Читать книгу Anima Overta - Anja Haverkock - Страница 7
ОглавлениеDer lautschluckende Berg
Die Hitze war drückend. Dabei sollte die Luft nach einem so heftigen Gewitter wie in der vergangenen Nacht doch gereinigt sein und frisch. Schon sammelten sich wieder neue Wolken am Himmel. Wie ein bauschiger Hut hingen sie über den drei Bergspitzen – das einzige, das Anima über die kargen Büsche hinweg erkennen konnte.
Selbst von den Wassermassen der letzten Nacht gab es keine Spur mehr. Keine feuchte Stelle auf dem Boden. Nichts.
Der Herr Gerismat hatte sich gegen das Sitzenbleiben entschieden. Anima hatte ihn verächtlich schnaubend in ihre Gürteltasche gesetzt, die Reisetasche gegriffen und war losmarschiert. Lange hatte sie nach Trinquallitas gerufen. Doch der weiße Drache blieb verschwunden.
Mühsam bahnte Anima sich einen Weg durch die Sträucher. Oft waren sie so hoch, dass sie sie nicht darüber schauen konnte. So folgte sie einfach den winzigen Sandlawinen unter ihren Tritten bergab. Schritt für Schritt, von Strauch zu Strauch. Plötzlich versanken ihr die Füße tiefer im Sand. Der körnige Untergrund geriet in Bewegung. Sie wollte zurück. Doch je rascher sie einen Fuß hinter den anderen setzte, desto mehr Sand rieselte unter ihnen hindurch. Dann rutschten ihr die Füße ganz weg. Anima schrie auf. Da erfasste eine Flutwelle aus Sand sie und riss sie mit sich.
Anima ließ ihre Tasche los und wollte sich irgendwo festhalten, doch der Sand riss alles mit sich, was ihm in den Weg kam. Sie ruderte mit den Armen, um an der Oberfläche des Stroms zu bleiben. Sie schrie um Hilfe, aber ihr Schreien ging unter in dem Knirschen des Sandes und in dem Spreißeln von trockenem Holz.
Und dann wurde der Strom der goldgelben Körner langsamer. Schließlich lief er sich aus in einer Senke, wo er Anima ausspie wie einen unverdaulichen Kern.
„Gerismat Remisverbil! Sind Sie noch da?“, krächzte sie unter Prusten und Spucken. Sie steckte mit den Beinen im Sand fest. Die feinen Körner hatten ihr die Haut wund gescheuert und das Haar so steif gemacht, dass ihr die zerzausten Locken in alle Richtungen vom Kopf abstanden. Außerdem brannten die Körner in den Augen. Anima versuchte sie herauszureiben, blinzelte, und lugte durch schmale Schlitze.
Um sie herum schien alles goldgelb. Verschwommen sah sie einen flachen Berghang. Überall Sand. Dort, wo er nicht lose lag, schien er zu Stein verbacken. Weiter links ragte er sogar als bröckelige Felswand auf. Etwas tiefer glaubte Anima ein wildes Gestrüpp von trockenen Sträuchern zu erkennen. Ein mannsgroßer, glitzernder Sandbrocken versperrte ihr die Sicht darauf.
„Gerismat Remisverbil?“ Anima fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und grub sich die Beine frei. Sie tastete nach ihrer Gürteltasche. „Sind Sie in Ordnung?“ Sie spürte seine weichen Glieder unter den Fingern. Wieder blinzelte sie, dann sah sie klarer.
Unter dem Überwurf ihrer Gürteltasche hing das Schwanzende des Herrn Gerismat heraus.
„Halt! Keinen Schritt weiter!“, ertönte plötzlich eine Stimme. Die Worte klangen schmerzhaft hoch und schrill, fast wie eine Sinca-Pfeife.
Anima zuckte zusammen. Der glitzernde Sandbrocken vor ihr bebte. Er fuchtelte ihr mit irgendetwas vor der Nase herum. Es sah aus wie ein langstieliger Schöpflöffel.
