. Sie dachte nicht daran, dieser Hexe auch nur einen Deut mehr zu sagen, als sie zur Verrichtung ihrer Arbeit brauchte.
„Wirklich? Das ist sehr schade, denn ich könnte mir denken, dass sich der Besitzer bestimmt über eine Rückgabe freuen würde.“
„Möglich. Aber ich habe die Figur gekauft, mit allem, was dazu gehört“, erwiderte Sina, nahm ihr den Schlüssel aus der Hand und steckte ihn ein.
„Ich denke, das ist ein ganz besonderer Zwerg“, ließ die Blank nicht locker. „Nicht nur wegen des Schlüssels. Sieh nur, wie präzise dieses kleine Fach hier hineingearbeitet wurde. Und damit nicht genug – diese Einarbeitung deckt sich exakt mit der darüberliegenden Wölbung, als gehöre sie dazu, um den Gesamtausdruck der Figur noch zu verstärken. Darüber hinaus war das Versteck nur durch Zufall zu finden. So etwas Filigranes habe ich noch nie gesehen. Fast könnte man von einem Meisterwerk sprechen. Verkaufst du mir diesen Bartträger? Ich gebe dir 500 Euro in bar.“
Sina schluckte. Das war ein bestechendes Angebot. Dementsprechend war die Verlockung natürlich groß. Was könnte man sich dafür alles kaufen. Ganz davon abgesehen, dass es ihre dauernde finanzielle Schwäche etwas abmildern würde. Andererseits war klar, dass dieses Exemplar mit Sicherheit um ein Vielfaches wertvoller war. Nicht umsonst machte die Töpferin ihr ein solches Angebot. „Tut mir leid, Frau Blank. Der ist unverkäuflich.“
„Tabea – wir waren doch beim Du, oder?“, korrigierte sie die Hausherrin sofort, deren Gesicht plötzlich einen ganz anderen Ausdruck annahm. Jede Überheblichkeit war verschwunden. Dafür stand jetzt eine eigenartige Verwunderung.
„Ja, natürlich, Tabea“, willigte Sina notgedrungen ein.
„Darf ich dich mal drücken?“
„Wie bitte?“ Sina glaubte sich verhört zu haben.
„Ganz so wie früher.“
„Wenn es denn sein muss“, begann sie sich zu winden.
„Du kannst auch Nein sagen.“
Entsetzt starrte Sina die alte Schachtel an. Schließlich ließ sie es mit hochrotem Kopf über sich ergehen. Augenblicklich stieg ihr ein penetranter Geruch in die Nase. Nie und nimmer hätte sie gedacht, dass ihr so etwas passieren würde. Nicht auszudenken, wenn sie jetzt von jemandem gesehen würde. Sie fühlte sich in diesem Moment sehr unbehaglich. Die Luftnot wurde immer ärger. Fast schien ihr, als befände sie sich in einem absurden Spiel.
Tabea sah sie verwundert an und fragte: „Was hast du denn da?“
„Was denn?“, erwiderte Sina.
„Na, die Schwellung an deiner Stirn. Hast du dich dort gestoßen?“
„Ach so, das meinen Sie, ich meine natürlich du!“ Sina lächelte verlegen und nahm Boy wieder auf ihren Schoß, der langsam ungeduldig wurde. „Eigentlich ist es nichts“, winkte sie ab.
„Eigentlich? Wie meinst du das?“
„Nun ja. Du wirst es kaum glauben, aber ich habe mich tatsächlich auf der Herfahrt gestoßen.“ Und nun erzählte sie ihr von dieser unliebsamen Zusammenkunft, von diesem ‚Beinaheunfall‘, den sie gerade noch verhindern konnte. „Ein blauer Audi war es. Ich habe es gerade noch erkennen können. Dann war der Raser auch schon um die nächste Biegung verschwunden.“
„Komisch“, erwiderte die Töpferin daraufhin und wirkte mit einem Mal sehr nachdenklich.
„Was bitte schön ist daran komisch?“
„Nun, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, vielleicht ist das auch nur Unsinn. Etwa dreißig Minuten vor deiner Ankunft klingelte jemand an meiner Tür. Es war ein gutaussehender, überaus adrett gekleideter junger Mann. Ich habe ihn hier noch nie zuvor gesehen. Erst hielt ich ihn für einen Vertreter und wollte ihn wegjagen. Da fragte er mich plötzlich, ob ich ein Antiquariat betreibe und mich eventuell auf Gartenzwerge spezialisiert hätte. Ich guckte in diesem Moment nicht schlecht, denn meine Internetseite weist in keinerlei Form etwas zu meiner Privatanschrift aus. Jeder Kontakt, wie auch in deinem Fall, kommt immer erst nach vorheriger Absprache und Ankündigung zustande. Ansonsten bin ich aus Sicherheitsgründen weitestgehend anonym. Woher wusste dieser Mann also von meiner Privatanschrift?“
„Ja und? Was habe ich damit zu schaffen?“ Sina verstand nicht.
