Читать книгу Monstratorem - Anja Gust - Страница 8
Alltag
ОглавлениеMit Blüten im Portemonnaie fuhr er los. Die Adresse war leicht zu merken. Etwas aufzuschreiben wäre unprofessionell. Dank GPS fand er die Straße punktgenau, wobei er den blauen Audi durch typische Wohnviertelgassen mit Häusern aus der Jahrhundertwende manövrierte. Diese wirkten nostalgisch, verschroben, nicht unbedingt anheimelnd und doch imposant.
Aus Sicherheitsgründen parkte er den Wagen ein paar Ecken weiter und bemühte sich um Unauffälligkeit. Unter der Kofferraumabdeckung wähnte er sein Bargeld sicher versteckt, hinzu kam eine Beretta und reichlich Falschgeld. Buchen säumten den Fahrbahnrand wie salutierende Posten.
Als er heute Morgen losfuhr, war der Mond noch zu sehen. Jetzt standen die Zeiger der Uhr bereits auf elf. Zielstrebig begab er sich zur besagten Hausnummer. Die Wohnung befand sich im vierten Stock, ohne Namensschild und lediglich mit einem silbernen Sternchen versehen. Ansonsten schien alles normal: Altbau, Kinderwagen im Flur und Bohnerwachsgeruch. Er klopfte wie vereinbart dreimal kurz und zweimal lang. Jemand entriegelte die Tür.
„Jacqueline?“, fragte er.
„Ja, komm herein“, erwiderte das Mädchen mit den hochgesteckten Haaren, das ihm öffnete. Sie lächelte freundlich, wobei ihre brombeerroten Lippen mit ihrer auffallenden Blässe kontrastierten und ihr eine puppenhafte Kälte gaben. Zügig verschloss sie die Tür. Dann führte sie ihn, vorbei an einer Kommode, auf der eine Visitenkarte lag, ins Gästezimmer – einen zweckmäßig eingerichteten Raum mit schweren braunen Samtstores und süßlichem Deodorantgeruch. Die Gardinen waren zugezogen und das rötlich gedimmte Licht erschien hier milchig dumpf, obwohl es draußen taghell war. Typisches Asthmawetter für einen nebeligen Tag Ende März in Kiel.
Das Zimmer war angenehm temperiert, seine Kehle hingegen trocken. Erst wollte er um ein Glas Wasser bitten, verkniff es sich aber. Mit einem sonderbaren Gefühl zwischen prickelnder Erwartung und Abscheu betrachtete er die tigerimitierte Tagesdecke des Bettes, den Spiegel an der Decke und die mit pinkfarbenem Plüsch gepolsterten Handschellen am Bettgiebel. Das ließ einiges erwarten. Es gab noch einen Durchgang mit Vorhang, zwei Sessel und einen Beistelltisch mit anderweitigen ihm nicht näher bekannten Accessoires.
Im mannshohen Wandspiegel gegenüber der Spielwiese erkannte er sich wieder, gleichwohl wanderte sein Blick zu ihr zurück. Sie war etwa Mitte zwanzig, schlank, blond, mit langen, wohlgeformten Beinen und einer hohen, jugendlichen Brust. Zudem hatte sie einen stolzen Gang, was auf ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein verwies. Das war ihm sofort aufgefallen, als sie vor ihm hergelaufen war und aufgrund des beengten Flurs zur Vorsicht mahnte.
Der Blick ihrer großen, hellen Augen hingegen wirkte freundlich und sanft, aber auch irgendwie unbestimmt und harmonierte absolut nicht mit ihrem Lächeln. Wie alle Mädchen ihres Gewerbes trug sie einen dunklen, mit silbernen Noppen besetzten Lederbody, der ihre Figur aufreizend betonte, dazu erwartungsgemäß Strapse. Die schwarzen High Heels gefielen ihm. Garantiert sähe sie ohne diesen ganzen Fummel wie jede andere aus und stand irgendwo im Supermarkt in der Schlange oder wartete auf den Bus. Allein dieser Gedanke torpedierte sein eigentliches Verlangen. Doch zur Umkehr war es zu spät.
„Dreißig Minuten fünfzig Euro, das ist mit Kondom“, riss sie ihn aus seinen Gedanken. „Hundert ohne. Sonderwünsche kosten extra.“
Wortlos zog er das Portemonnaie heraus und legte großspurig einen gelben Schein auf den Beistelltisch. „Der Rest geht aufs Haus“, bemerkte er.
