Читать книгу Todesritter - Anna-Lina Köhler - Страница 7
Im Schutz der Dunkelheit
ОглавлениеEs war ein perfekter Moment, eine perfekte Nacht. Am Himmel stand kein Mond, der etwas Licht spenden konnte. Stattdessen versuchten Wolken und dichter Nebel die Nacht noch finsterer zu gestalten. Ein leichter Wind kam auf. Das Heulen und Rauschen, das er verursachte, wenn er zwischen die Blätter der Bäume fuhr oder um die Ecken der Häuser wehte, ließ schnell einen unachtsamen Soldaten die wichtigen Geräusche überhören. Aus den Mauern der Stadt drang kein Laut. Nur die Stille beherrschte die Nacht. Es war beängstigend.
Ein Mädchen kniete hinter einem hüfthohen Gebüsch und spähte mit ihren blutroten Augen zwischen die Äste hindurch. Sie befand sich im Westen, am Rande der Stadt. Vor ihr stand ein steinerner Turm, groß und mächtig stach er in den tiefschwarzen Himmel hinein. Trotz seiner gewaltigen Größe bestand der Turm lediglich aus faustgroßen Steinen, die mit etwas Mörtel übereinandergestapelt worden waren. Wie das Gebäude all die Jahre überstanden und Wind und Wetter getrotzt hatte, war dem Mädchen ein Rätsel. Plötzlich ertönte hinter ihr ein Rascheln und obwohl sie wusste, wer dastand, glitt ihre Hand ganz automatisch an den Griff einer Waffe.
„Wir sind so weit“, flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr.
Lia hob langsam die Hand, griff nach der Gestalt hinter ihr und zog das Orakel langsam zu sich hinter das schützende Gebüsch. Trotz der sie umgebenden ungewöhnlichen Finsternis befürchtete sie, dass das weiße Kleid des Orakels ihnen gefährlich werden könnte. Vorsichtig legte sie einen Finger auf die Lippen und zeigte mit der anderen Hand nach oben. Lysia verstand nicht sofort. Fragend zog sie die Augenbrauen nach oben und zuckte mit den Schultern. Lia rückte ein Stück näher an sie heran, ihr Atem bildete kleine Wolken. Es war unangenehm kalt für diese Jahreszeit.
„Siehst du die Brücke, die den Wachturm mit der vorderen Befestigungsmauer verbindet?“
Als Antwort kniff Lysia nur übertrieben ihre haselnussbraunen Augen zusammen und starrte in die Nacht hinein. Im Gegensatz zu Lia erkannte das Orakel kaum die blassgrauen Steine, aus denen die Verbindungsbrücke bestand. Eigentlich konnte man ihr das nicht verübeln. In dieser Nacht etwas zu erkennen, war, als ob man in einen klaren blauen Himmel blickte und eine Gewitterwolke zu sehen versuchte. Doch Lia sah diese eine Wolke. Seit Kurzem vermochte sie ebenso perfekt in der Dunkelheit zu sehen wie am Tag. Jedes Detail wurde mit einem Mal schärfer. Jede Bewegung bestand aus vielen kleinen Einzelteilen, perfekt zusammengesetzt zu einem Ganzen. Es war, als ob sich mit Lias Augenfarbe auch ihr Sehvermögen von Grund auf geändert hatte. Sie sah die Brücke in der Finsternis, sah ihren Weg.
„Ok“, flüsterte sie. „Dann bleib dicht hinter mir und pass auf, dass du keinen falschen Schritt machst!“
Schon wollte das Orakel sich erheben und hinter dem Gebüsch hervortreten, doch im letzten Augenblick bekam Lia den Saum ihres Kleides zu fassen und riss sie zurück nach unten.
„Bist du wahnsinnig?“, zischte sie, doch Lysia blickte ihr nur mit einem völlig verwirrten Gesichtsausdruck entgegen. Die Todes Tochter seufzte.
