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Ein Vater in Arth-Goldau

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Mutter und Tochter: Sie schienen einzunicken zwischen den Seiten der Zeitschriften, die sie zu zweit betrachteten auf einer Zugfahrt nach Olten–Basel, berechnet nach Stunden aus den Namen der Seen, an denen wir vorbeifuhren, wie meine eigene Reise, nicht in Minuten. Sie machten auch mich angenehm schläfrig, träge; ich blätterte sie durch wie illustrierte Seiten über den Vierwaldstättersee, in jener kurzen Zeit, ein Auge halb geschlossen, schweissig auch meine Finger.

Ich hatte sie nach der Hälfte des Sees aus dem Speise­wagen zurückkommen sehen, mit erhitzten Gesichtern, das gleiche Eisenbahnmenü im Bauch, gleich gross und gleich satt, die kräftigen Haare kurz geschnitten und lang; die Mutter, die die Sandalen ausgezogen hatte, müder, mit tieferem Dekolleté, das die doppelreihige Perlenkette atmen liess; die Tochter in Hosen mit modernem Gürtel, um den Hals den kleinen Goldanhänger aus Kindertagen, noch immer zu leicht und zu unruhig, um sich zwischen der üppigen Fülle und der Bluse wohl zu fühlen.

Sie hatten das Abteil hinter mir auf der Seeseite gewählt, dem meinen schräg gegenüber; sie hatten sich schon mit der Zeitschrift in der Hand gesetzt, und in dem kurzen Dösen, das sie mir gewährten, waren sie – spielte der Zug oder der Schlaf mir einen Streich? – in waagerechten Streifen zu sehen. Der Streifen der Hände, die die Zeitschrift hielten: ruhig die der Mutter, allenfalls bereit, den Griff zu lockern und wieder zuzufassen; unvorhersehbar die der Tochter, schlaff, überraschend deuteten sie auf eine Seite der Zeitschrift, berührten sie, zerrissen sie manchmal sogar, um dann sofort wieder zurückgezogen und an den Fingerspitzen berochen zu werden, Zeitschriftengeruch. Der Streifen der fast gleichen Nasen, die der Mutter widerstandsfähiger, mager, einsam; die andere etwas glänzender, gleichsam in Unordnung durch die Haare, umspielt von den Händen; doch süss, lebhaft, fähig vielleicht zu lecken. Der Streifen der Bäuche war der ruhigste, beständigste: bootsfarben alle beide, in Hose und Rock, stützten sie geduldig die Vertrautheit der Oberkörper, und die Oberkörper streckten sich darauf aus, schaukelten in langsamem Takt.

Die Tochter war reif, ihrerseits eine neue Mutter zu zeugen, die mit der gleichen Gabe eine Tochter zeugen würde, imstande, eine weitere Tochter zu zeugen, blond mit sechzehn, in unaufhörlichem Zeugen.

Wir kamen in Arth-Goldau an; das Gähnen ging unter dem zunehmenden Beifall der Sonne in wahre Gähn­­arien über: bis Olten oder Basel, dachte ich, würden sie sich in Hochrufen, in abruptem Aufwachen, in Um­armungen und Grüssen für den Vater und Ehemann er­gehen, der die beiden Frauen am Bahnhof, so stellte ich mir vor, wohl schon seit ein paar Stunden oder halben Stunden erwartete.

Stattdessen war es eine Sache von Minuten und Sekunden: Der Zug hielt in Arth-Goldau, und die Mutter schlüpfte in ihre Sandalen, brachte ihre Perlen in Ordnung, stand auf und stopfte die zerfledderte Zeitschrift, die Jacke und Tüten in zwei grosse, bereits übervolle ­Taschen; sie gab der Tochter, die aus Solidarität ebenfalls aufgestanden war, einen dicken Kuss auf den Mund und machte sich allein auf den Weg zum Ausgang; ihre Schritte waren noch ein wenig steif, strebten aber bereits, das war zu sehen, entschlossen nach draussen.

Das Mädchen lehnte sich jetzt zum offenen Abteilfenster hinaus, sie hatte den Vater begrüsst, lachte laut und zeigte ihm mit dem ausgestreckten Arm die Wagentür, wo die Mutter aussteigen würde.

Ich stand auf, als ich an den Grüssen der Tochter, an ihren Augen, die noch voll heiterer, aber bereits ferner Worte waren, erkannte, dass Vater und Mutter sich entfernt hatten.

Von meinem heruntergelassenen Abteilfenster daneben sah ich, wie der Mann und die Frau tatsächlich auf den Parkplatz zugingen; der Mann, ein wenig kahl, in grauem Anzug, trug die beiden Reisetaschen und machte lange, auf seine Frau abgestimmte Schritte.

