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Seeknochen

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Den See, nein, sie sah ihn nicht, weil es Abend war, noch nicht Sommer, und das Haus ihrer Kindheit lag nicht zum See hin. Wäre er nicht mehr da gewesen, hätte sie es bereits auf dem Bahnhofsplatz bemerkt, kaum dem Gotthardzug entstiegen: am Lasten der Lücken abwärts, am Herabstürzen der Stufen, am Erschlaffen der Reklamestreifen, die jedoch gebläht waren, um die Veranstaltungen in der Stadt anzukündigen.

Von der Höhe des Bahnhofs aus kam es ihr nicht einmal in den Sinn, es zu überprüfen, es war ihr nie in den Sinn gekommen. Wie damals, als sie Kinder waren und ganze Wochen verstrichen, vor allem im Winter, ohne dass sie die Anwesenheit des Sees nachprüften, ohne dass sie sich um seinen Gesundheitszustand kümmerten. Dem See ging es jedenfalls gut, dachten sie. Einmal war er bis auf den Platz herausgetreten, und sie waren mit dem Lehrer hingegangen, zu Fuss entlang der Strassenbahn, um ihn zu sehen: Sie hatten ihn diesseits des Rathauses angetroffen, nicht wild, zahm, glattgebügelt von den Trittbrettern, er tändelte durch die Strassen mit Ästchen und Rindenstücken. Sie hatten sich die Schuhe nass gemacht, weil sie sich hineinwagten, um die Tiefe zu messen, und ein Kind hatte einen Katarrgeruch gespürt, alle hatten den Katarrgeruch wahrgenommen. Tags darauf gaben die Lehrer die Aufgabe, in jeder Klasse einen Aufsatz über den aus den Ufern getretenen See zu schreiben, und die Neuheit verwandelte sich innerhalb kurzer Zeit in die Aufgabe in Schönschrift, mit Tintenklecksen.

Ein Mädchen aus dem Städtischen Kinderheim, eines im schwarzen Kittel des Heims, wurde für die beste Behandlung des Themas ausgezeichnet: Es wurde eingeladen, den Aufsatz mit seiner misshandelten Stimme vor den Inspektoren, den Lehrern und den Eltern vorzulesen.

Das Mädchen wurde später Oberschwester in der Geriatrie; Gina traf sie in der Stadt am See, als sie bereits weit weg wohnte. Die Geriatrieschwester arbeitete in der Abteilung des Heims, in der sich schon seit Jahren Ginas Eltern in Pflege befanden: Sie selbst in ihrem blauen Kittel erkannte sie, als sie ihren Namen hörte. Danach waren sie öfter, wenn sie sich auf den Fluren begegneten, stehen geblieben und hatten Neuigkeiten ausgetauscht; mit ihrer rauen Stimme hatte das leitende Mädchen an manchen Sonntagen Ginas Kinder in die Bar des Heims halb heimlich auf eine Eiswaffel eingeladen.

Jahre später, als Gina von Zeit zu Zeit in die damalige Stadt zurückkehrte, um das leere Haus wiederzusehen und dem Friedhof Grüsse zu bringen, wusste sie, dass sie die Geriatrieschwester an der Bushaltestelle traf: immer ein bisschen in Uniform, am Aufschlag der Jacke eine weisse Uhr, rund wie jene der Schule oder des Krankenhauses. Während der Minuten im Bus sprachen sie über die Arbeit, über die alten Patienten, über die herangewachsenen Kinder. Über den See nicht, natürlich nicht; und doch schien er immer gegenwärtig zwischen ihnen, und wäre er nicht da gewesen, wäre er niemals da gewesen, hätten sie in den wenigen ausgetauschten Sätzen nicht das über die Ufer getretene Wasser, das sie vereinte, unausgesprochen lassen können.