Langsam kroch sie ein Stück nach vorne und schob ein paar Äste zur Seite, dann winkte sie Lysia zu sich. Mit der einen Hand hinderte sie die Zweige daran, zurück in ihre ursprüngliche Position zu fallen, mit der anderen deutete sie auf etwas tief in der Nacht. Sie wusste, dass es für das Orakel schwer war, etwas zu erkennen, aber sie war sich sicher, dass auch sie den Soldaten, der ein Stück neben dem Wachturm stand, bemerkte. Er hielt eine geradezu winzige Laterne in der Hand. Die schon beinahe heruntergebrannte Kerze in der Laterne spendete nur wenig Licht. Dieser verkümmernde Schimmer durchleuchtete die Finsternis kein Stück, sondern wurde von ihr verschluckt, sodass man sie nur noch bei sehr genauem Hinschauen erkannte. Die andere Hand des Soldaten ruhte auf dem Griff eines großen Schwertes und das sah nicht so aus, als ob es noch nie benutzt worden war.
Das Orakel benötigte eine Weile, um die Gefahr zu erkennen, die sich neben dem Wachturm befand. Doch als auch sie den Mann gesehen hatte, nickte sie Lia kurz zu.
„Wie kommen wir an ihm vorbei?“, fragte sie schließlich.
Die Todes Tochter musterte den Soldaten kurz. Er stand leicht seitlich mit dem Rücken vor einer kleinen morschen Holztür, dem Zugang zum Turm. Seine Brust wurde durch ein dickes Kettenhemd geschützt, sein Kopf befand sich unter einem Helm und auch an den Handgelenken trug er feste Metallreifen. Es war also unmöglich, ihn dort zu verwunden. Wenn sie ihn am Bein oder Fuß traf, würde ihn das nicht schnell genug außer Gefecht setzen. Er hätte Alarm geschlagen, noch ehe Lia ihn getötet hätte und dann wäre ihr Plan gewaltig fehlgeschlagen. Nervös fuhr sie sich mit der Hand durch die Haare. Plötzlich fiel ihr Blick auf seinen Hals. Der Helm legte sich schützend über seinen Kopf und Nacken. An den Seiten befand sich jeweils ein Lederriemen, die dann in der Mitte verknotet worden waren. Es schien, als wäre er perfekt gewappnet, vor jedem noch so überraschenden Angriff bewahrt. Doch seine so vermeintlich sichere Ausrüstung wies einen einzigen markanten Fehler auf und diesen hatte Lia soeben entdeckt. Dort, wo sein Helm mit den beiden Riemen verschlossen worden war, lugte eine kleine unscheinbare Stelle seines Halses hervor. Jeder gewöhnliche Mensch hätte diesen winzigen Angriffspunkt in der Schwärze der Nacht übersehen, doch Lia war nicht gewöhnlich.
„Gib mir eins deiner Messer“, flüsterte sie Lysia zu. Das Orakel schaute die Todes Tochter leicht verwirrt an, griff jedoch sofort an den Gürtel unter dem Kleid und zog einen Dolch hervor. Sie wollte ihn Lia reichen, doch die schüttelte nur abwehrend den Kopf.
„Er ist zu schwer. Ich brauche etwas Kleines, Leichteres.“
Verwundert steckte Lysia die Waffe zurück. Es dauerte eine Weile, bis sie etwas Passendes gefunden hatte, doch schließlich hielt Lia ein kleines Messer in der Hand. Sie verdeutlichte Lysia mit einer kurzen Handbewegung, dass sie jetzt absolut still sein musste, dann kroch sie ein Stück von dem Gebüsch weg. Lia zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Peinlich genau achtete sie auf jede ihrer Bewegungen. Ein falscher Schritt, eine kleine Unachtsamkeit, wie das Zerbrechen eines Zweiges, und der Soldat würde auf sie aufmerksam werden. Schließlich befand sich die Todes Tochter in einer günstigen Position. Vorsichtig richtete sie sich auf. Dreck und bunte Blätter klebten an ihrem Kleid, doch sie kümmerte sich nicht darum. Sie konzentrierte sich auf ihr Ziel, sah nichts mehr außer der freien Stelle am Hals des Soldaten. Sie verließ sich nun ganz auf ihre Augen, auf ihr Können.
