Читать книгу Todesritter - Anna-Lina Köhler - Страница 4
Wandel
ОглавлениеEnago saß neben Keira, lehnte mit dem Rücken gegen die harte Höhlenwand. Der Griff des schwarzen Schwertes lag auf seinem Schoß. Er konnte die Augen nicht davon abwenden, sie waren daran gefesselt. Das Silber glänzte im Licht der Fackeln und obwohl der Griff aus Metall gefertigt worden war, wog er im Kampf nicht mehr als ein großer Ast. Enago nahm ihn in die Hand und hielt ihn leicht schräg von sich gestreckt. Seine Augen wanderten an ihm entlang, so als ob er etwas an ihm entdecken wollte.
Keiras kleine Hand nahm ihm den Griff schließlich ab. Als ihre Finger das kalte Metall berührten, zuckte sie kurz zusammen. Doch es war nicht die Kälte, es war die Ehrfurcht, den Griff des schwarzen Schwertes zu berühren, weshalb sie eine Gänsehaut bekam. Es war eines von vieren, eines von vier schwarzen Schwertern. Sie waren vollkommen und mit sonderbaren Kräften ausgestattet worden. In der Hand ihres ehrwürdigen Besitzers glichen sie seine Schwächen aus und unterstützen seine Stärken im Kampfe.
Zwei der Waffen wurden damals den Todesrittern ausgehändigt, zwei weitere, noch sonderbarer und rätselhafter als ihre Vorgänger, der Todes Tochter. Als der erste Todesritter starb, wurde sein Schwert mit ihm begraben, es sollte für alle Zeit mit ihm unter der Erde ruhen, die Verantwortung seiner Macht nie mehr in andere Hände übergeben werden. Mit Hilfe von Rufus und Viridis besiegte die Todes Tochter den Schatten und sperrte ihn für die Ewigkeit in den schwarzen Stein, nachdem sie herausgefunden hatte, dass das angeblich so mächtige Artefakt seine Kraft schon lange an sie weitergegeben hatte.
Von dem Schwert des zweiten Todesritters jedoch war nur noch der silberne Griff übrig. Im letzten Kampf gegen die Höllenkreatur war auch der letzte Todesritter gefallen, durchbohrt von einem Schattendiener. Als er zu Boden gegangen war, hatte er sein Schwert fallen gelassen. Seine schwarze Schneide war in tausend Stücke zersprungen, nur der Griff war übriggeblieben und diesen Rest hielt Enago nun in der Hand.
„Warum hat er ihn dir gegeben?“ Keira blickte Enago fragend aus ihren großen blauen Augen an.
Der junge Mann seufzte. „Ich weiß es nicht genau, es ging alles so schnell.“
Sie gab ihm den Griff wieder und Enago legte ihn vorsichtig neben sich auf den Boden.
„Er hat gesagt, dass Lia immer einen Todesritter an ihrer Seite haben muss, dass sie einen Beschützer braucht. Sie sei noch so jung und unerfahren. Ich muss sie weiterhin beschützen.“
Keira stieß einen leisen Pfiff aus. „Soll das etwa heißen …?“
Enago nickte. „Ich bin der dritte Todesritter“, vollendete er ihren Satz und dabei lagen weder Stolz noch Fröhlichkeit in seinem Blick, sondern Trauer und Zweifel.
Die junge Frau stieß ein kurzes Lachen aus, doch auch ihre Seele war verletzt von dem Verlust Ragons und den Schmerzen, die dies mit sich trug. „Du weißt, dass das eine bedeutende Aufgabe darstellt. Du bist dir hoffentlich darüber im Klaren, was du mit diesem Schwert erhalten hast!“
Wieder nickte Enago. „Ich habe eine Aufgabe erhalten.“
„Eine Aufgabe und eine Verantwortung, die wohl kaum größer sein könnten!“
Aus Keiras Worten hörte Enago, dass sie sich um ihn sorgte. Er wusste, dass sie befürchtete, er könnte scheitern.
„Ja, ich bin mir der Verantwortung durchaus bewusst“, murmelte er leise.