Über die unerwartete Großzügigkeit erstaunt, hellte sich ihr Gesicht auf. Sogleich bereitete sie alles für eine exklusive Bedienung vor. Ihr Anblick faszinierte ihn. Es erinnerte ihn an die Aphrodite von Milos, deren Statue er schon mal irgendwo gesehen hatte. Und wäre ihr Körper jetzt noch von bläulichem Nebel umwölkt und von diffusem Licht bestrahlt, man hätte sie in der Tat für eine Göttin halten können.
Doch das war nur Fassade. Keine Frau takelte sich derart grundlos auf. Alles war zweckbestimmt und diente einem einzigen Ziel. Wer weiß, wie sie morgens um fünf nach einer durchzechten Nacht wirkte. Er hatte mal irgendwo gehört, dass eine Frau nur dann wirklich schön ist, wenn sie auch innerlich zu glänzen versteht. Wie das hier funktionieren sollte, blieb ihm unklar.
„Mach dich schon mal fertig, ich bin gleich wieder da“, forderte sie ihn auf und wies kopfnickend zum Bett. Dann verschwand sie hinter dem Vorhang, der offenbar in ein Badezimmer führte.
Er zog Schuhe und Socken aus, welche er akkurat unter den Stuhl platzierte. Der Rest folgte auf der Stuhllehne drapiert. Dabei betrachtete er seine Hände mit den filigran gezeichneten Venen. Sie waren sehr schlank und weich und konnten sehr zärtlich sein, aber auch wie Schraubzwingen zupacken. Doch darüber mochte er jetzt nicht nachdenken.
Entkleidet legte er sich auf das Bett, zog ein weißes Baumwolllaken bis zum Bauch und verschränkte beide Arme hinter dem Kopf. An das trübe Licht hatte er sich rasch gewöhnt. Allerdings vermisste er ein Kissen. Seltsam angespannt betrachtete er den goldenen Deckenspiegel, in dem sich sein kantiges Gesicht zeigte, welches von dunkelbraunem Haar umrahmt wurde.
Man sagte, es wirkte maskulin-herb. Wie immer das auch gemeint war, hässlich fand er sich nicht. Dazu hatte er schon zu viele Angebote bekommen, sogar von durchaus attraktiven Damen, die von Hause aus wählerisch sein konnten. Manche fanden ihn interessant, andere etherisch, ohne das jedoch näher zu erklären. Dabei störte ihn schon immer die seiner Meinung nach zu längliche Nase, die in Verbindung mit den hohen Wangenknochen seinem Gesicht etwas Aristokratisches, beinahe Überhobenes verlieh. Auch so etwas hatte er schon wiederholt gehört. Selbst wenn er nichts weiter darauf gab, störte es ihn, denn er war irgendwo auch verdammt eitel.
Plötzlich sinnierte er über die Zukunft. So etwas passierte ihm öfter, meist in den unmöglichsten Situationen, so wie jetzt. Dann fragte er sich, was ihn wohl erwartete, wenn er weiter so sträflich leichtfertig blieb und mit seinem Schicksal spielte. Aber vielleicht wäre es besser, solche Gedanken schnell wieder zu vertreiben. Sie verwirrten ihn und zerstörten alles.
Für einen Augenblick schloss er die Augen und sog die Luft tief ein, um sie möglichst lange innezuhalten. Das tat er immer, wenn er eine starke innere Anspannung empfand. Meist wurde er danach ruhiger. Heute jedoch gelang es ihm nicht. Mit einem Mal hatte er das Gefühl zu schweben, um danach wieder herabzusinken. Selbst die Wände drohten einzustürzen mit der grässlichen Vision eines qualvollen Erstickens. Er war irritiert, empfand jedoch keine Angst. Eine seltsame Beklommenheit erfasste seine Seele mit dem Gefühl, etwas Verlorenes auf wundersame Weise zurückzubekommen und sei es nur für einen winzigen Moment. Es war die Sehnsucht nach Liebe und Zweisamkeit, Vollkommenheit und Harmonie – kurzum, all das, was er bisher entbehren musste und schon deshalb bei anderen nicht ertrug. Dieses Gefühl setzte sich in seinem Herzen fest wie eine eiserne Klammer und es gab kein Mittel, sich davon zu befreien. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren.