„Entschuldigt bitte, was sagtet Ihr, Prinzessin?“ Der Herr Gerismat drehte sich und streckte den Kopf unter dem Taschenüberwurf hervor. „Ach du dicker Buchdeckel! Was ist denn das?“, entfuhr es ihm.
Der Sandbrocken war lebendig! Er war ein großer, schwabbeliger Mann, der auf einer felsigen Erhöhung stand. Neben ihm brannte ein kleines Feuer und dicht darüber hing eine trichterförmige Pfanne mit einer kleinen Schüttrille an Ketten von einem dreibeinigen Gestell. Der Oberkörper des Mannes war völlig entblößt. Seine Haut war milchig weiß und wo das Licht der Sonne hinfiel glitzerte sie, als wäre sie mit Gold gepudert. Der breiteste Speckring quoll ihm über den Bund seiner weiten Beinkleider und jedes Mal, wenn der Mann den langstieligen Schöpflöffel vor Anima schwenkte, schwabbelte alles an ihm.
Die Prinzessin schaute verwirrt.
„Goldengelchen, lauf zum Schloss und hol die Wehrschwadron!“, rief er mit der hohen Fistelstimme, die so überhaupt nicht zu seinem Äußeren passte. Dabei kniff er die Äuglein zusammen und presste die Lippen in dem teigigen, runden Gesicht aufeinander. Sein Schädel war kahl und die Kopfhaut warf an den Seiten Falten.
„Was ist denn los, Paps?“, rief das Mädchen hinter ihm. Mit dem zartgelben Hängekleid war sie Anima vor der sandigen Felswand gar nicht aufgefallen.
„Ein Grauhäuter! Ich hab einen Grauhäuter gefangen!“
Das Mädchen riss den Mund auf und kam näher. Am Rand der Senke blieb es stehen. Auf jeder Seite ihres kugeligen, weißen Gesichts hing ein dünner blasser Haarzopf, der dem nackten Schwanz einer Waldmaus ähnelte. Um das schwulstige Bäuchlein lag ein goldener Kettengürtel. Während sie daran herumnestelte, betrachtete sie Anima mit weit geöffneten Äuglein.
„Einen Grauhäuter? Hier oben?“, rief jemand mit hoher, dünner Fistelstimme von der Felswand herüber.
Anima, die noch immer da saß, wo die Sandwelle sie angeschwemmt hatte, sah hinüber. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte ein hohes schmales Loch im Fels und zu beiden Seiten davon ein kleineres; und rechts und links davon entdeckte sie nun auch einen Turm und dahinter einen Erker. Ein ganzes Haus war in der sandigen Felswand versteckt.
Eine Frau trat heraus. Sie war ebenso fett wie der Mann mit dem Schöpflöffel. Sie trug ein goldgelbes Kleid mit einer weißen Schürze und auf der ausladenden Hüfte einen Säugling. Mit wogendem Körper eilte sie herbei und warf Anima einen kurzen Blick zu.
„Möge uns der große Goldkönig beschützen!“, rief sie und schob Goldengelchen mit der freien Hand den Hang hinunter.
„Sie ist kein Goldkörper, das steht fest“, fistelte der Mann und stieß den Stiel des Schöpflöffels in Animas Richtung. „Sie muss weg!“ Er kratzte sich die hängende Brust. „Bestimmt ist sie ein Grauhäuter.“
„So grün wie sie aussieht, kann sie jedenfalls nicht zu den Rotgesichtigen gehören“, meinte die Frau.
„Ich bin weder ein Grauhäuter noch ein Rotgesicht, oder was auch immer“, widersprach Anima, als sie endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte. „Ich bin Baumbergerin!“
Sie richtete sich auf und klopfte sich den Sand aus dem Kleid. Da blitzte etwas in der Pfanne.
Anima machte den Hals lang und hob ein wenig die Hand.
Blitzschnell sauste der Schöpflöffel auf Animas Finger herab.