An diesem Abend ging sie zu Fuss vom Bahnhof hinunter und lief eilig durch die Strassen, die zur Seepromenade führen. Sie wusste sie zu ihrer Rechten und ging weiter, ängstlich darauf bedacht, unbemerkt auch von der Stadt nach Hause zu kommen. Sie begegnete zwei, drei Personen, die um zehn Uhr abends aus dem Haus gegangen waren, um im Zentrum ein wenig frische Luft zu schnappen: Vielleicht Schulkameraden von ihr, die Rechtsanwälte, Hoteliers geworden waren, oder vielleicht private, einsame Gespenster, denen es Vergnügen machte, als Herren in ihren eigenen Häusern umherzulaufen. Sie stellte sich für sich selbst ein ähnliches Sich-zu-Hause-Fühlen vor: die gleiche Natürlichkeit, mit der man die Nüchternheit der Schritte kostet, die Pflasterung unter den Bogengängen vollendet weiss und sich alle Büros leer vorstellt, in den Schaufenstern bereits die Sommermode ausgestellt sieht.

Morgen würde sie in die Geschäfte gehen, reden und kaufen; und sie würde den See wiedererkennen, würde ihn anschauen für diejenigen, die sie bei ihrer Rückkehr fragen würden, wie hoch, wie schmutzig er sei.

Sie ging zwischen den Häusern, die in den leuchtenden Aufschriften und den Schmierereien auf den Mauern schlummerten, sie ging geradewegs unter den schwarzen Fenstern der auf allen Etagen verlassenen Büros vorbei, mit leichter Handtasche, mit der Ungeduld der Schlüssel in der Hand und die Augen bereits auf die hohen Räume gerichtet, auf die Pendeluhren, die in dem Haus, das sie erwartete, aufzuziehen waren. Sie hatte nicht mehr weit zu gehen, und die Allee, in die sie einbog, war menschenleer: Die weissen Reklamestreifen über dem Eisenbeton des Palazzo Nuovo wiederholten für sich selbst die Veranstaltungen in der Stadt. Nur die Autos schlüpften frech durch die Nacht und beschleunigten, wenn sie in die Allee einbogen. Zwischen zwei Autos bemerkte sie das träge Fangenspielen zweier zusammengerollter Blätter, hart geworden vom Winter, gehsteigfarben im Widerschein der Laternen. Die Brise war angenehm, mild im Vergleich zu den Graden um die Null, die sie zurückgelassen hatte, dem mit Wasser vermischten Schnee und dem Matsch am Boden.

Sie ging auf der Höhe des Sees und des Friedhofs am Palazzo Nuovo entlang und hielt sich vom Eingang fern, neben den Platanen, wo die Freitreppe, die sanft zu den Portalen des Palazzo hinabführt, eine weite Terrasse öffnet. Ein hinterrücks von einem unmerklichen Hauch neben ihren Schritten aufgewirbeltes Blatt liess sie zusammenzucken.

Da bemerkte sie fast mit geschlossenen Augen, dort an den Glasportalen, noch ohne die Materie zu erkennen und auch nicht den Anlass, der von einem verborgen bleibenden Innern her drücken musste, da sah sie aus den Mündern des Palazzo vielleicht schon seit einigen unvermuteten Augenblicken ruhigen Schaum schluckaufartig austreten. Anfangs zurückfliessend, stockend, zögernd; dann nach und nach lebhaft, sich verbreitend, in Girlanden, in Infloreszenzen des Sees, immer mehr Raum beleckend, still und flach am Boden vordringend, verborgen im Dahinflitzen der Autos, bis zur Erhebung der Stufen. Er gewann jetzt an Festigkeit, überschlug sich und schäumte, ohne zu zerbrechen, ein riesiger Streifen aus tausend Zünglein, mühelos vorgestreckt, um einen natürlichen Ausgang zu finden, indem er im Halbdunkel die Glastüren des Palazzo öffnete.

Es waren Nachtwandler, Zuhörer des Konzerts, Musikliebhaber, Abonnenten der Spielzeit, die in heller Kleidung wie von unter Wasser durch die Glasscheibe des Aquariums hinaustraten, in Paaren oder auch einzeln während der Konzertpause, um sich die Beine zu vertreten, an der frischen Luft eine Zigarette zu rauchen.

Sie blieb stehen, um von der Platane aus, bei der sie stand, zu beobachten, und versuchte, das Weiss der Stolen von dem der Hemden, der Halstücher, der über die Schultern gelegten Mäntel zu unterscheiden; versuchte die Bewegungen, die Rhythmen, die Kräuselungen auszumachen, die, vorgegeben aus dem Innern, die Musik im Saal nachahmen würden. Aber die Bewegungen waren schläfrig, die Schritte gedankenverloren, zeremoniell, ohne Klang: Angefüllt mit Klängen, blieben die Nachtwandler in ihrer ganzen Eleganz in das hohe Wasser versunken, während sie sich im Trockenen befand, vor kurzem erst dem Zug entstiegen. Jemand kam auf sie zu und ging weiter, um die Parkuhr wieder mit Münzen zu füttern oder um sich heimlich davonzustehlen, ohne sich verabschieden zu müssen: Es war der Ingenieur Solmi, oder er sah ihm ähnlich.

