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Wolkenbruch

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Die Schwere der Nacht übermannte Sina Brodersen und bettete sie, wie so oft, in ihre qualvollen Träume.

Ich kann nicht, ich kann doch. Reichlich du, übermäßig ja, genug Begehren. Ich will schreien. Du verschließt meinen Mund. Warum quälst du mich? Du Dämon aus dem Dunkel, was habe ich dir getan? Du okkupierst meine Hand, meinen Körper, meine Seele und ergötzt dich an meinem Leid! Deine Hände sind so schrecklich groß! Du tust mir weh! Warum? Geh bitte fort und lass mir meinen Frieden! Ich bitte dich! Zwing mir nicht deinen Hass auf! Was uns trennt, ist größer, als was uns verbindet! Beschädige nicht deinen letzten Rest Anstand und Respekt. Bewahre dir deine Würde, damit du einst im Himmel deine seelische Ruhe finden kannst.

„Das Wetter zeigt sich heute am 5. April von seiner böigen Seite. Die Regenwahrscheinlichkeit beträgt 70 Prozent. Aus unterschiedlichen Richtungen strömt …“

Wie jeden Morgen weckte Sina der Sprecher von NDR 1. Murrend zog sie die Decke über den Kopf und verweigerte das Aufstehen. Aber der Tag startete wie immer erbarmungslos. Die Zeiger standen auf fünf Uhr morgens und forderten ihren Tribut, deren gnadenlose Härte Sina seit frühester Kindheit bekannt war. Müde schlug sie die Bettdecke zurück, schwang sich aus dem Bett und schlurfte ins Badezimmer. Ihr apricotfarbener Mops namens Boy schlief im Hundekorb auf der Diele. Als er ‚Frauchen‘ witterte, öffnete er seine braunen, treuen Hundeaugen, erhob sich und strich ihr begrüßend mit freudigem Hecheln um die Beine.

„Na, wer kommt denn da?“ Sina kraulte verspielt sein rechtes Ohr, so dass sein Körper vor Wonne bebte. Speichel floss ihm aus dem knautschigen Maul und seine Augen blitzten. Er umstreifte sie immer wieder, darüber froh, ihre Nähe zu verspüren. Augenblicklich knuddelte sie ihm kräftig über den Rücken und zwickte ihm neckend in die Flanke. Dann aber schob sie ihn bestimmend zur Seite. Sie unterbrach dieses Spiel nicht oft, da sie Boys Wohlgefallen genoss, doch wenn sie es tat, dann aus einem ganz bestimmten Grund.

In dieser Nacht war es wieder geschehen. Das seltsame Traumbild hatte sie genarrt und nicht mehr losgelassen. Es war der gleiche große Schatten, der sich ihr jedes Mal lautlos näherte und sie dann völlig bedeckte. Erbarmungslos drängte er sich auf und drohte ihr, gleich einem riesigen Kraken, den Atem zu nehmen. Manchmal war es so schlimm, dass sie schreien wollte, doch nicht konnte. Etwas verschnürte ihre Kehle. Völlig paralysiert schien sie wie gefesselt und war auch nur zur geringsten Gegenwehr unfähig. Es schien, als laste ein tonnenschwerer Fels auf ihrer Brust, der sie völlig niederdrückte.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als es zu ertragen und darauf zu hoffen, dass dieser Albtraum möglichst rasch von ihr wich. Aufgrund des fehlenden Zeitgefühls vermochte sie über die Dauer nichts zu sagen. In jedem Fall aber kam es ihr endlos vor. Spätestens wenn ihr Atem immer schwerer wurde und sie zu ersticken glaubte, erwachte sie und setzte sich schlagartig auf. Dann starrte sie schweißgebadet in die Dunkelheit und brauchte lange, wieder zur Ruhe zu kommen. Meist stand sie dann auf und nahm einen großen Schluck aus der Flasche des selbstangesetzten Schlehenlikörs.

Das war ein altes Hausmittel ihrer Großmutter. Diese hatte seinerzeit ein schweres Leben geführt, da sie ihren Mann durch die Kriegswirren verlor und die beiden Töchter Gisela und Sinas Mutter Lore allein großziehen musste. Vielleicht hatte Großmutter gerade deshalb ein so tiefes Herz und war Sina in guter Erinnerung geblieben, anders als ihre eigene Mutter.