Plötzlich überzog ein trauriges Grinsen seine Lippen.
„Welch eine Ironie“, flüsterte er. „Vor ein paar Monaten noch war ich der festen Überzeugung, meine Aufgabe wäre es, dem Schatten zu dienen, zusammen mit ihm die Todes Tochter zu vernichten. Und jetzt stehe ich auf der anderen Seite, mit dem Wissen, dass meine Aufgabe zwar mit der Todes Tochter in Verbindung steht, jedoch anders, als ich es mir je erträumt hätte!“
Keira legte ihm ihre warme Hand auf den Arm und sah ihn mit ihren wunderschönen blauen Augen an.
„Und das ist auch gut so!“
Enagos Blick wanderte zu ihrem Gesicht, zu ihren Lippen. Schon seit Anbeginn ihrer Reise, seit er sie das erste Mal gesehen hatte, fühlte er sich zu ihr hingezogen. Es waren nicht nur ihr bildschönes Äußeres, ihre wasserblauen Augen, ihr langes blondes Haar und ihre makellose Haut. Es war vielmehr ihr gesamtes Erscheinungsbild. Ihr Auftreten war respekteinflößend, ihre Art liebevoll und mitfühlend. Wenn sie ihn anlächelte, vertrieb sie die Dunkelheit in seiner Seele, brachte ihn mit einem kurzen Zwinkern dahin, seine Sorgen zu vergessen. Doch so bezaubernd sie auch sein konnte, in ihr steckte ebenfalls eine unerbittliche Kämpferin.
Keira hielt einen kleinen Dolch in ihrem rechten Ärmel versteckt und verstand sich nur allzu gut darauf, mit ihm Kehlen aufzuschlitzen. Doch selbst ihr Kampf war die Anmut selbst, wirkte eher wie ein unschuldiger Tanz als ein blutiges Morden. Für einen kurzen Augenblick verlor sich Enago in ihren wasserblauen Augen. Doch bevor er in ihnen zu ertrinken drohte, wandte er seinen Blick von ihr ab und starrte auf die gegenüberliegende Höhlenwand. Zu gerne würde er ihr seine Gefühle beichten, ihr sagen, wie sehr er sie bewunderte, doch dafür fehlten ihm der Mut und der richtige Augenblick.
„Enago …?“ Keiras Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er blickte sie kurz überrascht an. Sie deutete mit dem Kopf wieder auf den Schwertgriff in seiner Hand.
„Die Klinge zerbrach, als der Todesritter starb.“ Enago musste schlucken. Er ahnte, was sie als nächstes fragen würde.
„Wie willst du mit einem Schwert kämpfen, das niemanden mit seiner Schneide verletzen kann?“
„Ich …“ Der junge Mann biss sich auf die Unterlippe. „Als ich mit Ragon sprach, sagte er mir, dass sich die Schneide neu bilden werde. Sie werde sich genau dann wieder bilden, wenn ich etwas Selbstloses getan und mich damit als würdig erwiesen habe.“
„Aber hast du das nicht bereits?“, fragte die Seherin. Enago seufzte.
„Ja, das dachte Ragon auch. Er sagte mir, dass meine Tat selbstlos gewesen sei und das Schwert sie mit Sicherheit anerkennen werde.“
Der junge Mann brach kurz ab. Er erinnerte sich nur zu gut an den Tag des Kampfes. An diesem Tag hatte sich das Schicksal der Todes Tochter erfüllt, sie hatte den Schatten gefangen und somit der Welt ewiges Leid erspart. Davor jedoch hatte der Schatten ihn als Verräter enttarnt. Es war seine Aufgabe gewesen, die Todes Tochter zu fangen, damit sein ehemaliger Meister sie töten konnte. Doch während seiner Reise hatte er sich geändert. Er hatte den menschlichen Schattendiener Margoi getötet und seinen Gefährten somit seine Treue bewiesen – er war kein Schattendiener mehr.