„Finger weg von unserem Gold!“, fauchte der Mann. „Hast du das gesehen, Cima! Dieser Grauhäuter hat doch tatsächlich versucht, unser Gold zu stehlen! Vor meinen Augen!“
„Nicht zu fassen!“, keuchte die Frau. Sie schüttelte den Kopf, dass die Hängebacken schaukelten. „Ich sag doch immer, Samsa, vor Grauhäutern muss man sich in Acht nehmen.“
Sie setzte den Säugling ab und trat neben ihren Mann auf die steinige Erhöhung, die aus der Sandbrandung ragte. Dann nahm sie ihre Schürze in die Hände wie zwei Topflappen und holte hastig die Pfanne aus der Hängevorrichtung. Beinahe wäre ihr dabei ein Tropfen der Gold glänzenden Flüssigkeit über den Rand der Pfanne geschwappt.
„Dieser Grauhäuter! Unser Gold stehlen zu wollen...“, brummte sie und ging mit der Pfanne zum Haus.
„Ich bin kein Grauhäuter! Und stehlen tue ich schon gar nicht!“, sagte Anima entschieden und stemmte die Fäuste in die Hüften. „Euer Gold interessiert mich einen feuchten Schimmelpilz! Ich habe selbst genug Gold!“
Der Mann starrte sie unbeeindruckt an. Seine Frau drehte sich nicht einmal um.
Da sah Anima sich nach ihrer Reisetasche um. Nichts. Kurzentschlossen drückte sie den Herrn Gerismat beiseite und holte zwei Goldmünzen aus ihrer Gürteltasche. Die Äuglein des Mannes wurden so groß wie Esscaansteas.
Plötzlich zitterte der Boden unter Animas Füßen.
Das schwache Rütteln steigerte sich zu einem schweren, rhythmischen Stampfen. Und dann tauchte aus dem Gestrüpp unterhalb des Sandhäuschens, genau auf dem Pfad auf dem Goldengelchen verschwunden war, ein ganzer Trupp Goldkörper auf. Mindestens zwei Dutzend der massigen Körper marschierten hintereinander, in Reih und Glied, schnurstracks auf Anima zu. Sie stellten sich um die Senke herum auf. Ausdruckslos starrten sie Anima aus winzigen Äuglein an. Das dünne Haar, das erst am Ende einer hohen Stirn zu wachsen begann, hatten sie zu einem Zopf zusammengebunden, der ihnen auf den massigen Rücken fiel. Der feiste Bauch hing ihnen über den Bund ihrer hellen, wadenlangen Hosen und die speckige, milchfarbene Haut glitzerte in der Sonne golden. Über der schwulstigen Brust trugen sie eine breite Schärpe, in der ein goldener Säbel steckte.
„Prinzessin, ich fürchte da könnten einige Unannehmlichkeiten auf uns zukommen“, sagte Gerismat Remisverbil leise.
Anima zog die Brauen zu einem Balken zusammen und warf ihm einen kurzen Blick zu.
In diesem Augenblick trat der Goldkörper, über dessen Oberkörper zwei gekreuzte Schärpen verliefen, aus dem Kreis heraus auf Samsa zu.
„Ihr wart schnell zur Stelle!“, sagte Samsa zu ihm.
„Waren gerade auf unserem Kontrollgang in der Nähe“, erklärte dieser knapp. Er sprach mit der gleichen Fistelstimme wie Samsa. „Ist er das?“
„Ja, ja. Er wollte unser Gold stehlen!“
Goldengelchen war mit dem Trupp zurückgekehrt und stellte sich hinter ihren Vater. Sie lugte an ihm vorbei auf Anima hinunter.
„Papa!“, sagte sie und pikste ihn mit dem Finger in die Seite.
„Nicht jetzt!“, meinte Samsa und hielt den Blick starr gerichtet auf den mit der gekreuzten Schärpe.
„Aber Papa, sie hat...“
„Der Dieb wird unverzüglich vor Sivgar, den Schweren, gebracht!“, ordnete der an und nickte den beiden Männern zu, die Anima am Nächsten standen. Mit fetten, glitzernden Körpern stapften sie auf Anima zu.
Die Prinzessin wich zurück.
„Das könnt ihr nicht machen!“, sagte sie tonlos und ihre Augen weiteten sich. „Nicht mit mir! Nicht mit der...“
Da packten die schwabbeligen Arme auch schon zu.
