Читать книгу Anima Overta - Anja Haverkock - Страница 5

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Unabänderlich?

Seltsam verrenkt lag er am steinigen Fuße der Baumriesen und rührte sich nicht. Sie stürzte zu ihm hin und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. Sein Gesicht war voller Blut, an seinem rechten Bein stach ein Knochen aus dem Fleisch. Wäre das entsetzliche Stöhnen nicht gewesen, sie hätte ihn für tot gehalten.

Anima wagte nicht, ihn zu berühren.

„Perscpiù!“

Ihr Blick glitt über Perscpiùs geschundenen Körper und sein Bild verschwamm vor ihren Augen. Sie zitterte am ganzen Leib.

„Schhh! Ruhig, Schwes - terchen! Ru - hig!“ Das Sprechen fiel ihm schwer. Dennoch klang seine Stimme sanft und warm.

Das Zittern ließ ein wenig nach. Anima wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Perscpiù lebte! Alles würde wieder gut werden!

„Was hast du nur angestellt?“, fragte sie leise.

Perscpiù verzog die Lippen.

„Der Rote Drache. Ich musste...“

Oh, Anima kannte ihren Bruder! Er war der beste Kämpfer, den der Baumberg je hervorgebracht hatte: blitzschnell mit dem Schwert und zielsicher mit dem Bogen. Er konnte reiten wie der Wind und klettern wie ein Hörnchen. Aber nie handelte er unbedacht, nie unbeherrscht. Halsbrecherische, kopflose Dummheiten hatte immer nur sie selbst begangen. Bis heute.

„Ich wollte dir meinen Kohlbläuling zeigen und du... Warum bloß kletterst du auch noch die steinernen Baumriesen hoch!“, sagte sie vorwurfsvoll.

Perscpiù schloss die Augen. Anima nahm sanft seine Hand und drückte sie an ihre Brust.

„Ich hole dir erst einmal einen Schluck Wasser, und dann warten wir bis die Reiter des Baumpalastes kommen. Sicher hat Mutter sie schon ausgesandt, um uns zu suchen.“

Perscpiùs Atem ging röchelnd.

„Die Blutung an... meinem Kopf... Du musst sie... stillen!“, stieß er keuchend hervor.

„Die Blutung?“ Anima hatte es vermieden, Perscpiùs Verletzungen genauer anzusehen. Jetzt warf sie einen schnellen Blick auf Perscpiùs Stirn. Das Blut sickerte aus der klaffenden Wunde. Anima schluckte.

„Stillen? Aber...? Ich kann nicht...!“

„Schhh! Du kannst. Du musst...“ Ein Husten schüttelte ihn.

Anima warf verzweifelt den Kopf hin und her.

„Also gut. Was...“, stammelte sie atemlos, „soll ich tun?“

„Stoff von deinem Kleid... auf die Wunde und... binde ihn fest“, stöhnte Perscpiù.

Ihr Kleid! Zögernd strich sie mit den Fingern über den Stoff. Dann atmete sie tief durch und riss zwei große Stoffstreifen ab. Einen davon faltete sie zusammen. Und jetzt musste sie das Tuch auf die Wunde drücken. Sie hob die Hand...

„Ich kann nicht! Da ist überall Blut. Ich kann einfach nicht!“ Sie ließ die Hand wieder sinken. „Sicher werden bald Reiter kommen. Und ein Medopifexius. Der wird dir helfen.“

„Anima!“, stieß Perscpiù verzweifelt hervor.

Anima zuckte zusammen. Sie holte tief Luft, kniff die Augen zu, drehte den Kopf weg und drückte das Tuch mit zwei gestreckten Fingern auf die offene Wunde. Dann wickelte sie den zweiten Streifen Stoff mit der anderen Hand um Perscpiùs Kopf. Das Ende steckte sie am Hinterkopf unter den Verband. Sie ließ die Arme sinken. Sie fühlten sich unendlich schwer an. Ihre Finger waren blutig.

„Um deinen Bruch muss sich aber ein ausgebildeter Medopifexius kümmern!“, sagte sie matt.