„Dieser Mann war in einem blauen Audi Kombi unterwegs und dem Wagen fehlte auf der Fahrerseite der Außenspiegel. Es war ein neuerer Bagatellschaden, da die Kratzer im Lack noch nicht verrostet waren. So was fällt mir immer auf, weil ich mir nicht nur Zwerge genauer ansehe. Da hat man einen scharfen Blick fürs Detail. Ich denke, der Schaden ist heute oder die letzten Tage entstanden. Der war noch keine Woche alt.“
Sina wurde hellhörig, denn das war in der Tat ein merkwürdiger Zufall. „Und der hat sich für Gartenzwerge interessiert?“
„Ja, durchaus. Kennst du den Kerl etwa?“, wollte die Blank sogleich wissen.
„Unsinn. Dabei wäre ich selber dringend daran interessiert zu wissen, wer das war, denn er hat mir nämlich ganz nebenbei ebenfalls den Spiegel abgefahren. Dieser Idiot.“
Die Blank schüttelte jetzt ihrerseits mit dem Kopf und verblüffte Sina mit der Aussage, er habe ihr sogar seinen Namen gesagt. Nach kurzem Nachdenken fiel er ihr wieder ein. „Tom Enders, Wenders oder Wanders, oder so“, rief sie erleichtert aus. „Tom aber auf jeden Fall. Da bin ich mir sicher. Ob er wirklich so heißt, weiß ich natürlich nicht. Aber warum sollte er mich belügen? … Was wirst du jetzt tun? Den Namen recherchieren oder eine Anzeige erstatten? Das ist sehr gefährlich. Man weiß ja nie, was das für ein Typ ist.“
„Ich weiß noch nicht“, erwiderte Sina. „Vielleicht lässt er sich tatsächlich ermitteln. Wenn er mit sich reden lässt und mir den Spiegel ersetzt, wäre das für mich damit erledigt.“
„Sei bloß vorsichtig. Irgendwie war der mir nicht geheuer.“
„Inwiefern?“
„Kann ich nicht sagen. Es war mehr ein Gefühl. Er hatte so komische Augen, weißt du? Solche, die selbst beim Lachen starr bleiben. Wenn du verstehst, was sich meine … Wie wollen wir jetzt verbleiben? Kommen wir wegen des Zwerges noch ins Geschäft?“, drängelte die Töpferin erneut.
„Ich werde mich zu gegebener Zeit noch einmal melden. Doch heute nehme ich erst einmal nur die Farbbestellung mit“, versprach Sina, setzte Boy wieder runter und stand auf. „Hat mich sehr gefreut, deine Bekanntschaft gemacht zu haben.“
„Gleichfalls. Es war schön, dich wiederzusehen.“
„Wo könnte man in der Gegend eine Kleinigkeit essen?“, fragte Sina.
„Oh, da solltest du in Billers Gasthof in Haßmoor einkehren und dort unbedingt die Kaiser-Wilhelm-Torte ausprobieren! Das ist etwas für Genießer.“ Sina nahm den Karton mit den vorbestellten Farben an sich, bezahlte und gab Tabea zum Abschied die Hand. Kurz darauf verriegelte diese die Tür zweimal hinter sich.
Mit geschulterter Tasche voller Exponate und dem Karton unterm Arm ging Sina zum Rover zurück. Boy wuselte derweil um ihre Beine. Sie war jetzt völlig durcheinander und kam nicht zur Ruhe. Was hatte das alles zu bedeuten? Vor allem aber, was sollte diese ekelhafte Umarmung? Was bildete sich die alte Schabracke bloß ein! Und dann dieser Sonntagsfahrer – es war wirklich mysteriös. Und woher, verdammt nochmal, kannte die Blank ihre Eltern? Und was sollten diese komischen Andeutungen? Aber wie Sina es auch drehte, irgendwie ergab das alles keinen Sinn.
Auf dem kiesbedeckten Parkplatz des Kaufmanns hielt sie an. Sie kramte den Schlüssel aus der Handtasche hervor und betrachtete ihn genauer. Die Blank hatte Recht. Das war kein Null-acht-fünfzehn-Schlüssel. Und wenn, könnte natürlich jemand ein Interesse daran haben, diesen so schnell wie möglich wiederzubekommen. Ob er ein Geheimnis hütete?
Sie hätte jetzt nicht erklären können, warum, aber mit einem Male bekam sie es mit der Angst und hätte den Schlüssel am liebsten weggeworfen. Dann entschied sie aber anders. Sie würde ihn zuhause in Boys Hundekorb unter der Matratze deponieren. Dort würde ihn garantiert niemand finden. Und die Blank bekam ihn keineswegs. Das könnte der so passen! Wenn es hier einen Reibach zu machen gab, dann bestimmt nicht durch sie. „Und du sagst kein Wort!“, fuhr sie den Hund an, der sie daraufhin schnöde anblaffte. Beim Anfahren spritzte der Kies unter den Rädern. Und während Sina die empfohlene Gaststätte ansteuerte, zogen schwarze Wolken über das östliche Hügelland auf.