Die Sonne war zwei daumenbreit weiter über den Horizont gewandert, als die Schwadron wieder aus dem Gestrüppwald hinaustrat. Der Pfad teilte sich, lief links weiter den Hang hinunter und rechts am Hang entlang. Sie schlugen den rechten Weg ein. Schmalere Seitenpfade mündeten in ihren Weg, wie kleine Bäche, die in einen großen Strom flossen. Rasch wuchs er zu einer breiten Straße an. Plötzlich blieben sie stehen.
Die beiden Goldkörper, die Anima untergefasst trugen, ließen sie los und die Prinzessin plumpste auf den Boden. Kaum hatte sie sich hochgerappelt, knufften sie sie auch schon in den Rücken. Sie stolperte vorwärts, über die Wegbiegung, und blickte mit einem Mal hinunter in eine weite Senke.
Es roch nach Feuer. Der Boden war trocken und steinig. Überall rieselte Sand. Niedrige Krater sprenkelten die Senke und in einigen davon hingen ähnliche Trichterpfannen wie die von Samsa. Sie hingen an Metallketten über dem offenen Feuer. Die Luft darüber flimmerte und es schwebte ein feiner, goldglitzernder Staub darin. Jeweils vier, fünf oder mehr Goldkörper arbeiteten in einem Krater: einer schürte das Feuer; ein anderer rührte in der zähflüssigen Goldsuppe herum, die in der Pfanne schwamm; zwei weitere waren damit beschäftigt, etwas aus dem Trichterabfluss in eine Form zu füllen; und wieder einer durchforstete augenscheinlich eine Vielzahl von Gießformen, die sich auf einem großen Steintisch türmten. Auf den goldglänzenden Oberkörpern perlte der Schweiß.
In einem anderen Sandkrater kneteten Frauen mit Kopftuch und Schürze einen blassen Teig, walkten ihn aus und formten daraus kleine Bällchen.
In dem dürren Gestrüpp drumherum hingen Hosen, Schürzen und Tücher wie zum Trocknen. Ein Kind schnappte sich eine aufgehängte Schürze, band sie sich um die Schultern und balancierte auf dicken Beinchen über einen Kraterrand zum anderen. Eine Horde kleiner Kinder folgte ihm, bis vor die Felswand, die die Senke zum Berg hin abschloss.
Die Wand blitzte und blinkte. Und da erkannte Anima, dass die Wand aus Sandstein die Fassade eines Schlosses war: aus dem Stein gekratzt, wölbten sich zahlreiche Türme und Erker hervor, viele davon mit Mustern verziert und mit Gold überzogen.
„Ich glaube, ich träume“, entfuhr es Anima.
„Nein, ich sehe es auch“, klang es aus der Gürteltasche. „Unglaublich diese goldenen Kugelspitzen auf den Rundtürmen, die gebogenen Vordächer, die geschwungenen Fenster! Keine einzige Kante, Ecke oder Spitze! Alles ist fließend oder rund. Grandios! Unsere Borra Tectichari hätten ihre wahre Freude an solcher Baukunst!“
Die Schwadron marschierte mit ihrer Gefangenen quer durch die Senke. An jedem Krater, an dem Anima vorbeigeschubst wurde, hielten sie mit der Arbeit inne und starrten sie an. Und mit jedem Schritt, den sie machten, verließen mehr Leute ihre Arbeit und folgten ihnen. Schließlich erreichten sie als langer Zug das Schloss im Fels.
Der Mann mit der gekreuzten Schärpe über der Brust schritt die breiten Stufen zum Schlosshof hinauf und Animas Wächter stießen sie hinterher.
Auf dem Hof standen nebeneinander zwei wuchtige Sessel, die aussahen wie große Raubvögel aus Sandstein; die hohen Lehnen waren zu einem Kopf mit gebogenen Schnabel geformt und die Seiten zu mächtige Vogelschwingen, und in den Sesseln saßen ein Goldkörpermann und eine Goldkörperfrau. Mit den goldstaubbepuderten Gesichtern und golddurchwirkten Gewändern glichen die beiden massigen Gestalten blankpolierten, goldenen Statuen. Nur das gelegentliche Blinzeln der Äuglein und ein leichtes Zucken um die schmalen Lippen des Mannes verrieten, dass es sich um lebende Wesen handelte. Um den Kopf trugen sie einen goldenen Turban. Die plumpen Füße waren mit goldenen Sandalen beschuht und ruhten auf den langen Sandsteinkrallen ihrer Sessel.
