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Die sitzenden Schatten

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Da Giulio mor­­gen mit seiner Frau bei den Cairolis eingeladen ist, schlägt er vor, den Cairolis statt des üblichen Blumenstrausses «Die sitzenden Schatten» zu schenken, ein ziemlich schönes Buch: Er schliesst zur Bestätigung halb die Augen.

«Haben sie es denn nicht schon?», bemerkt seine Frau, die sich erinnert, dass die Cairolis Leute sind, die sich auf dem Laufenden halten.

«Eben», empört er sich, «und ‹Die sitzenden Schatten› gehören ja zu den Klassikern, schon als Klassiker auf die Welt gekommen, ganz etwas anderes als die Bestseller, die jeder zu Hause hat. Ein Meisterwerk von der ersten bis zur letzten Seite, es wird lange dauern, bis wieder ein ähnliches Buch erscheint.»

Giulio schlägt das Buch zum Beweis mehrmals auf den Tisch:

«Und wenn sie es gehabt haben sollten, haben sie es inzwischen weggeworfen und vergessen.

Ich habe es ganz wiedergelesen: durch und durch hervorragend, frisch, wie gerade erst geschrieben, verstehst du? Wenn sie nicht lesen können, dann blättern sie es zumindest durch, stauben es ab und geben es den Kindern zum Reinschnuppern. Sie haben doch Kinder, oder?»

«Kinder und Hunde.»

«Prächtig, prächtige Leute, die Cairolis.»

«Vorausgesetzt, es ist in der Buchhandlung vorrätig, bis morgen müssen wir es haben», erinnert ihn seine Frau.

Und tatsächlich, Bedauern in der Buchhandlung: «Die sitzenden Schatten» sind nicht vorrätig. Die gleiche Antwort in der zweiten Buchhandlung.

In der dritten dagegen, der Libreria Renzi, hebt die Verkäuferin auswendig den Finger, um das Wunder anzukündigen: Der Zufall will es, dass ein Exemplar noch vorhanden ist, ein einziges, in Englisch aber. Zu zweit stehen sie da und lächeln dem Zufall, den Schatten, dem Englisch zu: Die Verkäuferin geht sicheren Schritts zu den angelsächsischen Regalen, sucht, zieht das richtige Buch zwischen den anderen heraus und übergibt es Herrn Giulio zur Ansicht. Der, wenn er wollte, auf den doppelten Zufall setzen und versuchen könnte, sich aus irgendeinem Schattenreich das italienische Original kommen zu lassen, eine Frage der Geduld, vielleicht wochen-, vielleicht monate- oder jahrelangen Wartens, ganz unverbindlich.

Giulio überschlägt einen Augenblick die Situation der Cairolis, wer von ihnen Englisch lesen kann, kauft das Buch und bestellt vorsichtshalber, da Weihnachten vor der Tür steht, fünf Exemplare auf Italienisch, währenddessen zieht er aus der Innentasche seines Mantels, um sie ihr leibhaftig ans Herz zu legen, die eigene Ausgabe.

«Ich kann versuchen, es zu bestellen, aber zusichern kann ich natürlich nichts», schützt sich die Verkäuferin.

«Bestellen Sie auch noch fünf weitere englische Schatten», beschliesst er. Dann unvermittelt, während er bezahlt:

«Sie kennen das Buch doch, oder?»

Und da die Verkäuferin in schöner Unschuld den Kopf schüttelt, drückt Herr Giulio ihr, sozusagen als vollendete Tatsache, sein eigenes gelesenes und zerlesenes Exemplar in die Hand:

«Lesen Sie es heute Abend, Sie werden sehen, Sie legen es nicht aus der Hand, Sie werden die ganze Nacht durchlesen, was für eine Nacht, Sie werden sehen, wissen Sie, dass ich Sie beneide?»