„Diese Tat war wohl nicht selbstlos genug“, mutmaßte er. „Auf jeden Fall hat sich die Klinge bis jetzt noch nicht neu gebildet und ich befürchtete, dass sie das auch nicht tun wird!“
„Das darfst du nicht sagen.“ Keira schüttelte mit ernster Miene den Kopf. „Die schwarzen Schwerter wurden mit Magie erschaffen und Magie kann manchmal sehr eigenwillig sein. Du wirst schon sehen, du wirst die Waffe bald vollständig in deinen Händen halten.“
„Aber was ist, wenn ich ihrer nicht würdig bin? Ragon vertraute mir, er hat mir sein Schwert überlassen, um Lia zu beschützen. Ich würde ihn enttäuschen, nachdem er mir so viel Ehre im Moment seines Todes erwiesen hat. Er hat sich entschieden, mir für meine Taten zu vergeben. Ich will nicht, dass er es bereuen muss!“
„Er wird es nicht bereuen!“ Keiras Stimme klang ernst und doch sprang von ihr ein Fünkchen Hoffnung in Enagos Seele über.
„Ob alles von Anfang an vorherbestimmt war?“
Enago legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Decke der Höhle. Der schwarze Stein glitzerte im blauen Licht der Fackeln und für einen kurzen Moment glaubte Enago, er würde auf einer Wiese liegen und in den nächtlichen Sternenhimmel blicken.
„Ich meine, ob es wohl vorherbestimmt war, dass beide Todesritter sterben und ich dann einen ihrer Plätze einnehme?“
„Nichts geschieht einfach so“, erklärte Keira. „Jeder von uns hat ein Schicksal, einen Weg, der seit Beginn unserer Zeit für jeden von uns vorherbestimmt wird. Vielleicht hast du nun deinen richtigen Pfad gefunden.“ Der junge Mann seufzte.
„Die ersten beiden Todesritter haben im Kampf gegen den Schatten ihr Leben gelassen. Ich besitze nun eines der schwarzen Schwerter, ich bin der dritte Todesritter.“ Enago brach abrupt ab und sah der Seherin mit ernster Miene entgegen.
„Was willst du damit sagen?“, fragte sie leise.
„Ich will sagen, dass ich, indem ich vom Schattendiener zum Todesritter wurde, mein Schicksal nicht erneut besiegelt habe. Als Diener der dunklen Kreatur lebte ich in ständiger Angst. Mein Leben lag in der Hand meines ehemaligen Herrn. Er entschied, wer wann den Weg in die Hölle beschreitet. Ich wäre auch gestorben, das ist gewiss, wenn Lia nicht gewesen wäre.“
„Ja!“ Keira nickte. „Aber nun ist es anders. Nun bist du bei uns. Du hast dich und dein Leben verändert. Du bist nicht mehr länger einem anderen ausgeliefert, der über die Dauer deines Lebens entscheidet.“
Ein mattes Lachen entfuhr der Kehle des jungen Mannes.
„Verstehst du nicht, Keira? Verstehst du nicht, was ich dir zu erklären versuche?“ Er holte kurz Luft.
„Es war bisher die Bestimmung der Todesritter, für ihre Aufgabe zu sterben. Lucio und Ragon waren brillante Schwertkämpfer und besaßen sogar eine magische Begabung, dennoch fanden sie letztlich den Tod. Warum sollte das bei mir nun anders sein? Als Schattendiener war es mein Schicksal zu sterben und als Todesritter wird das nicht anders sein!“
Eine bedrückende Stille breitete sich im Raum aus. Keira öffnete kurz den Mund, wollte etwas sagen, doch es drang kein Laut heraus. Schließlich schloss sie ihn wieder und starrte ebenfalls an die schwarze Decke.
Enago hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Als sie in die Höhle gegangen waren, war es Abend gewesen. Die Sonne war langsam hinter den Bergen verschwunden und der Mond hatte sich blass am Himmel gezeigt. In der Orbis-Höhle waren die einzige Lichtquelle die Fackeln, deren blauer Schein Schatten an die Wände warf und sie tanzen ließ. Das schimmernde Licht ließ die ohnehin schon bedrückende Stimmung endgültig erfrieren. Ob es schon mitten in der Nacht war oder schon der nächste Morgen? Enago war nicht begierig, es herauszufinden. Er war müde, sein Gesicht war gezeichnet vom Kampf. Jetzt, da es vorbei war, konnte er sich erholen. Doch wie lange war das noch möglich? Vielleicht würde er bald seine ewige Ruhe finden.