Letztere hatte nur Geschäfte im Sinn und sich mit der Zeit zu einer Despotin entwickelt, die in ihrer Tochter nur ein lästiges Anhängsel sah. „Sina, wie oft soll ich dir noch sagen, dass der Hof kein Streichelzoo ist! Wenn du die Katze nicht wegjagst, ersäufe ich sie!“, hatte sie ihr angedroht, nachdem Sina ein vor Kälte und Hunger zitterndes Kätzchen auf dem Schulweg zugelaufen war. Selbst wenn der Mäusejäger für seine eigene Verpflegung sorgte und niemandem zur Last fiel, ging es ums Prinzip. Da ihre Tochter dieser Forderung nicht nachkam, hatte die Mutter kurz darauf das arme Tier in der Regentonne ertränkt. Nie vergessen würde Sina den Moment, als sie den kleinen leblosen Körper aus dem Wasser fischte. Doch da war es schon zu spät.

Selbst gegenüber ihrem Mann war Lore nicht gerade zimperlich. Als sie einmal unerwartet nach Hause kam und ihn im angeheiterten Zustand vorfand, versetzte sie ihm sofort zwei schallende Backpfeifen. Daraufhin schloss er sich aus Feigheit im Bad ein und jammerte vor sich hin. Er war ohnehin ein hasenfüßiger Taugenichts, der den ganzen Tag nichts mit sich anzufangen wusste. Einer geregelten Arbeit ging er niemals nach und erwies sich selbst auf dem Hof als untauglich. Seine einzige Stärke bestand in sinnlosem Palaver, womit er hin und wieder in Kneipen Leute um sich scharte, die ihn dann wie ein Reptil bewunderten. Lore nannte ihn mal ein ‚verkommenes Element‘ und wollte ihn wiederholt rausschmeißen. Sie hätte das sicher auch getan, wäre sie dabei nicht steuerlich ungünstiger gefahren. Wieso er dennoch Zugang zu ihrem Herzen fand und Sina als Frucht dieser mehr als sonderbaren Beziehung hervorging, war ihr bis heute rätselhaft geblieben.

Doch darüber mochte sie nicht weiter nachdenken. Sie tat das ohnehin viel zu oft und das jedes Mal mit dem gleichen Ergebnis – sie kam ins Heulen. Dann rannte sie in den Schuppen, versperrte die Tür und wollte für Momente ganz alleine sein, zumindest bis Boy wieder an der Tür kratzte. Der Mops war so drollig, dass sie schnell allen Kummer vergaß. Und als wüsste er um seine Wirkung, legte der Hund jetzt seinen Kopf schief und schaute sie treuherzig an. Dann tappte er in die Küche, blieb fordernd vor seinem Napf sitzen und erwartete sein verdientes Leckerli. Sina ließ sich aber nicht erweichen. In Gedanken war sie noch immer nicht ganz da.

Sie ging ins Badezimmer und verriegelte die Tür. Eigentlich war das überflüssig, denn sie lebte hier allein und Boy hätte ihr ohnehin nicht folgen können. Dennoch tat sie es infolge eines unerklärlichen Reflexes. Das war schon manisch. Ebenso ihr ständiger Kontrollzwang, der sie dazu nötigte, die abgeschlossene Haustür zweimal abzuklinken. Das Misstrauen gegenüber sich selbst war ihre größte Schwäche.

Auch wenn sie es als Unsinn abtat und sich damit verspottete, konnte sie es nicht verhindern. ‚Es ist nichts! Es ist nur ein Albtraum‘, tröstete sie sich, um ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben. Zur Ablenkung schaltete sie das Radio ein. Sofort plärrten die neuesten Hits, die in der nächsten halben Stunde auf diesem Sender zu hören waren.

Draußen brachen die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke und verjagten die Nacht. Das innenliegende Badezimmer erhellten mehrere Halogenlampen. „Warum lässt du mich nicht in Ruhe?“, flüsterte sie unter der Dusche, während das Wasser über ihr brünettes Haar lief. Eine unklare Erinnerung stieg in ihr auf und bewirkte ein schreckliches Gefühl. Nichts war stark genug, davon wegzukommen.