Das Mädchen kam zurück. Sie duftete nach Moschus und hatte den Lederbody gegen weinrote Spitzenunterwäsche getauscht, dessen Ränder Pailletten säumten. Sogleich begann sie, in ihren High Heels um ihn herumzutänzeln und dabei mit lasziv gesenkten Lidern langsam den linken, dann den rechten Träger des BHs abzustreifen. Wahrlich die perfekte Show. Alles saß, nichts war dem Zufall überlassen und folgte einer kalten Berechnung. Es war die Art, wie sie die Hüften wog, die Brust herausdrückte und sich zutiefst obszön verbog. Ihre bewusst zur Schau getragene Selbstverliebtheit, samt dem erstaunt berückten Ausdruck eines sich ihrer Fertilität bewussten Mädchens, verriet ihre Lust, sich in eigenartig wollüstiger Trance darzubieten. ‚Nun komm schon, spring an, ich will, dass es schnell geht‘, war darin zu lesen. Doch er dachte nicht daran.
Vielmehr starrte er sie mit jener Skepsis an, die er für jede käufliche Liebe empfand. Doch irgendetwas stimmte nicht. Es lag an ihren herzförmig türkisfarbenen Ohrsteckern, die irgendwie nicht zu ihr passten. Gleich einem Rudiment aus einer anderen Welt störte es die nahezu perfekte Show. Das befremdete ihn. Im Gegensatz zu vorhin schimmerte ihr Gesicht jetzt rosig. Es erinnerte ihn an ein frischgeborenes Ferkel, das er einst als Lausejunge zuhause aus dem Stall gehoben hatte. Der weiche Schweinebauch hatte nach Erde, Milch und Stroh gerochen, während er das Tier an sich gedrückt hatte. Verbunden mit ihren kindlichen Ohrsteckern, erweckte diese Erinnerung eine eigenartige Assoziation, die er hier nicht erwartet hätte und ihn zutiefst irritierte.
Mit knappem Blick deutete er aufs Bett, um dieses Spiel zu beenden. Inzwischen völlig entblößt, legte sie sich zu ihm und spulte routiniert ihr Repertoire ab, indem sie an seinem Ohrläppchen knabberte, Hals und Nacken liebkoste und schließlich seine Brust streichelte. Dabei hauchte sie ihm ihren heißen Atem ins Ohr und registrierte amüsiert jeden Schauer, der über sein bleiches Gesicht lief. Dann wieder glitten ihre geübten Finger an verbotene Stellen entlang, um sein Feuer dosiert zu entfachen. Hin und wieder verklärten sich seine blauen Augen.
Jetzt war es so weit. Sie schob ihren Schenkel seitlich über ihn und ließ ihn das leichte Stacheln ihrer Intimrasur fühlen. Jeder andere hätte die Beherrschung verloren. Ihn aber beschäftigte nur die Frage, wie oft sie es hier bereits getrieben hatte und was sie dabei empfand.
„Du bist schön“, schmeichelte sie und ließ ihre Finger liebkosend über seinen Bauch gleiten. Dennoch sah sie an ihm vorbei.
‚Heuchlerin‘, dachte er und fragte sich, warum die Menschen niemals ohne eigenes Interesse loben. Würde sie in einigen Jahren nach zahllosen verglühten Zigaretten, Schnaps und anderen Drogen, verkommen vom Alltag und erdrückt von der Last der zahlenden Freier, immer noch so anmutig aussehen? Doch er verdrängte die Gedanken und ließ sich auf das hier gebotene Schauspiel ein.
Spielerisch öffnete sie ihr wasserstoffblondes Haar, das lockig herabfiel und an manchen Stellen einen rötlichen Ansatz verriet. Ihre Haarpracht bedeckte weich ihre weiblich formschönen Attribute. Warm und sanft wie Wellen eines sonnenverwöhnten Meeres fühlte sie sich an. Ihre silberne Haarspange ließ sie auf den Boden gleiten, während er sich auf den Rücken zurücklegte und versuchte zu entspannen. Worte waren von nun an überflüssig.
Während sie ihn nun wie eine Katze bespielte, bemerkte er im Deckenspiegel ihren sich grazil windenden Rücken und den formschönen Steiß. Dabei fiel ihm die bunte Tätowierung in Form einer sich windenden Schlange auf, die sich von ihrem Hals bis zur Hüfte erstreckte. Nein, das passte nicht. Mit diesem Stigma degradierte sie ihre naturgegebene Schönheit zur Farce. Das half ihm jetzt bei der dringend nötigen Abkühlung. Schließlich musste es nach seinen Regeln ablaufen.