Schon in der Tür, fällt sein Blick auf die Neuerscheinungen, auf die «Hundegeschichten», ein schönes, rostrot eingebundenes Bändchen, und sich der vor kurzem zu Hause von seiner Frau erwähnten Hunde erinnernd, macht er kehrt, verlangt das Buch, schaut es sich an und nimmt es: um es, auch wenn er es nicht den Hunden Cairoli schenkt, denen ja dieses Jahr erst einmal die Schatten zugedacht sind, anderen Hunden zu schenken, die sich pünktlich zu Weihnachen melden. Wird ein Buch reichen? Er wird es zu Hause erörtern.

Seiner Frau gefallen die «Hundegeschichten» sofort: wie für Zara Trista geschrieben:

«Wir schenken sie Zara Trista, was meinst du?»

Die sitzenden Schatten in der englischen Ausgabe scheinen dagegen nichts für die Cairolis zu sein:

«Vielleicht auf Französisch», protestiert sie wenig überzeugt, «sie rühmen sich doch, die französischen Flüsse zu befahren.»

Eisig dringt das Pfeifen des Sees durch die Fensterscheibe: Der Dampfer bleibt draussen.

«Hättest du mir das vorher gesagt», erwidert Giulio und holt unter dem Stuhl das letzte Paket mit Büchern hervor, die noch nicht ausgesondert worden sind. Er wirft auf den Tisch, sie jedes Mal mit der Hand bremsend, Reisebücher, französische Bücher, Bücher über Flüsse, übersetzte Bücher:

«Gefunden», entscheidet er plötzlich, das Buch hochhaltend, «das ist das geeignete Buch für sie» – und er schwenkt es, um wieder auf die Cairolis von morgen zurückzukommen:

«Hier drin gibt es für alle was, hier findet ihr die Kinder, hier findet ihr die Arche Noah einschliesslich Hunden, alles ins Französische übersetzt, was wollt ihr mehr», predigt er mit der Stimme der Öffentlichkeit.

Er wählt das Weihnachtspapier mit den bunten Zeichnungen, die Ochs und Esel im Stall darstellen, und verpasst dem Geschenk Cairoli eine schöne Aufmachung.

In die englische Ausgabe der sitzenden Schatten steckt er einen vorläufigen Zettel mit zwei Fragezeichen: In Betracht kommen Filippo N. oder Bettinas neue Harfenlehrerin.

«Für sie hatten wir ‹Die Melodien der Vögel› vorgesehen, die schon in der Garderobe auf Deutsch und auf Italienisch bereitliegen», korrigiert ihn seine Frau.

«Stimmt», gibt er zu, «das bedeutet, dass wir ihr die Vögel in Deutsch schenken und die Schatten dagegen auf Italienisch, jedenfalls bleiben wir so in den beiden Sprachen. Die englischen Schatten bekommt Filippo N., und das Problem ist gelöst.»

«Du weisst doch, was für ein Leser Filippo N. leider ist», tadelt ihn seine Frau.

«Willst du damit sagen, er liest nicht?», fragt Giulio beunruhigt, auf alles gefasst.

«Denk doch mal nach!»

Giulio steht auf, um nachzudenken, stellt sich ans Fenster, um jenseits der Scheiben Filippo N. aufzuspüren, öffnet es, um ihn eventuell vorbeigehen zu sehen, wie er mit der schon zum Gruss erhobenen Zeitung vorbeigeht. Der Dampfer fährt weiter, pünktlicher Herr des Weiss, «ciao», sagt Giulio ihm still und sucht im Weiss seine Zeitung, «die englischen Schatten waren für dich.»

«Für ihn zuallererst», wiederholt er seiner Frau und trägt entschlossen das Filippo N. zugedachte Buch zurück in die Garderobe zu den lebendigen, die bereits auf den Garderobenstühlen bereitliegen.

«‹Die italienischen Schatten› hab ich bestellt», teilt Giu­lio seiner Frau mit, damit sie Bescheid weiss. «Wenn ich in naher Zukunft in irgendein Schattenreich ohne Rück­kehr aufbrechen sollte, dann hol du sie in der Buchhandlung ab und überleg dir, wem du sie schenkst. Ich hab sie gelesen, das weisst du ja. Aber bis dahin können wir vor­läufig über dein Buch verfügen: In Dünndruckpapier, Luxusausgabe, ich hatte es dir einmal zum Geburtstag geschenkt, oder zu Weihnachten, ich erinnere mich nicht mehr, oder vielleicht nach dem Wolkenbruch, du weisst das besser.»

