Читать книгу Der auferstandene Jesus als erzählte Figur im Matthäus- und Lukasevangelium - Anna Cornelius - Страница 20
2.2.2.2.2 Realer Leser
ОглавлениеBeim realen Leser verhält es sich ähnlich wie beim realen Autor: Auch er befindet sich generell außerhalb des Textes. Dabei handelt es sich nicht um eine einzelne Person, sondern um eine unendlich große Anzahl an Menschen, die zu allen Zeiten den Text gelesen haben, lesen und lesen werden (die also später einmal zu realen Lesern werden). 1 Zu rekonstruieren, wer die damaligen Erstleser des Evangeliums waren, auf die der reale Autor sein Evangelium zugeschnitten hat, und wo das Evangelium seinen „Sitz im Leben“ gehabt hat, ist nicht Gegenstand der Narratologie. Denn was im Kopf der Erstleser beim Lesen des Textes vorgegangen ist, welches Vorwissen und welche Verstehensprozesse sie an den Tag legten, kann nicht mehr rekonstruiert werden, da die realen Erstleser sowie der reale Autor im Dunkeln liegen.
Dennoch bin ich als reale Leserin natürlich faktisch an der Erzählung beteiligt, da ich mit meinen kognitiven Verstehens-Prozessen und aus meiner Lebenswelt heraus den Text wahrnehme.2 Bei dieser Wahrnehmung versuche ich jedoch, anhand bestimmter Textsignale die vom Text vorgesehene Rezeptionsweise (den intendierten Rezipienten und seine vom Text intendierten Reaktionen) zu rekonstruieren.3 Eco spricht dabei sogar von einer gewissen Verpflichtung des realen Lesers, sich dem Code und dem Verstehenshorizont des Modell-Lesers so weit wie möglich anzunähern.4 Darüber hinaus enthält der Text selbst Lese-Anweisungen für eine im Text vorgesehene Rezeptionsweise (den intendierten Rezipienten) und es geht dabei darum, diese Anweisungen aufzuzeigen, damit sich der reale Leser im Spielraum dieses intendierten Rezipienten bewegen kann.5 Der intendierte Rezipient ist damit eine vom Text angebotene Lese-Rolle, die vom realen Leser eingenommen werden kann, auch wenn diese natürlich im Einzelnen von realen Lesern unterschiedlich eingenommen wird.6