„Du irrst dich“, wandte Keira plötzlich ein.
„Wie bitte?“
„Ich sagte, du irrst dich!“ Sie wandte den Blick von der dunklen Decke ab und sah ihm tief in die Augen.
„Du wirst nicht sterben, nur weil du das schwarze Schwert angenommen hast. Du bist nun Herr deines Willens.“
„Wie kannst du dir da nur so sicher sein?“
Die Seherin zuckte lediglich mit den Schultern. „Ich weiß es einfach. Ich weiß, dass du es schaffen wirst. Du bist stark, Enago. Es ist nicht das Schicksal der Todesritter, zu sterben. Lucios Tod war tragisch und sinnlos. Aber Ragon hat ihn nicht gefürchtet. Ich glaube, er hat es gewusst.“
Enago runzelte die Stirn. „Wie konnte er es gewusst haben?“
„Erinnerst du dich noch, als das Orakel mit ihm gesprochen hat?“
Der junge Mann nickte. Kurz bevor sie aufgebrochen waren, den Schatten in einem einzigen, endgültigen Kampf zu besiegen, hatte das Orakel mit Lia, dann mit ihm und schließlich mit Ragon in einem kleinen Raum neben der Haupthalle der Höhle gesprochen.
„Wie ist es möglich, dass Lysia seinen Tod voraussah? Sie ist doch keine Zeitseherin.“
„Ich weiß es nicht. Aber ich kann mir vorstellen, dass sie durch die Göttin Kräfte erlangt hat. Vielleicht hat sie sie im Traum besucht, ihr von dem tragischen Ereignis berichtet. Surah triff manchmal rätselhafte Entscheidungen, aber sie trifft sie immer mit Bedacht.“
Enago schlug die Augen nieder, ließ sich ihre Worte eine Weile lang durch den Kopf gehen.
„Aber wie konnte er das alles so leicht hinnehmen? Warum hat er nicht mit Lia geredet und sich von ihr verabschiedet?“
Keira biss sich auf die Unterlippe. „Er wollte sie gewiss nicht damit belasten. Sie hätte sich von ihrer Aufgabe abgewandt und versucht, ihn zu schützen. Außerdem bin ich mir sicher, dass es für ihn so leichter war, von uns zu gehen.“
„Wie kann es leicht sein, zu sterben? In meiner gesamten Zeit als Schattendiener habe ich mich nie damit abgefunden, zu sterben! Jeden Tag sah ich Menschen sterben. Täglich sind sie verreckt und das manchmal auch durch mein Zutun. Und dennoch blieb der Funke der Furcht an mir haften, selbst einmal gehen zu müssen.“
Die Seherin lächelte belustigt. Enago hatte schon immer viel gefragt. Seine Neugier gefiel ihr, seine Augen verrieten seine Gefühle, seine Gedanken, wenn er die Antwort erfuhr.
„Lucio war für Ragon wie ein Bruder gewesen, er hat sich mit seinem Tod nicht abfinden können und deshalb fiel es ihm leichter, zu sterben.“ Sie seufzte. „Aber ich denke, dass er sich vor seinem Tod Vorwürfe gemacht hat. Schließlich musste er Lia alleine zurücklassen!“ Sie verstummte, ihr Blick wanderte zu ihren Stiefeln.
Enago merkte, dass sie ihre Gefühle versteckte und nur äußerlich ruhig blieb. In ihrem Inneren musste es anders aussehen. Er war sich sicher, denn auch sein Innerstes glich einem einzigen Chaos. Es fiel ihnen schwer, über dieses Thema zu reden, denn keiner von ihnen wollte die Ehre des zweiten Todesritters verletzen und dabei spielte es keine Rolle, dass er tot war. Sie hatten einen guten Freund verloren und obwohl der Schatten besiegt und für immer weggesperrt worden war, schien alles nicht wirklich. Sie müssten glücklich sein, erleichtert und froh, das Böse besiegt zu haben. Aber genau das Gegenteil war der Fall. Enago konnte nicht sagen warum, aber er war sich sicher, dass ihr Kampf noch nicht vorbei war.