Fest zog er sie an sich heran. Das Mädchen lächelte ihn weiterhin an, dennoch machte sie sich im Rücken steif, wenn auch unmerklich. Ihre Blicke trafen sich. Eine eigenartige Härte in seinen Zügen ließ sie zögern. Irritiert sah sie zu Boden. Er registrierte ihre Unsicherheit. Diese Ergebenheit gefiel ihm, so dass er sich wieder aufsetzte.
Er hob ihr Kinn und betrachtete ihre graugesprenkelten Augen. Konnte er darin lesen? Unmöglich. Nichts außer Kälte und Leere, vor allem aber die erschreckende Abgestumpftheit meinte er darin zu erkennen.
„Küss mich!“, befahl er ihr.
Das Mädchen stutzte. „Wie jetzt? Auf den Mund?“
„Ja, natürlich! Wie denn sonst?“, erwiderte er entgeistert. „Oder meinst du, ich gebe mich mit Halbheiten zufrieden?“
„Wie kommst du denn auf die Idee?!“
„Ich möchte es einfach, weil ein Kuss etwas Sinnliches ist“, erklärte er ihr.
„Ist das jetzt ein Scherz?“ Sie starrte ihn ungläubig an.
„Keineswegs.“
„Das gehört nicht zu meinen Leistungen“, entgegnete sie kurz, wobei er sah, wie verlegen sie wurde.
„Dann frage ich mich, wofür ich dich bezahle!“
„Bestimmt nicht fürs Küssen!“, erwiderte sie leicht schnippisch.
„Deine Offenheit überrascht mich“, gab er zu.
„Manchmal ist es durchaus nötig.“
„Manchmal?“
„Ja, in solchen Situationen zum Beispiel, wenn ein Freier so etwas fragt.“
„Bekommst du oft solche Fragen gestellt?“
„Eher selten.“
„Hast du eigentlich keine Angst?“
„Ja schon, aber sie gehört zum Geschäft. Sag mal, was fragst du mich für komische Sachen? Willst du mich jetzt, oder nicht?“
„Erst wenn du mich küsst“, wiederholte er und erwartete ihre Reaktion.
„Willst du mich veräppeln?“, begann sie sich plötzlich zu echauffieren und wich erschrocken zurück. „Was soll das eigentlich werden?“
„Wieso zierst du dich? Kriegst auch einen Extrabonus. Was ist jetzt?“
Sie schien zu überlegen. Ihr Gesicht wirkte plötzlich sehr bedrückt, als müsste sie sich zu etwas überwinden.
„Nun gut. Kostet aber extra!“, gab sie schließlich nach, ohne einen Grund dafür zu benennen.
Nach einigem Zögern schlang sie den Arm um seinen Hals und sog an seinen Lippen. Ihr Pfefferminzgeschmack war unerträglich. Was sollte es überdecken? Und tatsächlich. Abrupt ließ er von ihr ab. Dafür sollte er sie ohrfeigen. Aber er hatte es ja so gewollt. Weshalb erregte er sich? Nein, dafür taugte sie nicht, wie sie überhaupt für die ‚wahre Liebe‘ nicht geschaffen war. Wie konnte er nur so töricht sein. In der Gosse gab es keine Liebe und dieser Ort war der letzte, wo er sie finden konnte. Das Einzige, was zählte und wofür hier bezahlt wurde, waren körperliche Reaktionen, frei von jeder Sinnlichkeit. Er hätte es wissen müssen.
Verstört packte er sie am Oberarm und fixierte ihre grauen Augen. Sie starrte ihn erschrocken an, meinte trotzdem zu ahnen, was jetzt zu tun war. Mit der Geschmeidigkeit einer Katze glitt sie an ihm herab, während er sich zurücklehnte und zu entspannen versuchte. Ihr Haar kitzelte. Dennoch hemmte ihn etwas. Echte Liebe war ein Geschenk, das hier nicht zu bekommen war. Da er sich trotz aller Mühe nicht in den dafür nötigen Zustand versetzen konnte, versuchte es das Mädchen manuell. Für einen Moment dachte er daran, sie für diesen Betrug an der Seele zu erwürgen. Demonstrativ umklammerte er ihren zarten Hals und ergötzte sich an ihrer Angst. Nur ein kleiner Druck und es wäre vorbei.