Perscpiù stöhnte. „Bruch?“

„Dein Bein. Es ist gebrochen.“

Perscpiù versuchte sich auf seinen Ellbogen zu stützen.

Er starrte auf den blassen Knochen, der ihm aus dem Oberschenkel ragte wie der Ast eines abgestorbenen Baumes. Dann sank er auf den Boden zurück.

„Heilige Mutter Erde, Perscpiù! Du darfst jetzt nicht bewusstlos werden!“, stieß Anima hervor.

Wasser! Wasser würde ihn sicher wieder zu sich bringen! Anima rannte zum See. In der Dämmerung waren Büsche und Steine nur noch als dunkle Schemen zu erkennen. Sie stolperte über etwas Weiches, fing sich wieder und lief weiter bis sie den nasskalten Sand unter den Sohlen ihrer Füßlinge spürte. Sie watete ins Wasser, riss noch ein Stück Stoff aus ihrem Kleid, tauchte es ein und zog es zum Säckchen geformt wieder heraus. Dann rannte sie zurück. Nun erkannte sie das Bündel, über das sie gestolpert war. Es war der Blättersack, den Perscpiù bei jedem Ausritt dabei hatte, um besondere Holzstücke oder Steine darin zu sammeln. Anima hob ihn hastig auf und lief weiter. Sie ließ den Sack vor Perscpiù auf den Boden fallen und kniete sich neben die leblose Gestalt ihres Bruders. Dann benetzte sie Perscpiùs Lippen mit Wasser und versuchte ihm etwas zu Trinken einzuflößen. Doch es rann ihm aus den Mundwinkeln und versickerte im Erdreich. Anima starrte auf den dunklen Fleck im Boden. Schließlich wusch sie Perscpiù mit dem restlichen Wasser das Blut vom Gesicht. Er rührte sich nicht.

Anima blickte zu dem kleinen Mond, der bereits zu sehen war. Es würde nicht mehr lange dauern bis der große bläuliche Mond aufgehen und sein fahles Licht auf sie werfen würde. Sie fror. Zitternd schmiegte sie sich an Perscpiù. Doch sein Körper spendete keine Wärme.

Anima schrak hoch. Etwas war über sie hinweggeflattert. Sie blickte um sich und entdeckte einen kleinen Ulaul. Er hüpfte nicht weit von ihr über den Boden und suchte die Erde mit seinen großen hellen Augen ab. Seine flauschigen weißen Federn wirkten fast durchscheinend und sein Schnabel war so weiß wie die Blüte einer Schneerose. Da ertönte ein Gluckern.

Vielleicht ein paar der Regenboglinge, die an der Oberfläche des Sees nach Fliegen schnappten, versuchte Anima sich zu beruhigen. Ihr war kalt. Plötzlich hörte sie ein Klappern, regelmäßig und gedämpft. Sie sprang auf, zwängte sich durch die Bürstenbäume hindurch und sah, wie ein Cerquus auf sie zugaloppierte. Das Geweih leuchtete bläulich im Mondlicht und das Fell war gescheckt.

„Vario, du lebst!“, rief Anima da und stürmte ihrem Zehnender entgegen.

Das Cerquus röhrte sanft, als ob es die Wiedersehensfreude teilte. Es senkte sein Geweih, und Anima kraulte es zwischen den großen ruhigen Augen.

Wieder drang ein Rumpeln und Klappern an ihr Ohr, lauter diesmal und unruhiger. Als würden ganze Reihen von Steinen den Felsabhang hinunterrollen. Und dann sah sie die Umrisse von Reitern! Wie ein schwarzgraues Bergmassiv kamen sie auf sie zu. Das mussten Reiter der Palastbrigade sein! Anima wollte rufen, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt.

Der zehn Mann starke Trupp blieb vor ihnen stehen. Hauptmann Teinucro sprang mit einem kraftvollen Satz aus dem Sattel seines Cerquus´.

„Prinzessin Anima, welch ein Glück Euch wohlbehalten wiederzusehen.“ Der Schweiß rann ihm von den Schläfen, als er zu ihr trat.