Der kleine Handspiegel reflektierte sie. Wie lange sie schon in ihn hineinstarrte, vermochte sie nicht zu sagen. Vielleicht waren es Minuten, vielleicht aber auch Stunden. Es war seltsam, sich selbst im Spiegel zu erblicken und dennoch eine Fremde zu sehen. Das Mädchen, das immer an das Gute in den Menschen geglaubt, das der Dunkelheit mit einem Lächeln entgegengeblickt hatte, war verschwunden. Die Gestalt, die sie mit einem grimmigen Blick ansah, war sie es wirklich? Das Mädchen besaß eine bleiche, weiße Haut. Unter ihren Augen zeichneten sich tiefe Ringe ab, doch sie wirkte nicht einmal erschöpft. Es war das Leid, das aus ihr sprach. Sie hatte gewusst, dass der Kampf sie zeichnen würde, aber sie war überrascht gewesen, als sie sich selbst in die Augen geblickt hatte. Früher waren sie dunkel gewesen, fast schwarz, sodass man ihre Pupille nicht mehr hatte sehen können. Nun waren sie rot. Rot wie Blut, starrten sie sie aus dem kleinen silbernen Handspiegel an. Sie neigte den Kopf leicht zur Seite, so als ob sie noch immer daran zweifelten würde, dass sie es wirklich war. Doch es gab keinen Zweifel an ihrem Wandel. Sie hatte sich verändert und das nicht nur äußerlich. Lia erinnerte sich.
Als sie vor Ragons Grab gekniet hatte, war etwas mit ihr geschehen. Der Schmerz über seinen Verlust war so unendlich groß gewesen, hatte sie so viele Tränen gekostet. Sie war an seinem Grab eingeschlafen und der Regen hatte für sie weiter geweint. Als sie aufgewacht war, war der Schmerz verschwunden. Sie wusste nicht wohin oder wer ihn genommen hatte, aber sie war sich sicher gewesen, dass sie diese Gefühle nicht noch einmal erleben wollte. Die Frage nach dem Warum hatte sie sich zu oft gestellt. Sie hatte es hingenommen, dass er nicht mehr zurückkommen würde Aber das Wie hatte sie tief erschreckt. Es waren eine Gleichgültigkeit und eine Kälte in ihrem Inneren aufgetreten, so wie sie es zuvor noch nie verspürt hatte. Dieses Gefühl war nicht verschwunden, es war geblieben und nun war es ein Teil von ihr. Sie würdigte der Gestalt im Spiegel noch einen letzten Blick, dann legte sie ihn auf den Tisch neben sich und ließ sich auf einen der Stühle fallen. Ihr Blick wanderte in dem kleinen Nebenraum umher. So schwarz wie die Wände war nun ihre Seele. Schließlich sah sie das kleine Messer, das vor ihr auf dem Tisch lag. Sein Griff war aus einem kleinen Knochen gefertigt worden und auf einer Seite der Schneide befanden sich viele kleine Kerben. Lia griff danach und wog das Messer in ihrer Hand. Es überraschte sie, als sie feststellte, wie schwer die kleine Waffe wirklich war. Ob der Griff aus einem Menschenknochen gefertigt worden war?
In der glänzenden Schneide fielen ihr wieder ihre Augen auf, die sie in einem gefährlichen Rot trotzig anblickten. Sie ließ das Messer sinken, wollte ihren Wandel nicht mehr zu Gesicht bekommen. Doch sie wusste, dass sie ihm nicht entfliehen konnte. Sie fuhr sich durch ihre braunen Haare. Es hatte lange gedauert, bis sie so lang geworden waren und Lia hing sehr an ihnen. Aber sie erinnerten sie zu sehr an ihre Vergangenheit. Die Erinnerungen könnten den alten Schmerz wieder erwecken und das durfte sie auf keinen Fall zulassen. Sie hatte sich verändert, sie war ein anderer Mensch geworden und ihre Haare passten nun nicht mehr zu dem Bild, das sie im Spiegel gesehen hatte. Sie hob das Messer wieder und setzte es an ihren Haaren an. Das Messer würde ohne große Schwierigkeiten durch sie hindurchfahren, sie bis zu den Schultern stutzen. Lia holte einmal tief Luft und schloss die Augen. Es musste sein.