Die Wächter versetzten Anima noch einen Stoß und blieben dann neben ihr stehen. Der Mann mit der gekreuzten Schärpe trat vor das Paar und beugte schwerfällig das Knie. Dann blickte er auf und verkündete mit kratziger Fistelstimme: „Sivgar, der Schwere, teuer geschätzter König der Goldkörper, wir bringen Euch einen gefangenen Grauhäuter. Ihm wird vorgeworfen, Gold gestohlen zu haben.“
In der Menge, die vor den Stufen zum Schlosshof verharrte, breitete sich Unruhe aus. Eine Mutter schob ihr Kind hinter sich, ein besonders fetter Goldkörper ließ seine Armreifen verstohlen in die Hosentasche gleiten, einige tuschelten und zeigten mit dem Finger auf Anima.
„Ich habe überhaupt nichts gestohlen!" Animas Stimme zitterte. „Und ein Grauhäuter bin ich auch nicht!“
Sivgar der Schwere sah Anima nur gleichmütig an.
„Nun, was sollen wir mit diesem jämmerlichen Grauhäuter anstellen?“, sprach er hoch und schrill.
„Er soll verschwinden!“, kreischte ein Goldkörper.
„Ja, wir wollen keine anderen hier“, fistelte die Frau neben ihm. „Weg mit ihm, bevor er doch noch an unser Gold kommt!“ „Aber euer Gold interessiert mich doch überhaupt nicht. Ich habe selbst genug Gold“, sagte Anima eifrig und zog wieder ihre Münzen aus dem Gürtel.
Sofort schwollen Sivgars Äuglein an und ein pfeifendes Tuscheln ging durch die Zuschauer.
„Woher hat der Grauhäuter das Gold?“, fragte er schrill und seine Mundwinkel zuckten noch heftiger.
„Ich besitze eine ganze Schatulle voller Münzen. Sie - ist - in - meiner Tasche. Die Tasche, die ich verloren habe.“ Anima betonte jedes einzelne Wort, damit sie sie auch wirklich verstanden. „Ich will auf den schnellsten Weg nach Westen, zum GroßMedopifexius.“ Etwas ziepte an Animas Haar. „Dafür habe ich das ganze Gold mitgenommen. Ich habe genug davon. Schließlich bin ich... Autsch!“
Jetzt zog Gerismat Remisverbil mit aller Kraft an der Haarsträhne. Dann flüsterte er: „Prinzessin, sagtet Ihr nicht, niemand dürfte den Grund Eurer Reise erfahren? Wenn Ihr preisgebt wer Ihr seid, wird das einige Fragen aufwerfen, die Ihr nicht beantworten wollt.“
Während Gerismat Remisverbil sprach, starrte König Sivgar unentwegt auf die Münzen in Animas Hand. Da schnellte der Arm der Königin nach vorn und sie entriss Anima das Gold. Anima wollte etwas sagen, doch der Herr Gerismat sprach bereits weiter.
„Wenn Ihr mich fragt, habt Ihr schon zu viel gesagt. Äußerste Vorsicht scheint mir angebracht und im Zweifelsfall hartnäckiges Schweigen!“
Anima ließ die Schultern hängen. Wie konnte sie nur so unvorsichtig sein?
„Ja, na ja, aber nun ist sie ja weg, die Tasche, meine ich, und das Gold“, sprach sie stockend. Der HofGerismat richtete sich wieder auf und Anima fuhr fort. „Und ich muss zum GroßMedopifexius. Nicht, dass ich krank wäre. Aber, man weiß ja nie und deshalb ist es gut sich vorher schlau zu machen. Ja, ja ich will Heilerin werden. Und der GroßMedopifexius wird mich lehren zu heilen.“
Doch das Königspaar schien ihr gar nicht zuzuhören. Es hatte nur Augen für das glänzende Metall.