„Ja, Mutter Erde sei Dank! Aber warum haben Sie nur so lange gebraucht?“

„Seit Anbruch der Dunkelheit durchkämmen alle verfügbaren Verteidiger den Baumberg auf der Suche nach Euch und Eurem Bruder“, sagte der Hauptmann hastig. „Doch keiner hätte Euch jenseits der Baumgrenze vermutet. Wären wir nicht zufällig auf Euer Cerquus gestoßen, hätten wir Euch nie gefunden. Wo ist König Perscpiù? Er ist doch bei Euch, oder?“, fragte er.

„Kommt!“, sagte Anima und lief los. „Er braucht die Hilfe des HofMedopifexius. Er ist dem Roten Drachen gefolgt...“

„Dem Roten Drachen? Dann stimmt es also doch“, unterbrach der Hauptmann.

Anima blieb stehen und blickte ihn aus kleinen Augen an. „Ihr wusstet davon?“

Hauptmann Teinucro nickte. „Ein Späher hat ihn heute Morgen gesichtet. Aber wir waren nicht sicher, ob er sich nicht doch getäuscht hat.“

Deshalb die vielen Männer auf dem Übungsplatz! Anima seufzte.

Sie ging weiter und trat zwischen den Bürstenbäumen hindurch, Hauptmann Teinucro dicht hinter ihr. Perscpiù lag noch genauso da, wie sie ihn verlassen hatte. Diese absonderliche Drehung des Körpers, das fahlgrüne Gesicht mit der purpurrot durchgebluteten Binde. Anima kniete sich neben ihn.

„Perscpiù, sie sind da.“

Perscpiù rührte sich nicht.

Hauptmann Teinucro war nun beinahe so bleich wie Perscpiù. Er machte auf dem Absatz kehrt. Gleich darauf kam er mit zwei seiner Männer und mit einer Trage zurück.

„Hebt den König vorsichtig hinauf. Und haltet ihn um alles in der Welt gerade dabei!“

Daraufhin hoben die beiden Perscpiù vorsichtig auf die Trage. Er stöhnte.

Anima nahm seine Hand. „Es wird alles gut!“

„Mein Blättersack“, presste Perscpiù plötzlich hervor.

„Blättersack?“ Anima schüttelte den Kopf. „Jetzt ist nur wichtig, dass du rasch nach Hause kommst.“

„Nicht ohne... meinen Blättersack!“

Als Anima erwachte, drang helles Tageslicht durch das Halbrundfenster ihres Zimmers. Die jungen Blatttriebe des Federbaums, mit denen die Decke ihres Bettes gefüllt war, dufteten frisch und fühlten sich warm und weich an. Die Prinzessin drehte sich auf die andere Seite. Da durchzuckte ein brennender Schmerz sie und sie zog scharf die Luft ein und fasste sich an die Wange. Ein gelb durchtränkter Verband hing lose herab. Sie löste ihn und warf ihn achtlos auf den Boden.

Plötzlich fiel ihr alles wieder ein: der Rote Drache, der Ritt zu den steinernen Baumriesen, der Schrei und dann Perscpiùs seltsam verrenkter Körper und das Blut, das in gleichmäßigen Schüben aus der Wunde an seinem Kopf sickerte.

„Perscpiù!“, stieß sie hervor und richtete sich auf.

„Prinzessin Anima! Ihr seid wach!“ Famlua war sofort an ihrer Seite. Aus den erdbraunen Zöpfen hatten sich einige Haarsträhnen gelöst und ihre Schürze war zerknittert, ganz so als hätte sie auf einem Stuhl in Animas Zimmer geschlafen.

„Keine Sorge, Ihr seid zuhause und Euer Bruder, der König, ist in den besten Händen. Der HofMedopifexius kümmert sich um ihn.“

„Gut!“ Anima atmete auf. „Wie spät ist es?“

„Die Sonnenuhr zeigt die fünfte Stunde nach Mittag.“

Anima schlug die Decke zurück und wollte mit fliegendem Nachtgewand ihr Zimmer verlassen. Aber die Zofe trat der Prinzessin mit ausgebreiteten Armen in den Weg.