„Und was genau willst du damit bezwecken?“
Lia ließ erschreckt das Messer fallen. Es landete leise klirrend auf dem steinernen Boden. Die Todes Tochter fuhr wütend herum. Doch bevor sie den Mund auch nur halb geöffnet hatte, schloss sie ihn wieder und starrte das Orakel mit kalter Miene an. Sie stand in der Tür, hatte sich gegen den kalten Felsen gelehnt und betrachtete sie aus großen braunen Augen. Lia unterdrückte ein leises Fluchen. War sie wirklich so unaufmerksam gewesen? Sie wusste, dass das Orakel eine Antwort auf die Frage erwartete, aber Lia war nicht gewillt, dem nachzukommen. Sie drehte sich mit einem Ruck wieder herum, hob das hinuntergefallene Messer auf und legte es zurück auf den Tisch. Hinter sich hörte sie, wie Lysia langsam näher kam und sich schließlich auf den zweiten Stuhl ihr gegenüber setzte. Sie sah Lia an, Lia sah sie an und keine von beiden verzog auch nur eine Miene. Sie saßen sich gegenüber und starrten einander mit kaltem Blick an. Die Zeit verstrich und Lia begann zu frösteln. Erst begann die Kälte sie zu stören, dann aber rief sie sich in Erinnerung, dass genau dies ihr Innerstes widerspiegelte. Sie war kalt geworden, kalt und erbarmungslos.
„Wenn du zulässt, dass es Besitz von dir ergreift, wird alles nur noch schlimmer werden!“
Lia hob verwundert den Kopf, blickte Lysia fragend entgegen.
„Was meinst du?“, krächzte sie.
Ihre Stimme war rau und klang verzweifelt. Auch sie musste sich verändert haben, hatte an jeglicher Stärke verloren und klang mehr wie die einer verlorenen Seele als die eines Menschen.
Das Orakel begann spöttisch zu grinsen.
„Du weißt genau, wovon ich rede“, erwiderte sie und lehnte sich gelassen im Stuhl zurück. Als Lia jedoch nicht antwortete, erlosch das Grinsen wieder.
„Ich sehe, dass es dich bereits erreicht hat, dass es schon in dir weilt.“
Lia knirschte wütend mit den Zähnen. „Sprich deutlicher, Lysia. Was ist in mir?“
Die Todes Tochter war sich nicht sicher, ob sie dieses Gespräch mit dem Orakel der Surah wirklich führen wollte, aber nun war es zu spät.
„Die Kälte“, flüsterte das Mädchen. „Die Kälte ist in dir und mit ihr gewinnt deine böse Seite an Macht.“
Ein leises Lachen drang aus Lias Kehle. Es sollte spöttisch klingen, aber es lagen auch Zweifel darin.
„Das ist doch albern, Lysia.“ Sie wollte noch etwas sagen, aber ihre Stimme versagte plötzlich.
Das Orakel hatte seinen stechenden Blick auf Lia gerichtet. Schon damals während ihrer ersten Begegnung, als sie kurz vor dem Kampf gegen den Schatten standen, hatte Lia diesen Blick nur schwer ertragen. Er drang tief in ihre Seele, bohrte sich in sie hinein, wie ein scharf geschliffenes Schwert in den Körper seines Opfers. Er war unangenehm und es war unglaublich schwer, ihm standzuhalten. Heute jedoch erwiderte die Todes Tochter diesen Blick mit Leichtigkeit.
„Du hast dich verändert und du hast dich nicht einmal dagegen gewehrt.“
In den Worten des Orakels schwang tiefe Trauer mit und Lia wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie legte ihre Stirn in Falten und wartete darauf, dass Lysia weitersprach.