Für die Dauer von einigen Minuten stand ihr Körper unter höchster Anspannung. Ihr schien, als würde sie von einer unsichtbaren Hand berührt, vor allem an Stellen, an denen sie sehr empfindlich war. Ihr Herz begann zu rasen und vor ihren Augen tanzten bunte Ringe. Eine Art Übelkeit brachte sie fast zum Erbrechen. Mit beiden Händen gegen die Wand gestützt, neigte sie sich vornüber und schöpfte tiefen Atem. Dann endlich wurde es besser. Diesmal würde sie nicht minutenlang unter eiskaltem Wasser stehen wie beim letzten Mal.

Erleichtert drehte sie den Wasserhahn zu, stieg aus der Dusche und rubbelte mit einem Handtuch ihre kurzen Haare trocken. Ihr Körper war in einen frotteeweichen Bademantel eingehüllt. Danach musterte sie sich kritisch im Badezimmerspiegel.

‚Morgen werde ich euch blond färben, vielleicht mit ein paar grasgrünen Strähnen drin‘, verordnete sie sich, wie so manches, was ihr ebenso schnell einkam, wie es wieder verschwand. Obgleich sie figürlich gut geraten war und ihre braunen Augen durchaus warmherzig wirkten, ja in manchen Momenten sogar erstaunlich ausdrucksvoll werden konnten, fand sie sich nicht sonderlich attraktiv. Ihre Lippen erschienen ihr zu wulstig und ihre Augen zu eng stehend. Außerdem waren ihre Brüste zu klein und ihr Hintern zu flach – Attribute, mit denen man bei Männern kaum punkten konnte, es sei denn, man verstand sich anzubiedern. Doch gerade das konnte sie noch nie. So etwas ließ ihr Stolz nicht zu. Schon deshalb würde sie wohl das Gefühl der großen Liebe, die angeblich jeden im Leben einmal trifft, niemals kennenlernen. Aber wer weiß, ob es so etwas überhaupt gab und wenn, wäre sie dafür wohl kaum geschaffen. Doch sie war deswegen nicht verzagt. Boy und die Natur entschädigten dafür, auch wenn ihre Sehnsucht freilich blieb.

Sie ertappte sich dabei, wie sie sich einen Kussmund zuwarf und von einer Erwiderung träumte. Weiche Lippen müssten es sein, unbedingt. Dazu das Stacheln von Bartstoppeln und jener typisch maskulinen Kombination von Zartgefühl und Dominanz, was einen ‚echten‘ Mann ausmachte. Bei dieser Vorstellung wurde ihr ganz flau. Ob es ihn gab, wusste sie freilich nicht. Doch wenn, würde sie es erkennen.

Aber was geisterte schon wieder durch ihren Kopf? Rasch vertrieb sie diese Gedanken und beschloss, sich ihrem Outfit zu widmen, selbst wenn unklar blieb, für wen. Mit dem Zeigefinger klopfte sie ihr Make-up ein und trug Lipgloss auf. Sogleich schnitt sie allerlei Grimassen, um sich aufzumuntern. Dann betrachtete sie bedrückt ihren linken Schneidezahn und beide Eckzähne, die etwas verwinkelt hervorstanden. Die Mutter hatte damals versäumt, für eine Zahnspange zu sorgen, nicht aus Nachlässigkeit, sondern Müßiggang, wie immer, wenn sie mit anderen Dingen beschäftigt war. Unter den Folgen litt Sina noch heute. Kurze Zeit später knipste sie die Halogenlampen wieder aus und verließ das Bad.

Trotzdem fühlte Sina sich in Ahlefeldt geborgen. Der Hof ihrer alteingesessenen Familie lag am Dorfrand. Zur Straße hin schloss eine Eibenhecke das Grundstück ab. Die Nachbarn waren weit verstreut und die nähere Umgebung weitgehend menschenleer. Manchmal war es schon beängstigend, in Notfällen auf sich selbst angewiesen zu sein. Ebenso bedrückte sie die Einsamkeit an den Feiertagen. Und doch hatte sie sich nach dem Tod der Eltern für dieses Leben entschieden – eigentlich ein Unding und doch wurstelte sie sich irgendwie durch. Etliche Male hatte sie sich von den Aufgaben und Pflichten erschlagen gefühlt, die ein solcher Besitz mit sich brachte. Aber wenn man sie fragte, wie sie das alleine schaffte, hob sie nur die Achseln.