Dann aber ließ er von ihr ab. Nein, das war es nicht und würde es auch niemals sein. Nicht so. Dann besser gar nicht. Zu ihrer Verwunderung verzichtete er auf Weiteres. Ohne jede Erklärung zog er sich wieder an, steckte ihr noch einen Schein zu – schließlich hatte er davon genug – und begab sich zur Tür.
Verwirrt begleitete sie ihn. In einem Augenblick ihrer Unachtsamkeit nahm er die auf der Kommode liegende Visitenkarte an sich. Es handelte sich um eine Hinterlassenschaft eines seiner Vorgänger, die ihm eingangs schon aufgefallen war. Zögerlich öffnete sie die Haustür, sah hinaus und nickte ihm zu. Er sah sie noch einmal kurz an, zwickte ihr in die Wange und verschwand, ohne auch nur ein Wort zu verlieren. Wieder auf der Straße bedauerte er nicht im Geringsten, ihr nur Blüten angedreht zu haben. Schließlich war es kein Betrug, eine Betrügerin zu betrügen, denn eine solche Show musste nicht noch honoriert werden.
Draußen zogen sich trübe Wolken zusammen und aus dem Autoradio dudelte Musik. Eine halbe Stunde später konnte er sich nicht einmal mehr an ihr Gesicht erinnern. Aber solche Frauen hatten auch keins und wenn, war es immer das gleiche.
Doch wen interessierte das angesichts der Tatsache, dass er etwas ganz anderes, viel Profaneres suchte, nämlich einen Schlüssel in einem Kobold, genauer in einem Gartenzwerg. So war es ihm jedenfalls aufgetragen worden. Kein Witz. Zugegeben hatte er gerade deshalb den Auftrag angenommen, um zu erfahren, was es damit auf sich hatte. Denn wenn er auserwählt wurde, musste es schon etwas Besonderes sein.
Nicht, dass er sich damit aufwerten wollte. Nur sagte ihm seine Erfahrung, dass mitunter die profansten Sachverhalte die kompliziertesten Hintergründe verbargen. Wie immer kannte er die genauen Beweggründe nicht und das war auch unnötig. Er tat, was ihm gesagt wurde und folgte dabei strengen Regeln. Das dafür gezahlte Honorar ermöglichte ihm ein Leben weit über dem Standard, so dass er sich solche Eskapaden wie eben jederzeit erlauben konnte.
Welche Rolle er dieses Mal für sich präferieren sollte, wusste er freilich noch nicht. Das blieb ihm überlassen. Über die nötigen Dokumente verfügte er. Etwas landestypisch Nordisches wäre in diesem Fall angebracht, so nach Art eines netten Jung von der Waterkant mit Namen Fiete Jensen oder Henning Harmsen. Aber da er weder so aussah noch so sprach, erschien ihm ein neutraler Tom Enders günstiger.
Als diplomierter Verwaltungswirt und verschlagener Geschäftsmann in der Investmentbranche der Sparda Bank würde er bestimmt nicht weniger beeindrucken. Selbst wenn er davon keine Ahnung hatte, blieb das ohne Belang. Es diente lediglich der Legitimation, wobei allein Begriffe wie Bonds, Derivate oder Impact Investments für die nötige Glaubwürdigkeit sorgen sollten.
Blieb nur zu hoffen, dass auch niemand etwas davon verstand. Sonst könnte es schon mal eng werden, wie vor einem Jahr, als er in der Rolle eines IT-Programmierers eine tiefergehende Frage nicht beantworten konnte und sich damit in eine dumme Situation brachte. Sei’s drum. Seine Aufträge versprachen hohe Gewinne. Allein das zählte.
In Achterwehr bog er von der Autobahn ab und steuerte Deutsch-Nienhof an. Er schaute in den Rückspiegel und setzte zum Überholen an. „Also gut, Tom Enders. Wo ist deine Designerbrille, die dich als Investmentbanker auszeichnet?“, murmelte er vor sich hin und kramte in der Konsole herum. Besorgt betrachtete er sein blasses Gesicht im Spiegel. Augenblicklich entblößte ein Lächeln seine perlengleich aufgereihten Zähne.