„Prinzessin, ich bitte Euch! Ihr könnt doch Eure Gemächer nicht im Nachtgewand verlassen! Außerdem hat Eure Frau Mutter mir aufgetragen, Euch sofort zu Ihr zu bringen, sobald Ihr in einem ansehnlichen Zustand seid. Euer Bad wartet bereits.“

Anima kniff die Lippen zusammen. Nein, sie wollte erst nach Perscpiù sehen.

Anima schlüpfte unter Famluas Armen hindurch und rannte los, die Stufen der Wendeltreppe hinauf bis in die Empfangshalle des Regierungsgeschosses. Dort mäßigte sie ihren Schritt, um wieder zu Atem zu kommen.

„Prinzessin Anima“, grüßten die Wachposten, die vor der zweiflügligen Tür zu Perscpiùs Gemächern standen.

Anima nickte kurz und ging auf das kunstvolle Abbild des Baumpalastes zu, das in die Flügeltür geschnitzt war.

„Prinzessin Anima, Ihr solltet jetzt nicht...“

Doch Anima schob bereits mit aller Kraft die Türflügel auf und betrat das Königszimmer.

„Perscpiù, geht es dir besser?", fragte Anima und trat zögernd näher.

Durch die zugezogenen Vorhänge drang das Licht nur gedämpft in den Raum. Im Halbdunkel neben Perscpiùs Bett zeichnete sich die unverkennbar wulstig weiche Gestalt des HofMedopifexius Culentubus ab und neben ihm die seiner beiden ebenso dicken Helfer. An einer der Holzranken, die von jedem Eck des Bettes aufragten und den hölzernen Blatthimmel darüber trugen, stand Königin Nirega, schmal und zerbrechlich.

Anima holte tief Atem.

„Mutter, ich kann dir alles erklären“, setzte sie an. „Es war gewiss nicht meine Schuld...“

Die Königin schüttelte müde den Kopf und winkte sie zu sich heran.

„Anima, mein Kind, ich bin froh und unendlich dankbar, dass dir nichts passiert ist.“

Die Königin zog Anima in ihre Arme und küsste sie auf die Stirn. Als Nirega sie wieder losließ, beute sich HofMedopifexius Culentubus gerade über Perscpiù und legte ihm zwei Finger an die Innenseite des Handgelenks. Dann sah er die Königin an. Vage schüttelte er den Kopf.

„Der König ist immer noch bewusstlos“, sagte er und seine Hängebacken bebten.

Die Königin schwieg.

HofMedopifexius Culentubus schluckte.

„Wir müssen abwarten.“

Königin Nirega senkte den Blick.

Animas Kehle war auf einmal ganz ausgetrocknet.

„Was ist mit Perscpiù?“, presste Anima hervor.

Die Königin seufzte.

„Mutter, ich bin vierzehn! Ich will wissen, was los ist! Vater hat mich nie behandelt wie...“

„... ein kleines Kind. Ich weiß“, sagte Königin Nirega leise.

Sie sah ihrer Tochter in die Augen. Sie blickte in den wilden Strahlenring der leuchtend grünen Iris, in Augen, die funkelten wie die ihres verstorbenen Mannes, nur ein wenig heller und frischer. Dann nahm sie Animas Hände in die ihren.

„Medopifexius Culentubus“, begann sie. Ein kurzer Blick, ein bestätigendes Nicken und dann fuhr sie fort: „Medopifexius Culentubus hält es für möglich, dass Perscpiù...“, die Königin schluckte, „dass er gelähmt ist...“

Anima starrte von einem zum anderen.

„Nein!“, hauchte sie schließlich und schüttelte die Hände ihrer Mutter ab. „Das kann nicht sein! Medopifexius Culentubus wird ihn heilen! Er kann alles heilen!“

Die Königin nahm Anima in die Arme.

„Anima, niemand auf der Welt wünscht sich mehr als ich, dass du Recht hast, aber...“

Anima wand sich aus der Umarmung ihrer Mutter.