„Dein Wandel ist nun geschehen. Er hat einen Teil von dir schon besetzt. Lass nicht zu, dass er dich völlig kontrolliert. Es wird IHN nicht zurückbringen!“
„Von wem sprichst du?“
Das Orakel antwortete nicht auf diese Frage und die Todes Tochter war froh, seinen Namen nicht wieder hören zu müssen. Er erweckte unbändigen Schmerz. Das Orakel seufzte.
„Versprich mir, dass dein Wandel nicht deine Seele frisst!“
„Ich hab mich nicht gewandelt“, trotzte Lia.
„Oh doch, das hast du und es ist zwecklos, es zu leugnen! Deine roten Augen verraten dich.“
Lia schwieg. Ob Lysia schon im Türrahmen gestanden hatte, als sie sich im Handspiegel betrachtet hatte? Andererseits waren ihre blutroten Augen kaum zu übersehen. Sie stachen aus ihrem Gesicht hervor, wie zwei funkelnde Rubine inmitten eines schwarzen Kohlehaufens. Lia strich sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht und mit einem Mal war sie froh, dass das Orakel sie noch rechtzeitig davon abgehalten hatte, sie zu stutzen.
„Was passiert mit mir?“, flüsterte sie.
Lysia seufzte tief und blickte die Todes Tochter aus ihren großen, runden Augen mitfühlend an.
„So genau weiß ich das leider auch nicht.“
„Aber du weißt etwas?“
Das Orakel nickte. „Deine Wandlung ist eine Mischung aus der Magie deiner dunklen Seite und deinem Schmerz.“
Lia blickte ihr Gegenüber unverständlich an. „Ich verstehe nicht.“
Lysia kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Du weißt, dass du zwei Seiten Magie in dir besitzt.“
Lia nickte und das Orakel fuhr fort.
„Die eine ist die helle Seite, sind deine guten Eigenschaften, die dich mit Viridis verbinden. Die andere Seite wird von dunkler Magie beherrscht, sind die bösen Eigenschaften …“
„Rufus“, bestätigte Lia.
„Ja. Rufus beinhaltet das Gnadenlose, den puren Gefallen am Kampf. Aber darüber muss ich dir nun wirklich nichts erzählen.“ Lysia rieb ihre Handflächen nervös aneinander und für einen kurzen Augenblick glaubte Lia, dass sie nicht weitersprechen würde.
„Die Todes Tochter muss stets beide Seiten im Gleichgewicht halten. Sie muss das Gute sowie das Böse in sich kontrollieren können.“ Sie brach wieder ab und betrachtete den kalten Boden. „Nun …, nun ist es aber geschehen, dass eine Seite in dir die Oberhand gewonnen hat. Die dunkle Seite überwiegt nun in dir. Das an sich wäre nicht weiter schlimm, wenn da nicht der Schmerz wäre. Der Schmerz über deinen tragischen Verlust verleiht dem Bösen in dir mehr Macht, als du dir vorstellen kannst. Wenn du nicht Acht gibst, wird diese Macht so groß, dass sie deine Seele völlig ausfüllt. Du wärst in dir selbst verloren.“
Die letzten Worte hatte Lysia geflüstert und dabei immer bedacht, Lia nicht anzusehen. Die Todes Tochter spürte, wie ihr Herz hart gegen ihre Brust schlug. Sie wusste, dass Lysia größten Respekt, wenn nicht gar Angst vor dem verspürte, was sie ihr gerade erzählt hatte.
„Aber warum die roten Augen?“, fragte Lia. Das Orakel hob den Kopf, blickte ihr endlich wieder entgegen.
„Sie sind die Mischung, das Zeichen dafür, dass das Böse dabei ist, die Oberhand zu gewinnen. Sie zeigen den Kampf in deinem Inneren, der dabei ist, ausgefochten zu werden. Aber in erster Linie zeigen sie den Schmerz selbst.“ Sie unterbrach kurz, um sich am Handgelenk zu kratzen. „Sie zeigen, dass du jemanden verloren hast, der dir sehr viel bedeutete. Es war eine Art Band zwischen dir und Ragon.“ Bei seinem Namen zuckte Lia unwillkürlich zusammen. Ihrem Herzen war ein kräftiger Stoß versetzt worden. Beim Klang seines Namens begann es zu bluten.