Nicht, dass er besonders eitel war. Aber um Sympathien zu verbreiten, musste er gefallen. Kurzum, dies alles verlangte einen wahren Sonnyboy, dem man blindlings die Brieftasche anvertraute. Das war sein Credo, zumal die Bekanntschaft sympathischer Frauen nicht auszuschließen war. Davon hing mitunter sehr viel ab. Ja mehr noch, seinen Erfahrungen nach war eine überzeugende Reflexion seiner Rolle nur durch weibliches Wohlwollen möglich. Schon deshalb sah er sich bisweilen zu gewissen Überschreitungen genötigt, dies notfalls zu erzwingen. Das mag jetzt skrupellos klingen, war aber zweckmäßig.
Sanft federte der Audi jedes Schlagloch ab. Mit einem Mal erinnerte er sich an die Visitenkarte in seiner Brusttasche. Er zog sie hervor und studierte den Namen: ‚Dr. Alexander von der Ruh‘. Klang so weit recht verlockend, genauso, wie er ihn sich vorstellte: Jung, smart, verheiratet, zwei Kinder, rundum wohlsituiert und skrupellos genug, seine Frau regelmäßig zu betrügen. Allerdings war es auch leichtsinnig, die Handynummer zu hinterlassen. Mit anderen Worten – ein Schwein vom Feinsten, dessen Ruin kein Verlust war.
Gedankenverloren pochte er mit der Karte auf das Autolenkrad. Innerhalb von Sekunden schaltete Tom das „Bluetooth“ vom Audi - MMI Control ein, entsperrte sein Smartphone per Fingerabdruck und diktierte: „OK Google.“ Er wartete ein, zwei Sekunden und sagte: „Dr. Alexander von der Ruh.“ Tom vernahm die Antwort der weiblichen Computerstimme ‚Siri‘ über den anwaltlichen Familienstand. Zufrieden steckte er die Karte zurück in seine Brusttasche und bemerkte: „Na, Herr Winkeladvokat! Volltreffer! Mal sehen, wie wir dich überraschen können. Ich denke, mir wird für ein kleines Ferkel wie dich etwas ganz Besonderes einfallen!“
Somit lief dieser Tag doch noch gut an, nachdem er so mies gestartet war. Die ersten kräftigen Sonnenstrahlen fielen in goldgelben Bündeln durch das Blätterdach einer Allee. Fasziniert beobachtete er ein Storchenpaar auf Beutezug in den nahegelegenen Feuchtwiesen. Das erinnerte ihn an seine Kindheit. Diese verbrachte er in Pontresina im Oberengadin. Das satte Grün der Almen, die Glocken der grasenden Kühe und das schneeweiße Diavolezza-Massiv mit seinen blau-weißen Gletscherzungen hatten sich dabei tief in sein Herz gegraben. Bisweilen vermisste er den Duft von frischgemähtem Heu sowie das Plätschern eisiger Gebirgsbäche. Es waren vor allem jene Momente, in denen er sich an den Berghängen dem Himmel so unglaublich nahe fühlte, dass es nur eines Fingerzeigs zur Berührung bedurfte. Dort oben gab es die Orte, die er hier vergebens suchte.
Ein dringendes Bedürfnis riss ihn aus seinen Gedanken und drängte ihn zur Eile. Mit überhöhter Geschwindigkeit raste er durch Klein-Nordsee. Während er in die Ortschaft Felde hineinschoss, nahm er nicht den Fuß vom Gas. Zur Rechten flog die ‚Apotheke am Westensee‘ vorbei. Wenig später setzte er an der nächsten Abzweigung den Blinker links Richtung Resenis.
Eine Polizeikontrolle in Höhe des EDEKA-Marktes winkte den Audi an den Straßenrand. Das fehlte ihm noch. Ausgerechnet jetzt, wo ihm schon fast die Blase platzte. Tom straffte seine Haltung und versuchte, notgedrungen zu lächeln. Er senkte das Seitenfenster herab und stellte den Motor aus. Seine Hand ruhte auf dem Schaltknüppel. „Womit kann ich dienen, Herr Wachtmeister“, erkundigte er sich bei dem Polizisten in dunkelblauer Uniform.
„Moin. Verkehrskontrolle. Ihren Ausweis bitte.“ Mit strenger Miene kontrollierte der Beamte die Dokumente und wechselte den Blick wiederholt zwischen ihm und dem Bild auf dem Ausweis. Dann guckte er prüfend in den Innenraum des Wagens. Dabei registrierte er eine schwarze Reisetasche sowie einen Mantel auf der Rückbank. „Was befindet sich dort drin?“, folgte seine logische Frage.