Einige der Hektar Land hatte Sina dem Nachbarn Volker Grimmel verpachtet – eine gelungene Investition, denn der Boden war fruchtbar und die Erträge reichlich. Somit musste sie nicht auf Stellung in einen fremden Haushalt gehen. Schließlich hatte sie mit der Zeit alles nach ihren Bedürfnissen zurechtgerückt. Und für noch Fehlendes entschädigte Boy.

Vom Bistensee her erhob sich ein morgendliches Wehen. Der Wind streifte die Schilfufer und lief gen Osten übers Land. Die Landschaft träumte in berückender Wildheit vor sich hin. Dort, wo mit zerzaustem Fell die ruhenden Galloway-Rinder in den Gräsern des Extensivgrünlandes lagen und wiederkäuten, wich die Beschaulichkeit der Nacht. Am ewig schmatzenden Ufersaum putzten sich die Stockenten. Verfilzte Wiesen sträubten ihr Grasgefieder. Brombeerhecken überwucherten Zäune. Trollblumen, Klee und Knöterich sumpfdotterten den ersten Sonnenstrahlen entgegen und am Himmel flogen Wildgänse wie in einem Perlenstrang aufgereiht.

Nach dem Frühstück ließ Sina Boy hinaus. Sie streifte sich die Daunenjacke über und begab sich zur Scheune mit dem efeuumrankten Schiebetor, um ihr handwerkliches Tagwerk zu beginnen. Nachdem sie das Vorhängeschloss entriegelt hatte, zog sie ruckartig das Tor zur Seite. Während der Hund sofort schnüffelnd jeden Winkel der Scheune erkundete, ging sie zum Böckmann-Anhänger hinüber, zog die Plane zurück und begutachtete Volkers gestrige Fuhre. Diese bildete wieder einmal allerlei Sammelsurien, darunter eine Unzahl putziger Keramikzwerge, von manchen als Schnickschnack abgetan, für andere wiederum heiß begehrte Ware.

Sorgsam betrachtete sie die einzelnen Stücke und ließ ihre Finger prüfend darüber gleiten. Während sie die abgeblätterte und schwindende Farbe der Bartträger sachkundig inspizierte, stellte sie Prognosen über deren Restaurierung und spätere Preise an.

Diese Lieferung hatte ihr der Grimmel irgendwo im Osten, womöglich in Polen, ergattert, wo dieses Zeug billig zu haben war. Ob nun geklaut, ergaunert oder legal erworben, war ihr nicht wichtig. Voller Dankbarkeit nahm sie seine Hilfe an und war froh, somit zu einem kleinen Nebenerwerb zu kommen.

Mittlerweile hatte Volker die Sechzig schon weit überschritten und wirkte mit seinem stets blassen, eingefallenen Gesicht wie ein Hypochonder. Von Gestalt her war er eher schmächtig und klein. Darüber hinaus hatte er große, abstehende Ohren und anstelle einer Haarpracht einen schmalen grauen Haarkranz, der ihm zusammen mit seiner großen Brille etwas Gelehrtenhaftes gab. Längere Gespräche waren mit ihm nicht ratsam, weil er sich schnell in Nebensächlichkeiten verlor und dann kein Ende mehr fand. Wenn sich Sina dennoch hin und wieder dazu durchrang, dann weniger aus Gesprächslust als Notwendigkeit. Gab es doch oft genug Situationen, in denen sie auf seine Hilfe angewiesen war. Dabei zeichnete ihn eine erstaunliche Zuverlässigkeit aus und er knüpfte seine Hilfe auch niemals an Bedingungen.