„Prinzessin“, sagte der HofMedopifexius sanft und räusperte sich. „Mein ganzes Leben habe ich damit verbracht, Heilmethoden zu studieren.“ Er strich sich über den feisten Bauch. „Und ich habe sicher schon vielen geholfen, gesund zu werden, sehr vielen. Aber auch ich kann keine Wunder vollbringen.“

„Dann werde i c h einen Medopifexius finden, der Perscpiù heilen kann! Die Reiter der Palastbrigade werden ihn suchen und hierher bringen und Perscpiù wird wieder gesund!“

„Anima, ich habe bereits entsprechenden Befehl erteilt“, sagte die Königin sanft. „Ein Reitertrupp überschreitet soeben die Grenzen des Baumbergs. Sie haben den Auftrag, die drei Medopifexii, die - wie HofMedopifexius Culentubus - dem Lenkungsgremium des Bund der Heiler angehören, schnellstmöglich hierher zu bringen. Aber die Hoffnung...“

„Aber die Cerquii brauchen viel zu lange für den Weg vom Baumberg“, schnitt Anima ihrer Mutter das Wort ab. „Du hättest sie mit Cifalitas und Trinquallitas fliegen lassen sollen. Auf dem Rücken der weißen Drachen wären sie viel schneller.“

„Auch darüber habe ich nachgedacht. Aber solange der Rote Drache in unserem Land sein Unwesen treibt, wäre es nicht sicher. Außerdem müssen wir sehr vorsichtig sein.“

Wieder seufzte ihre Mutter.

„Wenn die Truscani von Perscpiùs Zustand erfahren - dass der König des Baumbergs vielleicht nie wieder gehen, geschweige denn kämpfen kann – bringt uns das alle in Gefahr. Es käme einer Einladung an Udiom gleich, den Baumberg zu erobern.“

Das Bett raschelte. Alle wandten den Kopf dem König zu.

Perscpiù lag bewegungslos, aber mit weit geöffneten Augen in seinem Bett. Er starrte in den Blätterhimmel. Dann öffnete er die Lippen und flüsterte: „Raus!“

Es war früher Nachmittag. Anima saß auf dem Geländer ihres Balkons und ließ die Beine baumeln. Über ihr rauschte das Blätterdach des Palastbaums. Ein Späher sauste in einem Korb über gespannte Seile durch die Krone und ein Hörnchen flüchtete sich in ein Astloch. Anima ließ den Blick über die Wipfel der Königsbäume streifen und starrte dann hinunter in den Palasthof. Die meisten der bunten Läden tief unter ihr hatten die Vorhänge zugezogen. Die Baumberger pflegten oft einen ausgiebigen Nachmittagsschlaf zu halten. Ein paar Kinder standen hinter einer Linie und versuchten von dort aus, ihre Steinchen in die Astlöcher eines hohlen Baumstumpfes zu werfen.

Eine ganze Woche war vergangen, ohne dass Perscpiù nach ihr hatte schicken lassen und ohne dass es Neuigkeiten über die Medopifexii vom Bund der Heiler gegeben hätte. Auch der Rote Drache war noch nicht gefangen worden, obwohl Animas Mutter jeden verfügbaren Reiter für die Jagd freigestellt hatte. Schließlich hatte ihre Mutter sie gezwungen, wieder ihre täglichen Unterrichtstunden aufzunehmen. Doch was interessierten Anima die historischen Ausführungen zu den Anfängen des baumbergschen Königsgeschlechts, wenn die Gegenwart auf dem Spiel stand? Sollte sich HofGerismat Remisverbil in Stammbüchern und Lebensniederschriften vergraben bis seine gläserne Lesehilfe vollends verstaubt und sein allergischer Schnupfen wieder unerträglich war, sie würde es nicht.