„Dieses und jenes, was man so braucht“, eierte Tom herum, der nicht einsah, darauf zu antworten, denn im Grunde ging ihn das einen feuchten Kehricht an. Dann aber fiel ihm ein, dass dort die Blüten drin lagen. Nicht auszudenken, wenn dieser Beamte jetzt auf eine dumme Idee käme. Also nahm er die Tasche hervor und zog den Reißverschluss auf, allerdings nur so weit, dass sein Ellbogen einen großen Teil des Inhaltes verdeckte. Gelassen wies er auf eine Zeitung hin. Ebenfalls lagen alte Socken gleich obenauf. Ihr unangenehmer Geruch verhinderte Schlimmeres. Natürlich hatte er die andere Hand längst an der Wade, wo seine Pistole steckte, nur für den Fall.
Doch dazu kam es zum Glück nicht. Offenbar von Toms demonstrativer Gleichgültigkeit eingelullt, verzichtete der Polizist auf Weiteres. „Schon gut“, winkte dieser ab, konnte sich aber die Frage nach einem möglichen Alkoholgenuss nicht verkneifen.
„Na hören Sie mal. Sehe ich so aus?“, empörte sich Tom mit einem milden Lächeln, nachdem er die Tasche wieder nach hinten gelegt hatte.
„Wo soll es hingehen?“, wollte der Beamte wissen.
„Nach Resenis“, legte sich Tom fest, obwohl das keineswegs klar war.
„Bitte öffnen Sie den Kofferraum.“
„Muss das sein?“
„Sonst würde ich nicht darum bitten!“, sagte sein Gegenüber mit Nachdruck.
Tom drückte den dazugehörigen Knopf im Wageninneren. Prompt hob sich die Kofferraumklappe. Dann schwenkte er umständlich die Fahrertür auf und stieg aus.
Der Polizist beugte sich über die Stoßstange und musterte den Verbandkasten. Gemächlich drehte er sich wieder um. „Sind Sie Literaturagent?“, mutmaßte er plötzlich.
„Wie kommen Sie darauf?“, wunderte sich Tom.
„Aufgrund Ihres auswärtigen Kennzeichens nehme ich an, Sie wollen zu unserem Poeten“, fuhr der Beamte fort. „Der feiert heute seinen runden Geburtstag und erwartet allerhand Gäste. Deshalb auch Ihre Tasche dort hinten. Sicherlich mit der Begutachtung seines neuesten Werkes, nicht wahr?“
„Nun ja, wenn Sie mich so fragen“, erwiderte Tom, was dem vermeintlichen Scharfsinn dieses Wachtmeisters schmeicheln musste.
„Habe ich mir doch gleich gedacht, denn Sie sehen so aus“, legte der Schutzmann noch einmal nach.
„Ach ja, wirklich?“
„Manchen Leuten sieht man einfach ihre Profession an, hahaha …“ An dieser Stelle lachte Tom sogar mit, denn das war einfach zu drollig.
„Bitte benutzen Sie nur die offiziellen Straßen. Wir hatten in den letzten Tagen einige Sturmschäden und diese sind noch nicht überall geräumt“, setzte die Streife, zur Sachlichkeit zurückkehrend, hinzu.
„Danke für den Hinweis. Ich werde mich bemühen.“
„Sie können weiterfahren.“
Tom stieg wieder ein, drehte das Radio an und ließ das Seitenfenster hochfahren. Scherzhaft salutierend fuhr er davon. Verkniffen schaute der Polizist ihm nach. Im Rückspiegel konnte Tom noch beobachten, wie sich dieser Kerl etwas notierte. Zweifellos würden jetzt neue Kennzeichen gebraucht. Er musste also umdisponieren.
Die Sache mit diesem Dr. von der Ruh musste warten. Sein Schweigegeld könnte er sich auch später noch abholen. Das bedauerte er zwar, denn dessen dummes Gesicht hätte ihn schon interessiert. Doch zuerst musste ihm der Pole Budniak behilflich sein und das möglichst schnell. Anderenfalls würde alles gefährdet. Bei der nächstbesten Gelegenheit würde er diesen Windhund kontaktieren.
An der nächsten Abzweigung bog Tom rechts vom sandigen Hauptweg ab und fuhr tief in den Wald von Resenis hinein. Hier erleichterte er sich endlich. Über die soeben erduldete nachlässige Kontrolle war er dankbar. Das hätte dumm ausgehen können. Was war er doch für ein Glückspilz.