Da trat ein Mädchen aus der Menge heraus.
Goldengelchen!
Sie schleppte etwas die Stufen zur Königin hoch.
„Meine Tasche! Du hast sie gefunden!“, rief Anima.
Die Königin beugte sich aus dem sandigen Throngefieder hervor und nahm die Tasche entgegen. Goldengelchen sagte etwas, aber in dem allgemeinen Gemurmel konnte Anima kein Wort verstehen. Die Königin nickte, öffnete die Tasche, zog die Schatulle hervor und klappte den Deckel auf. Sie erstarrte. Ein gieriges Funkeln trat in ihre Augen.
„Was ist, meine Liebe? Was hast du denn da?“, fragte König Sivgar, und um seine Mundwinkel zuckte es wieder.
Schweigend hielt sie ihm die Schatulle hin. Er starrte hinein. Dann stemmte er den goldstaubenden Leib aus dem Thron und versenkte die Hände in der Schatulle. Ein Goldstück nach dem anderen ließ er durch die speckigen Finger gleiten.
Die Untertanen gafften.
„Ein Grauhäuter, der eine solche Menge Gold gestohlen hat...“, fistelte die Königin und funkelte Anima böse an.
„... muss in das Loch!“, vollendete der König den Satz mit drohend hochgezogenen Brauen und spitzem Mund.
Im Inneren der Felswand mit der Schlossfassade war es kühl und düster. Nur der flackernde Schein der Fackeln, die Animas Wächter trugen, erhellte die Gänge, tanzte über sandige Risse und felsige Vorsprüngen und ließ die unzähligen feinen Adern aus Gold darin glitzern. Sie bogen von einem Gang in den nächsten. Anima hatte längst die Orientierung verloren, als einer der Gänge breiter wurde und sie in eine Art Kammer gelangten. Sie blieben stehen.
Anima war müde, ihr taten die Füße weh, und sie fragte gereizt:
„Was ist? Sind wir da?“ Sie fuhr zusammen, als sie ihre Stimme vernahm. Die Worte hörten sich ganz abgehackt an, als risse jemand sie ihr vom Mund weg.
Der fettere der beiden Wächter zog einen großen, glänzenden Schlüssel aus der Tasche seiner Hose und steckte ihn in ein kleines Loch an der Seite der Kammer. Da erst erkannte Anima die steinerne Tür darin. Er drehte den Schlüssel, und mit vereinten Kräften zogen die Wächter die Tür auf. So schwer wie sie aussah, hätte sie laut Kratzen oder Quietschen müssen, aber es war nur ein kurzes Knacken zu hören, dann war es wieder still.
Muffig eiskalte Luft schlug ihnen entgegen, wie aus einem uralten Grab. Sie stiegen eine enge Treppe hinunter. Die Stufen waren steil, uneben und so schmal, dass sie nur hintereinander gehen konnten. Mit jedem Schritt, den sie tiefer stiegen, wurde das Licht der Fackeln schwächer und schließlich war es nur noch ein schwaches Glimmen.
Irgendwann hörten die Stufen auf. Sie hatten das Ende der Treppe erreicht. Anima versuchte das Dunkel mit den Augen zu durchdringen und langsam schälten sich daraus die Umrisse eines kleinen, runden Raumes: dem Loch!
Anima erstarrte.
Einer der Wächter steckte seine Fackel in eine Halterung an der Wand, der andere bückte sich. Etwas Metallenes quietschte, dann war das Geräusch auch schon wieder geschluckt. Ein kurzes Klacken und etwas Kaltes, Hartes schloss sich eng um Animas Knöchel. Wortlos wandten die Wächter sich um und machten sich an den Rückweg, und Anima war allein.
Reglos stand sie da. Es war alles so unwirklich: wie sie über dem Gewitterkessel abgestürzt war, wie Trinquallitas verschwunden war, diese eigenartigen Goldkörper, dieser Berg, dieses Loch! Vielleicht träumte sie ja doch.