Plötzlich brachen die Kinder ihr Spiel ab und rannten Richtung Palasttor. Sie sprangen staunend um einen sonderbaren Zug herum, der durch das Tor auf den Palasthof fuhr. Die beiden Cerquii, die die Vorhut bildeten, röhrten schwach. Anima glaubte Gilias als Anführer des Trupps zu erkennen. Er zügelte sein Tier. Das zweite Cerquus führte er an den Zügeln. Auf dem Rücken des Tiers hüpfte ein rundlicher Mann mit rötlichem krausen Haar und einem rötlichen krausen Vollbart auf und ab. Seine Glieder waren kurz und dick. Es war offensichtlich, dass er nicht zum Geschlecht der Baumberger gehörte. Den beiden folgte ein Sechsergespann schneeweißer Sincas, deren flauschiges Fell über den Boden schleifte und einen Vorhang von Moos, Blättern und Zweigen mit sich schleppte. Die Augen der kniehohen Tiere waren von der Haarpracht verdeckt, nur die Nase stach vorwitzig aus dem niedlichen Gesicht hervor. Hinter sich her zogen sie einen Wagen, der mit einer regenbogenbunten Plane bespannt war. Auf dem Kutschbock saß ein gebrechliches altes Männchen mit spärlichem weißen Haar und langen Bartsträhnen, auch er war kein Baumberger. Rund um das Wagendach baumelten Hüte aller Farben und Formen. Eine schlanke Gestalt in einem dunklen Kapuzenumhang sprang elegant aus dem Wagen. Den Schluss des Zuges bildeten zwei weitere Reiter der Palastbrigade. Ihre Uniformen sahen schmutzig aus und das Fell ihrer Cerquii war verfilzt.

Ein seltsames Dreigespann, dachte Anima.

Die Medopifexii vom Bund der Heiler!, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hatten sich als Hutmacher getarnt!

Mit einem Satz sprang Anima von der Brüstung ihres Balkons, rannte aus ihrem Zimmer und stürmte die Palasttreppe hinunter. Sie hätte den Leevator nehmen sollen! Mit dem hölzernen Riesenkorb wäre sie schneller auf der Verkündigungsterrasse angekommen.

„Mein Name ist Puscris. Und mit welcher stürmischen jungen Dame habe ich es zu tun?“, fragte der Fremde mit dem roten Kraushaar, als Anima keuchend vor ihm stehen blieb.

„Anima Overta, Tochter des starken Parexter, einst Herrscher des Baumbergs.“ Immer noch außer Atem, streckte Anima ihm die Hand hin.

„Sehr erfreut“, antwortete er und drückte Anima kräftig die Hand.

Die Sonne hatte schon begonnen sich unter die Bettdecke des Horizonts zu verkriechen, als die Flügel zu Perscpiùs Zimmer endlich aufgingen.

Königin Nirega schritt den Heilern voran.

„Wie sieht es aus? Wird er wieder gesund? Wird er wieder reiten und kämpfen können?“, platzte Anima heraus, die im Flur hatte warten müssen.

Die Königin schaute ihre Tochter an. Sie sah müde aus. Dunkle Ringe umrandeten die Augen. Die Lider senkten sich. Für einen kurzen Augenblick befürchtete Anima ihre Mutter würde ohnmächtig werden. Doch der Medopifexius Culentubus fasste sie unter. Sie betraten das gegenüberliegende Regierungszimmer und er geleitete sie zum Regentenstuhl. Sie setzte sich. Hinter dem wuchtigen Schreibtisch aus Schwarzholz wirkte sie älter als sie war, und zerbrechlicher.

„Mutter, so sag doch etwas!“, flehte Anima und heftete den Blick auf Niregas Lippen.

Doch ihre Mutter schüttelte nur traurig den Kopf. Auch Medopifexius Culentubus, der immer noch bei ihr stand, und die Heiler des Bundes schwiegen.

Die verhüllte Gestalt führte den gebrechlichen Medopifexius zu einem der gepolsterten Stühle neben dem Regierungsplatz, und der ließ sich umständlich nieder. Keiner der beiden sagte etwas. Schließlich nahm Medopifexius Puscris Animas Hand.

„Prinzessin Anima“, begann er nachdenklich. Eine tiefe Traurigkeit spiegelte sich in seinen Augen. „König Perscpiù wird nie wieder gehen können."