So war er ihr zu einem guten Freund geworden, den sie nicht mehr missen mochte. Und obwohl er um seine Chancenlosigkeit wusste, beobachtete er sie in unbemerkten Momenten bisweilen mit sonderbar verklärten Blicken. Das fiel ihr immer wieder auf. Es war unschwer zu erraten, welche Qualen er dabei litt. Und doch kam das überhaupt nicht in Frage. Sie war ein für alle Mal kuriert, und schuld daran war ihr langjähriger Lebenspartner oder besser Lebenskünstler Ove Dagover, ein smarter Schönling, den sie einst zu lieben glaubte.

Er hatte sie nach fünfjähriger Beziehung Knall auf Fall wegen einer deutlich jüngeren Großstadtmieze sitzen gelassen. Dabei nannte er nicht mal einen Grund. Vielmehr meinte er lapidar, ein Mann in seiner Position, die zu großen Hoffnungen berechtigte, benötigte kreativen Freiraum. Was er damit meinte, wusste er wohl selbst nicht. Er war ohnehin in vielen Dingen sehr direkt und verkniff sich nicht einmal, sie ein ‚retardiertes Landei‘ zu nennen, und fand das auch noch originell. Damit spielte er auf Sinas Liebe zur Schlichtheit des ländlichen Lebens an. Dafür konnte er sich niemals erwärmen, trotz anfangs gegenteiliger Beteuerungen.

Diese hielten allerdings nur so lange, bis er in ihre vertraglich gesicherte Lebensgemeinschaft eingetragen war. Eine Frau wie sie verstehe zwar, zu arbeiten und zu kochen, von ihm aus auch zu putzen, könnte jedoch nicht wirklich seinen Ansprüchen genügen. Auch wenn er sich damit als schäbiger Egomane entlarvte, der nicht den Dreck unter dem Nagel wert war, kränkte es sie.

Aber genau genommen war ihre Trennung nur eine Frage der Zeit. Es war ihr schon immer schwergefallen, mit ihm zusammen zu sein, besonders in bestimmten Momenten. Nicht, dass sie sich nicht bemüht hätte. Im Gegenteil. Doch da war eine Hemmschwelle, die es ihr unmöglich machte, sich zu öffnen und nach seinen Wünschen zu reagieren.

Dabei hätte er das ohnehin nicht verdient, denn im Grunde war er ein komischer Vogel und durchaus nicht so gescheit, wie er immer tat. So zeigte er selbst bei einfachen Dingen oftmals erstaunliche Schwächen. Zudem hatte er zwei linke Hände. Seine Vita war auch nicht sonderlich berauschend. Nach einem abgebrochenen BWL-Studium jobbte er als Eventmanager, wo er zwar im Dunstkreis seiner zwielichtigen Kundschaft durch seine Aura zu beeindrucken verstand, doch im wahren Leben eine Niete blieb. Dort lernte er auch eine Menge fragwürdiger Leute kennen und mit ihnen die nötigen Finessen, andere über den Nuckel zu ziehen. Davon machte er auch reichlich Gebrauch und ruinierte manche redliche Seele.

Selbst ihre Mutter hätte um ein Haar mit dem ganzen Hof für irgendeine Luftnummer gebürgt, wäre Sina nicht im letzten Moment dazwischengegangen. ‚Was Du ererbest von den Alten, bewahre, um es zu vermehren‘. Dieser Spruch, der noch von Großmutter stammte, zierte nicht umsonst schon seit Jahrzehnten die Dielentür und hatte sich ihr eingeprägt. Dabei hätte Sina es besser wissen müssen, zumal habsüchtige Menschen immer untreu waren. Warum sie sich nicht schon damals von ihm getrennt hatte, vermochte sie bis heute nicht zu sagen. Aber irgendetwas musste er gehabt haben und sei es nur das unglaubliche Talent, seine Fehler als Vorteile zu verkaufen.

Seitdem scheute sie jeden männlichen Kontakt, wobei Volker die rühmliche Ausnahme blieb. Trotz seiner komischen Art verstand er es, sie mit belanglosen Scherzen aufzumuntern. Zwar musste sie ihm bisweilen gewisse Grenzen aufzeigen, doch das akzeptierte er stets widerspruchslos und nahm es auch nicht krumm. Glücklicherweise verschaffte ihr der kleine Nebenerwerb etwas Ablenkung. Dabei handelte es sich um ein durchaus lukratives Zubrot in Form der Restauration von Aussortierten, Abgesplitterten und Entliebten – kurzum entsorgter Gartenzwerge als Symbol romantischer Beschaulichkeit.