„Prinzessin? Prinzessin Anima, ist alles in Ordnung mit Euch?“, hörte sie Gerismat Remisverbil fragen. Es klang, als würden die Worte unter einem Tuch erstickt, sobald sie ausgesprochen waren.
Also, doch kein Traum! Sie sank zu Boden. Der Grund war hart und feucht und die Kälte kroch ihr in die Glieder.
„Ach, Herr Gerismat! Einen Augenblick lang hatte ich Sie ganz vergessen“, hauchte Anima.
„Wir befinden uns wirklich in einer äußerst misslichen Lage“, sagte der Herr Gerismat, als halte er einen Vortrag über die Bedeutung von mangelhaft gespitzten Kohlestiften.
„Sie werden uns hier unten schon nicht sterben lassen“, fügte er zögerlich hinzu.
„Sicher?“, meinte Anima. Das Metall um ihre Knöchel schnitt ihr ins Fleisch. Sie zerrte an der Kette.
Irgendetwas knarrte dumpf, fiel aus der Wand auf sie zu und blieb direkt vor ihr auf der Erde liegen. Im schwachen Schein des Lichts konnte sie nicht erkennen, was es war. Vorsichtig stupste sie mit dem Fuß dagegen. Ein leises Knacken. Etwas rollte ein Stück.
Anima starrte in die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels und schrie auf. Auch der Herr Gerismat stieß einen Schrei aus. Doch das Loch verschluckte den Schall.
Animas Herz raste. Hastig schob sie sich von dem Schädel weg, soweit die Eisenkette an ihren Fußschellen es zuließ.
„Glauben Sie immer noch, dass man uns hier unten nicht sterben lassen wird?“
Der Herr Gerismat schwieg.
Animas Knöchel waren aufgeschürft und taten weh. Sie riss zwei lange Stoffstreifen aus dem Saum ihres Kleides und schob sie unter das Metall. Sie musste an Perscpiù denken und daran wie seine Wunde den Kopfverband dunkel gefärbt hatte. Ob er immer noch reglos in seinem Bett lag?
Anima ließ den Kopf auf die Arme sinken und zog die Beine an den Körper. Sie hatte ihm helfen wollen, und nun... Sie wünschte, sie könnte wie früher mit ihm durch die Wälder reiten. Sie wünschte...
Ein Rütteln an ihrem Arm weckte sie.
„Pst! Du da!“, fistelte es ihr ins Ohr. „Komm mit!“
Jemand zerrte an ihrem Arm und Anima fasste sich unwillkürlich an die schmerzenden Knöchel. Die Eisen waren ab. Sie lagen aufgebrochen neben ihr.
„Komm! Schnell!“
Es war Goldengelchen. Mit einem Mal kam sie ihr gar nicht mehr so klein vor.
„Was machst du hier? Hat dich jemand geschickt?“
Goldengelchen senkte den Kopf, und ihr Doppelkinn sah aus, als trage sie einen dicken Ring um den Hals.
„Nein. Niemand darf wissen, dass ich hier bin“, sagte sie, den Kopf immer noch gesenkt.
„Aber ich sitze zu Unrecht in diesem Loch! Warum wollt ihr das nur nicht verstehen?“ Am liebsten hätte Anima das fette Mädchen geschüttelt bis ihr die Worte in das Gehirn gedrungen wären.
„Aber alle Goldkörper sind taub, oder wenigsten fast. Das Einzige, was wir gut hören können, sind die hohen Stimmen anderer Goldkörper. Wusstest du das nicht?“
Taub?
„Interessant“, klang der Herr Gerismat dumpf aus Animas Gürteltasche heraus.
„Vor vielen Generationen sollen wir Ohren gehabt haben, mit denen wir andere Wesen verstehen konnten. Aber seit wir in dem lautschluckenden Berg nach Gold schürfen, ist unser Gehör verkümmert.“
„Aber DU kannst mich doch hören, oder nicht?“, fragte Anima und betrachtete Goldengelchens runden Kopf. Dass ihr das bisher nicht aufgefallen war? Nur kleine, runde Wülste waren zu erkennen, wo sie die Ohren vermutet hätte, und auf einer Seite ein winziges Loch.