Sie erkannte undeutlich die leuchtende Segelfrisur der Rechtsanwältin M., schon damals eine leidenschaftliche Konzertgängerin; einen Augenblick war ihr, als erkenne sie einen nahen Verwandten, seine Glatze glänzte, und er wandte sich einer Frau zu, nicht seiner Frau. Der Verwandte ging zwei Stufen hinunter, um seine Frau zu suchen, auch Gina suchte sie, sah andere sorgfältig frisierte Ehefrauen mit dem Programm in der Hand, aber nicht sie.

Sie hatte die Glastür erreicht und blickte hinein.

Der Architekt M. mit vielleicht seiner Tochter, zwei Kinder Tanzi oder bereits die Kinder der Kinder, die Familie R., vollzählig, Professor P. mit seiner immer­gleichen Weste, die Schwestern P. von der Garage, verschwägert mit Weine und Spirituosen, Lächeln, Falten, Schmuck; Markenjeans, Uniformen, Hände in der Tasche, Handküsse, Zigaretten, eine weisse und runde Uhr, ein Arm erhoben über die Köpfe, um zum Abschied zu winken, ihr vielleicht, mir, weisse Köpfe, Brillen, Familiennasen, Dior- oder Katarrniesen, Rücken am Erfrischungsstand, Lücken und Nachgerückte, Ablehnungen und Preise, Karrieren, Hochzeiten, Abstimmungen, Sterben und Erben, Geld auf der Bank, Kunst und Scheidungen, Schifffahrtsunternehmen.

Sie war von jenseits des Gotthards gekommen, um sich da­bei zu ertappen, wie sie in der Halle des Palazzo, im Blitz einer Pause, Jahre der Abwesenheit, umgekehrte Erinnerungen, erneuerte Generationen erkundete. Bei ihrer Rückkehr würde sie ganz genau bezeugen können, dass die Anwältin M. um zehn Uhr zehn, dass der Ingenieur S., dass ein Lebewohl mit der Hand: etwas anderes als die Verschmutzung des Sees. Eine Überlebende? Sie spürte die Kräuselungen, die Rollbrandung, die Knochen des Sees in sich, auch sie hatte zum Abschied zurückgewunken mit der Hand des Einverständnisses mit ihnen, in angeborener Verschwörung, verschworen geboren.

Aber das Programm des Konzerts? Möglich, dass kein junges Talent das Schmachten der Violinen wiederholte oder die Starrköpfigkeit der Trompeten, möglich, dass keiner die Qual Schuberts, die wehmütige Fröhlichkeit ­Mo­zarts nachempfand?

Die Streicher waren sicher schon dabei, Schnörkel in den Saal zu spritzen, im Wettstreit mit den Blasinstrumenten, mit dem Gehuste, mit dem Geräusch derer, die wieder herein­kamen. Die Zuhörer, die Bewohner des Sees schienen tatsächlich von einem inneren Luftstrom verschluckt zu werden, nach und nach verschwanden sie. Sollte auch sie sich anschliessen?

Sie drehte sich um, um nach Hause zu gehen: Die ohrenbetäubende Musik des Radios eines auf der Allee dahinbrausenden offenen Wagens verschluckte das Schweigen des vielleicht jetzt im Saal erhobenen Stabs. Sie hatte keine Ahnung, was der Stab versprach. Aber ihr fiel ein, dass das Mädchen aus dem Heim in seinem ­prämierten Aufsatz die auf dem Platz treibenden Ästchen «Stäbe» genannt hatte; es hatte die Verbesserung des Lehrers nicht akzeptiert: «Stäbe», hatte die Geriatrieoberschwester mit der gebrochenen Stimme beharrt, ohne Gründe anzuführen, «Stäbe zum Spielen; oder aber Knöchelchen. Knöchelchen des Sees.»

No grazie

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