Einen Atemzug lang sank Anima in sich zusammen, so als ob Puscris Worte ihr alle Kraft geraubt hätten. Doch dann schrie sie: „Nein! Sie müssen ihn heilen! Sie müssen ihn wieder zu dem machen, der er war! Sie sind die Medopifexii vom Bund der Heiler!“ Anima hatte das Gefühl zu ersticken. Sie riss sich mit solcher Heftigkeit los, dass sie taumelte und sie wäre der Länge nach hingefallen, hätte der Verhüllte sie nicht gehalten. Dabei rutschte die Kapuze nach hinten und ein Wasserfall sonnengelber Haare stürzte zu Boden. Anima schaute in ein glasklares, beinahe durchscheinend wirkendes Gesicht. Eine Frau! Eine Frau im Lenkungsgremium des Bund der Heiler! Sie spürte, wie eine beruhigende Wärme auf ihren Körper überging. Ihre Stimme klang wie das sanfte Rauschen von Blättern.

„Euer Bruder braucht Eure Liebe jetzt mehr als je zuvor.“

„Mein Bruder schwingt sich einhändig in den Sattel seines Cerquus, mein Bruder reitet mit mir um die Wette durch die Wälder, mein Bruder taucht mit mir zum Grunde des Sees und klettert bis in den Gipfel der kopfstehenden Luftwurzler, mein Bruder kämpft für mich! Ohne seine Beine habe ich keinen Bruder mehr! Ohne seine Beine stirbt Perscpiù!“ Der Schall ihrer entsetzlichen Angst hallte im Raume nach.

„Vielleicht“, rauschte die Blätterstimme ruhig. „Ich habe schon Männer gesehen, die stärker waren als Euer Bruder, und die an ihrem Schicksal zerbrochen sind. Die auf dem gefährlich schmalen Grat zwischen Zetern und Hadern, zwischen Angst und Wut, zwischen Verschlossenheit und Selbstmitleid wankten, unfähig ihr Los anzunehmen und die rettende Abzweigung zu Lebensmut und Lebensfreude einzuschlagen.“ Die raschelnde Stimme verstummte. Dann wehte sie erneut durch den Raum.

„Aber vielleicht findet er auch den Weg zu einem neuen Leben. An ihm allein liegt es, sich zu entscheiden.“ Und leise fügte sie hinzu: „Nur je länger er dafür braucht, desto geringer werden die Aussichten, dass es ihm gelingt. Und sind erst einmal sechs Mondumläufen verstrichen, gibt es kaum noch Hoffnung darauf.“

Tränen schnürten Anima die Kehle zu. Tränen, die nie flossen. Seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr. Perscpiù könnte sterben... sterben wie ihr Vater... sie allein lassen... Wer würde sie, Anima, dann beschützen? Wer würde den Baumberg und seine Bewohner vor den Truscani beschützen? Wer könnte Udiom davon abhalten, sie alle zu töten, wie er ihren Vater getötet hatte?

Animas Verzweiflung schlug um in Wut.

„Nein! Perscpiù muss leben! Es muss jemanden geben, der ihn heilen kann! Wir...“

„Es gibt jemanden, der helfen kann“, meldete sich unerwartet der dürre Alte der Heiler zu Wort. Seine Stimme hörte sich brüchig an.

Anima starrte auf die schmalen Lippen unter der langen knochigen Nase.

„Er ist ein außergewöhnlicher Medopifexius. Leider ist er vor einigen Jahren verschwunden. Das muss etwa zu der Zeit gewesen sein, als Euer Vater...“

„Der GroßMedopifexius? Sie sprechen vom GroßMedopifexius?“, unterbrach ihn Puscris. „Er war unbestritten ein Meister unseres Berufs und ein würdiger Vorsitzender unseres Bundes, aber auch er konnte keine Wunder vollbringen. Daran ist nun mal nichts zu ändern. Und wie Sie schon sagten, Medopifexius Sienpas, seit Jahren haben wir kein Lebenszeichen bekommen von ihm. Eher müsste man jederzeit mit der Nachricht rechnen, dass der GroßMedopifexius irgendwo am Ende der Welt gestorben ist.“

Anima Overta

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