„Dieses Band ist mit seinem Tod zerrissen worden. Jeder von uns, dem ein Mensch etwas bedeutet, baut im Laufe der Zeit eine Verbindung mit ihm auf. Aber nur, wenn sie äußerst stark und mächtig ist und die Person, die ihn verliert, eine magische Begabung besitzt, können sich die Augen verfärben.“ Sie schmunzelte kurz. „Das alles ist ziemlich kompliziert. Das Wichtigste, das du dir merken solltest, ist, dass ihr, du und Ragon, eine solch mächtige Verbindung besessen habt. Es kann sein, dass sie durch eure Erschaffung so stark wurde. Noch wichtiger ist aber, dass das Böse in dir nicht siegen darf. Du musst beide Seiten im Gleichgewicht halten!“ Das Orakel stand auf, doch da hob Lia plötzlich die Hand.
„Warte!“
Lysia runzelte verwundert die Stirn, setzte sich aber wieder zurück auf ihren Stuhl.
„Was ist?“, fragte sie angespannt.
„Ich …, meine Wandlung“, begann Lia zögerlich. „Die Mischung aus Schmerz und dunkler Magie, macht sie mich kalt? Lässt sie mich in Gefühllosigkeit versinken?“
„Warum willst du das wissen?“ Die Augen des Orakels hatten sich zu kleinen Schlitzen verengt und das freundliche Funkeln, das jeden augenblicklich in seinen Bann zog, war verschwunden.
„Bitte, Lysia, ich muss es wissen. Werden meine guten Gefühle, wird das Positive in mir mit der Zeit verblassen, sodass nur noch der Zorn Platz in mir findet?“
„Spürst du es etwa?“
Lia konnte die Furcht in den Augen des Orakels erkennen.
„Spürst du die Kälte?“
„Bitte Lysia, sag mir einfach nur, was ich wissen möchte!“ Es lag nicht in Lias Absicht, zu schreien, dennoch konnte sie den aufbrausenden Unterton in ihrer Stimme nicht vermeiden.
Lysia starrte sie einen kurzen Moment lang unsicher an, dann nickte sie zaghaft.
„Ja, genauso ist es. Das, was wir mit dem Bösen verbinden, erscheint in unseren Gedanken meist anders, als es in Wirklichkeit ist. Dabei kann die dunkle Seite, sollte sie überwiegen, in vielen verschiedenen Variationen auftreten.“
Lia ließ sich langsam in den Stuhl zurücksinken und schloss die Augen. Zu viele Informationen prasselten gerade auf sie herab und verlangten danach, erst einmal in Ruhe überdacht zu werden.
„Warum?“, fragte Lysia schließlich leise. „Warum fragst du? Kannst du es etwa schon spüren?“
„Nein“, die Todes Tochter schüttelte langsam den Kopf. „Ragon, er trug dieses Leid, diesen Schmerz aber offenbar in sich. Ich habe einmal gesehen, wie seine Augen rot aufblitzen, als er mir von Lucio erzählte. Sie leuchteten rot, als er mir vom Tod des ersten Todesritters erzählte und davon, dass er ihn nicht verhindern konnte.“ Lia öffnete ihre Augen wieder und sah, wie das Orakel nickte.
„Ihr wurdet alle aus dem Blut des Zauberers Lunus erschaffen. Dies verleiht euch vielleicht diese ganz besondere Verbindung.“
Auch Lia nickte. Mit einer Hand fuhr sie über die zwei schwarzen Schwerter, die sie mit einem Gürtel an ihrer Seite befestigt hatte. Sie fuhr über grünen Edelstein, der in Viridis eingearbeitet worden war. Sie fuhr über den roten in Rufus und mit Erschrecken stellte sie fest, dass sie bei seiner Berührung die Kälte ganz deutlich spürte.