Goldengelchen war Animas forschenden Blick gefolgt.
„Da bin ich vor Jahren in einen Dörrbusch gestürzt. Eine Astspitze hat geradewegs mein Ohrbleibsel durchbohrt. Seitdem kann ich hören. Nicht nur die hohen Stimmen unserer Leute. Alles. Den Wind, den Donner, sogar den Sand kann ich rieseln hören. Meine Mutter meint es ist unanständig, ich soll es niemanden wissen lassen. Außerdem wäre es sowieso zu nichts nütze“, erklärte sie unsicher.
„Immerhin verstehst du mich!“, sagte Anima.
„Und die anderen?", schaltete sich Gerismat Remisverbil ein. "Wie sprecht ihr mit Fremden oder mit diesen Grauhäutern oder – wie nannte dein Vater sie noch - Rotgesichtigen, wenn ich fragen darf?“
Goldengelchen zuckte mit den Schultern.
„Wir sprechen nicht viel mit anderen Wesen. Wozu auch? Wir suchen nach Gold.“
Die sonderbaren Fistelstimmen, dass sie über alles, was Anima sagte, einfach hinweggegangen waren... Mit einem Mal passte alles zusammen.
„Aber wenn die da oben ihren Irrtum nicht eingesehen haben, was willst du dann von mir?“
„Ich will dich hier rausholen.“
Anima sprang auf.
„Du meinst, du holst mich raus aus diesem Loch?“ Im nächsten Augenblick fügte sie misstrauisch hinzu: „Warum?“
„Ich habe einen kleinen Bruder. Ich weiß wie es sich anfühlt, wenn man für etwas bestraft wird, das man nicht getan hat. Und du hast das Gold nicht gestohlen. Es ist viel unreiner als unseres.“ Sie holte etwas aus der Tasche ihres Kleides und betastete es. Es blitzte im Fackelschein. Es war eine von Animas Goldmünzen. Sie steckte sie wieder zurück.
Anima biss sich auf die Unterlippe und schwieg.
„Außerdem bist du kein Grauhäuter. Grauhäuter sind... viel dürrer und hässlicher, und... sie haben keine grünen Augen. Sie haben Wiesen, die beinahe so grün sind wie deine Augen. Aber sie halten Tiere darauf.“ Angewidert verzog Goldengelchen das Gesicht. „Und sie haben kein Gold. Sie wissen nicht einmal wie man danach sucht, und sie haben keine Ahnung davon, wie man daraus Münzen, Ketten oder Armreifen macht. Sie sind arm, dumm und diebisch. Genau wie die Rotgesichtigen.“
Anima stöhnte. Nachbarn, die arm, dumm und diebisch sind, schien es wohl überall zu geben.
„Aber jetzt komm! Du musst weg sein, bevor es hell wird.“
Als sie aus den Gängen des lautschluckenden Berges heraustraten, verblasste das Funkeln der Sterne bereits und Schlieren von Rosaviolett mischten sich in das Blau der schwindenden Nacht.
Goldengelchen ergriff Animas Hand und zog sie mit sich in die Büsche, die um den Ausgang herum wucherten. Sie waren trocken und kratzten ihr über die Haut. Schon nach ein paar Schritten stießen sie auf eine Schneise, eine Art sandigen Kanal.
Goldengelchen ließ Animas Hand los, kroch in einen Busch und zog etwas hervor. Es war etwa so groß wie Animas Badezuber zuhause und sah aus wie ein riesiges vergoldetes Blatt, das sich am Rand leicht einrollte.
Anima blickte verdutzt.
„Mein Sandblatt“, sagte Goldengelchen und ein Lächeln huschte ihr über das speckige Gesicht. Sie schob das Blatt an den Sandkanal heran und machte eine auffordernde Handbewegung zu Anima hin.
„Mit genügend Schwung müsstest du es bis an den Rand des Gewitterkessels schaffen. Das Einzige worauf du achten musst, ist die Kanalspaltung. Du erkennst die Stelle weit im Voraus an dem Dornbusch der mitten auf der Bahn wächst. Du verlagerst dein Gewicht und schlitterst rechts daran vorbei.“