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Wenn der Wind schweigt

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Es musste die Summe der bereits gewesenen Winde sein, zuzüglich derer, die durch die Tage und die Jahrhunderte der Generationen hindurch noch kommen würden. Zu datieren nach dem Blatt mit dem Stammbaum seit 1598. Die Seite war ein Geburtstagsgeschenk, der Gefeierte war dabei, sie aufzurollen. Jeder von ihnen beugte sich über das Blatt, erhob sich, um das erste Datum zu lesen, das oben neben den Familiennamen gedruckt war, dem alle in direkter oder indirekter Linie angehörten. Jeder ortete seinen eigenen Namen, unten bereits mit dem eigenen Datum gedruckt; und verstohlen mit den Augen und dem ausgestreckten Finger rasch die Schicksale, die Ja und die Amen hinauffahrend, bemerkte er denselben Namen mit dem Kreuz und dem Datum auf dem einen oder dem anderen Zweig wie ein durch die Jahrhunderte fortklingendes Echo, erstickt jetzt durch die Stimmen eines zu Ende gehenden Banketts und die verrückten Stühle. Derjenige von ihnen, der an diesem Tag Geburtstag feierte, hielt jetzt in den über die Gläser erhobenen Händen die auseinander gefaltete tabakfarbene, grosse, solide und glänzende Rolle, um den Weg inmitten so vieler zusammengekommener Familienmitglieder zu weisen.

Der Baum stand fest und klar da und präsentierte sich in langen horizontalen Zweigen und vertikalen Sequenzen, aus den Unwettern gerettet an den äussersten Punkten von fortwährend aufs Neue bestätigten Geburten, Hochzeiten und Toden, bar jeden Schmucks mit Ausnahme des gedruckten Zeichens der Kreuze und der verbundenen Trauringe, die bereits schweres Gold gewesen waren, so wie mit schwerem, glänzendem Gold heute ihre wohlriechenden Finger beringt waren, ausgestreckt, um in dem auf dem Blatt wiederholten Namen nie gekannte Existenzen wiederzufinden: Carlo, Maria, Margherita, ­Filippo, Giuseppe, ­Giulia, Söhne und Töchter anderer ­Giuseppes und Filippos und Margheritas, bezeugt zwischen ein paar nüchternen N.N., die in einem grimmigeren Wind verloren gegangen waren, ganz hinauf, wie es ein Wille bis zum ersten im ­Wirbel der Zeiten wiederentdeckten senex diktiert hatte.

Es musste ein geduldig von Familie zu Familie durch das Schicksal eines jeden im Abstand von Jahrhunderten gelenkter Wind sein, nahe gerückt und stumm gemacht mit dem Verstreichen der Jahre in den Linsen eines Fernrohrs, das bereits ersonnen worden war, bevor das Fernrohr in Holland erfunden und dann nach Italien ge­bracht worden war: 1609: Um sich dem Geist Galileis in Padua zur Kenntnis zu bringen und verbessert und vervollkommnet zu werden.

Es musste sein, was vom Wind bleibt, wenn auch im Haus das Wüten sich gelegt hat und das Heulen Stille ist: Wenn man ängstlich durchs Fenster die Schrammen betrachtet, die innerhalb eines kurzen Zeitraums hinterlassen wurden. Wir gehen hinaus und öffnen die Augen auf die gezeichneten Orte. Wir blicken zu Boden. Bleiben stehen, zertrampeln, übersteigen unterwegs die vom Wind abgerissenen Hindernisse, das Pfeifen, das allmählich verstummt, zählen die Trümmer in gewaltigen römischen Zahlen: Was stand, finden wir jetzt am Boden liegend, waagerecht: Was unter der Erde verborgen war, sehen wir jetzt an der Luft, entblösst. Wir stossen im Garten auf die Wurzeln der Tanne, an denen noch Erde und Schweiss klebt, über der offenen Grube; wir beugen uns über den niedergerissenen Zwetschgenbaum, den ertragreichsten, neben seinen platt geschlagenen, geplatzten Früchten; wir brechen die schon trockenen Zweige ab, die sich kunterbunt durcheinander zu kreuz- und gabelförmigen Verästelungen verschlungen haben, in gerader und ungerader Zahl wirr durcheinander vor dem Gittertor des Hauses, zum Schweigen gebrachte Launen: der Briefkasten weit offen, leer; der Wäscheständer zerbrochen, der Gartenweg verwüstet von entbeintem Laub, Bruchstücke geschriener, lebendig gewesener Dinge. Dinge, die jetzt, gehorsam wie sie sind, plötzlich bereit sind, schicksalhaft gebündelt, zusammengeharkt, zusammengefegt zu werden vom nächsten Wind und Willen, die sie morgen möglicherweise wieder in deren Nichts, in deren Schweigen zusammenfassen, sie wieder zusammenfügen würden für das Familienfest auf dem Viereck aus schönem Pergament, in ruhiger Geometrie einfacher Namen, um ein gemeinsames Schicksal zu bezeugen.

Sie feierten den unter ihnen, der den Namen Filippo trug, und nahmen bereits das Gespräch wieder auf um den Tisch, die Plätze und die Gläser tauschend: Sie sprachen über Krankheiten und Sympathien, über Reisen, über Geld, über die Torte und über Schulnoten.

Das Geburtstagsgeschenk in der präzisen Strenge seiner Namen und Zahlen wanderte von Hand zu Hand, die eine mehr, die andere weniger runzlig, vom einen Ende des Tisches zum anderen, gross und gespannt wie ein Segel: mit immer mehr miteinander verflochtenen Geschichten, unterschiedlichen Stimmen, Weisheiten und Unsinnigkeiten sich aufladend, von Lachen, Seufzern, ledigen und verheirateten Hoffnungen durchwoben; von sich aus immer da gewesene Ereignisse mit sich reissend, die sich einfügten, widerhallten, sich wiederholten, wie Biswind und Föhn in den Gesetzen der Zeit sich wiederholen, wie Krieg und Frieden sich wiederholen, Verträge und Zwistigkeiten.

Es wiederholt sich die Brise, die die Wäsche trocknet, und die Bö, die gestern die Geranien auf der Terrasse abriss, der Sturm, der die gefährdeten Äste in den Fluss schleuderte, der Wind, der Giulios Drachen verschluckte, und der, der den Ausgang des Spiels ins Gegenteil verkehrte, der unverschämte Wind des dahinbrausenden Zugs oder der achtköpfige oben auf dem Turm; der Septemberwind, der Filippos Geburt begünstigte, der Wind, der durch die Tore der Stadt weht, der Wind, der hinterlistig ins Schlafzimmer Geheimnisse bläst und unter die Nägel dringt und die Haut genau heute Nacht reizt, um in einem Augenblick, der sich schweigend einschreibt, die Lieben und die Launen umzukehren.

No grazie

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