Der Zug stand immer noch, und ich blieb am Abteilfens­ter stehen, schnupperte das Wetter – plötzlich war es Sommer geworden – und versuchte mir den Sonntag im Bahnhof vorzustellen – Ostern war gerade vorbei. Die Lautsprecher kündigten die ein- und abfahrenden Züge an, die Rigi-Bahn lud auf nostalgischen Plakaten ein, auf den Gipfel zu fahren, den Familien wurden ermässigte Zoobesuche versprochen, die Eltern des Mädchens hatten den Parkplatz erreicht und beluden das Auto, durch dessen weit aufgerissene Türen sie Luft hineinliessen.

Dann sah ich, wie die Mutter sich hineinsetzte; ich sah, wie der Vater sich die Jacke auszog und, während die Autotüren weiterhin offen standen, in Hemdsärmeln zur Tochter hinüberschaute. Ich sah, dass er drei Schritte in Richtung Zug machte, den Blick unverwandt auf unseren Waggon gerichtet: Er blieb stehen und beschirmte seine Augen mit der Hand. Er machte noch zwei Schritte in unsere Richtung und schützte sich dabei immer noch vor dem Licht. Ich sah ihn deutlich, er stand mit dem Rücken zum Auto, wartete zwischen Wagen und Zug, in Habachtstellung, um seiner Tochter zum Abschied zuzuwinken; die Schlüssel musste er in der gesenkten Hand haben, er schüttelte die Hand von Zeit zu Zeit, ohne Ungeduld jedoch, er irrte sich nicht im heruntergelassenen Abteilfenster seiner Tochter.

Da wandte ich mich um, um am Nebenfenster jetzt, da der Zug anfuhr, ebenfalls den Abschiedsgruss des Mädchens zu sehen. Doch da war nichts, da war kein Winken zum Abschied. Kein Arm war zum Abschiedsgruss ausgestreckt, keine angewinkelten und aufgestützten Ellenbogen, keine zerzausten Haare und Kettchen, die nach hinten flogen. Das Abteilfenster war heruntergelassen und leer; daneben, etwas tiefer, schlief, hingegossen auf den Zweiersitz, das Mädchen, während der Zug langsam anfuhr: die Beine ungleich lang ausgestreckt, den Kopf nach hinten gebeugt, rosig angelaufen, ein unglaublicher, verwaister Engel, bereit, auch im Schlaf zu lachen.

Der Zug beschleunigte, ich wandte mich zum Vater um, der vor dem Parkplatz wartete; da stand er, ein Vater, der sucht, der findet, der Widerschein in den Augen mochte ihn täuschen, die genaue Stelle entzog sich ihm, der Zug entzog sich ihm; ich stand noch immer mit beiden Ellenbogen aufgestützt da, ich war nicht der Engel, ich behielt den Vater im Auge, betrachtete verstohlen den Schlaf neben mir, eine Madonna schlief ohne Erinnerung, der Vater begann langsam mit der bereits erhobenen Hand zu winken, er winkte dem schönen Wetter, ungläubig, hielt rechts inne, links, er kniff die Augen zusammen, um das Licht zu durchdringen, um sicherzugehen, dass er seiner Tochter in einem so langen Zug nachwinkte, und nicht mir, nicht dem Geschrei der Kinder und nicht dem Kuss der Liebenden.

Wir hatten mittlerweile den Bahnhof verlassen, die Weichen, die Signallichter funktionierten prächtig, der Zug beschleunigte, und der eingeschrumpfte Mann begann erneut, jedem Wagen zum Abschied nachzuwinken, ruckweise bewegte er die Hand, bemühte sich, die Gesichter an den Abteilfenstern zu erkennen, bald winkte er den hinten angehängten Wagen zu, bald den internationalen, getäuscht vielleicht vom Getöse, vom Eisen, vom Ernst des Zuges, er grüsste einen ankommenden Gepäckwagen, er grüsste eine Lokomotive im Bahnhof, für den Fall, dass die Tochter auf ihr sei, er grüsste alle, winkte der Geschwindigkeit, der Flucht zum Abschied, reglos, ein Zwerg, ein Vater auf seinem Posten, bis zuletzt sicher, eine Tochter zu haben, bis heute, bis zum letzten Augenblick, eine Tochter im Zug.

Und wenn ich jetzt im Drängen der Sekunden meinen Arm erhob, wenn ich im letzten unmöglichen Augenblick den Arm hob, in einer wirren Geste der Einwilligung, in einem versäumten, begnadeten Abschiedsschrei, war ich da vielleicht in der Flucht der Generationen nicht eine Mutter, die einer Tochter ihre Stimme gab, war ich nicht eine Tochter, die ja sagt zu einem Vater, zu diesem in Arth-Goldau oder zu meinem Vater, der mir im Bahnhof zuwinkte, mir Lebewohl sagte, auch er reglos dort unten auf dem Bahnsteig, den Arm erhoben, und sah, wie die Wagen, gehorsam herrisch wie vertauschte Generationen, jenseits des heimischen Sees in so viele nördliche Richtungen fuhren.

No grazie

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