«Ein Geschenk von dir, du spinnst wohl, mit dem Datum von dir persönlich hineingeschrieben, das kann man doch nicht weiterverschenken: ein gelesenes und zerlesenes Buch, zerlesen mit lauter Stimme, erinnerst du dich, wie oft du es gelesen hast? Wenn du es verleihen willst, dann verleih es in der Familie, Bettina allenfalls, aber sonst niemandem.»

«Da du gerade Bettina erwähnst», sagt Giulio besorgt, «für ihren Verlobten haben wir auch noch nichts.»

«Ihr Verlobter bleibt bis zum 20. Januar in Kanada, kannst du dir vorstellen, wie viele Bücher zum Verschenken sich bis dahin unter den Stühlen anhäufen?»

«Die sitzenden Schatten für ihn, das wäre doch eine Idee», sagt ihr Mann, sofort begeistert.

«Vielleicht», beruhigt sie ihn. «Und den Cairolis bringen wir morgen einen schönen Blumenstrauss mit, Rosen und Zweige.»

«Schicken wir sie ihm gleich», fährt er fort, «dann bekommt er sie Weihnachten in Kanada.»

«Die Rosen, die Schatten?», fragt sie verwirrt. «Wenn du dich erinnerst, fliegt Bettina am Wochenende zu ihm.»

«Heisst das, Bettina ist Weihnachten nicht da?», jammert Giulio.

«An Neujahr kommt sie zurück.»

Sich überwindend, steht Giulio auf und geht zum Fenster, in Gedanken beim Dampfer.

«Wenn ichs recht bedenke, war das Buch der Cairolis mit der Arche, den Kindern, den Flüssen und dem Meer für Bettina gedacht.»

Er nimmt das Paket wieder in die Hände und schleudert es auf den Tisch, bremst es am Ende ab und zeigt mit dem Finger auf die Zeichnungen des Papiers:

«Auch der Ochse und der Esel waren für Bettina, die Cairolis sollen bleiben, wo der Pfeffer wächst!»

«Sie züchten Hunde», erinnert sie ihn; dann, in einer plötzlichen Erleuchtung:

«Die Cairolis interessieren sich übrigens auch für Gewürze.»

Giulio dreht sich abrupt um:

«Ich geh was holen, ich geh gleich in die Buchhandlung. Ein Buch über Gewürze ist kinderleicht zu finden, und in der Libreria Renzi findet die Verkäuferin alles, sie findet die Gewürze mit den Fingern.»

An der Ecke macht Giulio, bevor er die Buchhandlung betritt, bei der Blumenverkäuferin Halt, um Rosen zu kaufen: nächtliche für die Buchhändlerin Renzi, gesprenkelt mit Sternen. Für seine Frau wählt er die gleichen, aber ergänzt um ein schönes festliches Weiss: ­Margeriten, sagt er, aber es sind Chrysanthemen. Das ­versichert ihm die Blumenverkäuferin, eine Perle von Blumenverkäuferin.

«Darf ich Sie Margherita nennen», traut sich Giulio sie zu fragen, in seinem Herzen schenkt er ihr bereits ein Buch über Margeriten und Schmuckmotive.

Die Blumenverkäuferin lässt der Zeit Zeit und antwortet weder ja noch nein, sie begleitet ihn zur Tür und sucht, während sie einen kleinen Stechpalmenzweig abbricht, mit dem Blick die Möwen gegen die Leere des Sees, die schon den Schlaf der Dampfer kennen, die künftigen Wolkenbrüche, die Sirenen des Nils, die Lotosfrucht, die dem, der sie isst, Vergessen schenkt.

Die Geschichte geht weiter.

No grazie

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