Sina nahm ein abgeblättertes Exponat aus dem Anhänger und betrachtete es explizit. Mittlerweile hatte sie sich getraut, auf den Kunsthandwerkermärkten ihre Schätze auszustellen. Verbissen hatte sie seitdem den Markt beobachtet, analysiert, recherchiert und fachkundige Menschen aus der Branche des Handels kontaktiert. Nachdem sie das Erfolgskonzept des Norderstedter Gebrauchtwarenkaufhauses Hempels gründlich studiert hatte, war sie fest davon überzeugt, dass ihre Vision von der Reanimation der ‚Alten Liebe‘ funktionierte. Der entscheidende Schritt in die Selbstständigkeit war vor ein paar Monaten durch eine Unterschrift in einem kahlen Verwaltungsbüro in der Kreisstadt gesetzt worden. Seither konnte sie tatsächlich eine kontinuierliche Umsatzsteigerung verbuchen.

Behutsam stellte sie die erste Figur auf die Werkbank, drehte die Zwingen des Schraubstockes auf und fixierte den ersten verwitterten Zipfelmützenträger. Sie streifte sich Einmalhandschuhe über und setzte Mundschutz und Schutzbrille auf. Wie immer begann sie die komplette Lieferung der in die Jahre gekommenen, zum Teil rissigen Figuren abzuschleifen und mit Wasserdruck zu säubern. Zum Trocknen bugsierte sie die Hohlkörper auf ausrangierte Baumwollbezüge. Dann nahm sie ihre Schutzkleidung wieder ab und entsorgte alles im Mülleimer.

Sina schaute auf die Uhr. Es war bereits weit nach eins. Hektisch stellte sie die letzten Arbeitsgeräte an ihren Platz, wusch sich die Hände und pfiff Boy herbei. An diesem Nachmittag war sie mit Tabea Blank verabredet, um eine Farbbestellung aus deren Töpferei in Westensee abzuholen. Ob es ein gutes Geschäft werden würde, musste sich erst zeigen. Vielleicht konnte sie ihr ja einige Tricks entlocken. Daher legte sie sich eine Strategie zurecht.

Sie kannte diese Frau nur vom Hörensagen. Angeblich war sie ein wenig seltsam und schon deshalb ein schwieriger Verhandlungspartner. Das tat aber ihrem Sachverstand für die nötigen Farbnuancen keinen Abbruch – eine Leidenschaft, die Frau Blank schon seit ihrer Kindheit fasziniert hatte und später zu einem lukrativen Geschäft entwickelte. Man behauptete sogar, sie könne Farben schmecken. Das war natürlich Unsinn und wurde nur zu Werbezwecken gestreut. Das schmälerte aber keineswegs ihr Talent.

Der Kontakt war über das Internet zustande gekommen, nachdem Sina auf vielversprechende Rezensionen gestoßen war. Demnach lag das Geheimnis des Erfolgs der Farben in der Qualität der Pigmentmischungen. Davon erhoffte sie sich nach der Restauration eine höhere Wetterbeständigkeit, was bessere Absatzzahlen versprach. Schon deshalb war eine Beratung vor Ort nötig.

Aber nun drängte die Zeit. Die Figuren mussten zügig bemalt und gebrannt werden. In drei Wochen begann die Auftaktveranstaltung im Süden des Landes. Sina schlang ihre Stulle hinunter, stürzte ein Glas Milch hinterher und griff eilig zum Autoschlüssel. Gleichzeitig trieb sie Boy zur Eile an. Bis zur Töpferstube südlich des Kanals benötigte sie mindestens eine Stunde. Während der dunkelgrüne Range Rover vom Hof rollte und Boy gesichert in seiner Transportbox saß, gab sie die Zieladresse ein.

Der Tag war feuchtkühl. Hochnebel hing in der Luft. Da sich das Wetter jetzt beruhigt hatte, die Zeit aber rannte, drückte Sina aufs Tempo. Pfeilschnell schoss der Wagen über die Piste …

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