Lia packte das Messer an der Schneide. Das Metall fühlte sich kühl auf ihrer Haut an und jagte ihr einen Schauer über den Rücken, sie ignorierte ihn. Ein letztes Mal versicherte sie sich, dass die kleine Waffe ihr Ziel auch nicht verfehlte, dann holte sie aus und warf.
Während das Messer sich rotierend auf den Soldaten zubewegte, stand für Lia die Zeit still. Sie sah die eingeschlagene Flugbahn und wusste in dem Moment, in dem sie das Messer losließ, dass sie treffen würde. Sie täuschte sich nicht. Mit einem leisen, schmatzenden Geräusch bohrte sich die feine Klinge in die Kehle des Mannes. Er gab einen gurgelnden Laut von sich, wollte schreien, doch das Messer erstickte seinen Hilferuf, bevor auch nur ein Wort seinen Mund verlassen konnte. Der Soldat brach würgend auf dem Boden zusammen. Blut spritzte aus der Wunde hervor, als er sich das Messer aus dem Hals riss, und tränkte den Boden. Verzweifelt versuchte er, die Blutung mit einer Hand zu stoppen, doch Lia sah, wie der Tod in seinen Augen aufblitzte. Das Blut hatte sich nun auch im Mund des Soldaten ausgebreitet und lief ihm über sein Kinn. Ein letztes, leises Gurgeln war zu hören, dann ließ er die Laterne in seiner Hand fallen, sein Kopf sank zu Boden und er rührte sich nicht mehr.
Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen trat Lia nun ganz hinter dem Gebüsch hervor und auch Lysia richtete sich auf.
„Deine Treffsicherheit ist beeindruckend“, stichelte sie mit einem frechen Unterton in der Stimme.
Lia antwortete nicht. Hastig eilte sie zum Eingang des Wachturmes. Sie griff nach der Klinge und drückte sie herunter, nur um festzustellen, dass ein großes Schloss vor der Tür hing. Leise fluchend drehte sie sich zum Orakel um.
„Es ist verschlossen.“
Jetzt war es Lysia, die anfing zu grinsen. „Du hattest deinen Spaß“, schmunzelte sie, „jetzt bin ich dran.“
Zögerlich trat Lia zur Seite, um dem Orakel Platz zu machen. Das junge Mädchen betrachtete das silberne Schloss eine Weile, versuchte in der Finsternis einen Schwachpunkt im Metall aufzuspüren, so wie die Todes Tochter eben in der Rüstung des Soldaten. Schließlich fand sie ihn. Das Schloss nicht aus den Augen lassend, griff sie nach dem Dolch, den sie Lia vorhin fälschlicherweise zuerst angeboten hatte und legte seine Spitze in das Schlüsselloch. Es dauerte einen kurzen Moment, bis ein leises, ächzendes Geräusch ertönte und das Orakel die Waffe wieder herausnahm. Sie hielt das Schloss waagerecht und packte den Dolch etwas weiter unten zwischen Griff und Klinge. Mit einer schnellen Bewegung ließ sie den Griff auf das Schloss hinabschnellen. Ein kurzes Geräusch erklang, dann sprang es auf.
Lia fragte nicht, wie und wo das Orakel die Fähigkeit erworben hatte, Schlösser zu öffnen. Es interessierte sie auch nicht im Geringsten. Wichtig war nur, dass die Tür offen war. Während Lysia ihre Waffe zurück an ihren Gürtel steckte, schob Lia vorsichtig die Tür auf. Sie rechnete nicht mit weiteren Wachen, dennoch atmete sie erleichtert auf, als sich ihre Vermutung bestätigte. Hinter der morschen Holztür empfing sie nichts als pure Dunkelheit. Jegliches Licht war in dieser Nacht erloschen. Die Macht der Finsternis würde erst durch die Morgendämmerung gebrochen werden.
„Warte kurz.“
Langsam trat Lia in den Turm hinein. Selbst für sie wurde es zunehmend schwieriger, sich zurechtzufinden. Sie legte eine Hand auf die steinerne Mauer neben sich und begann sich vorwärts zu tasten. Plötzlich stießen ihre Finger auf Holz und ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. Ihr Körper wurde von der Dunkelheit umhüllt, als sie vollendet in den Turm eintrat. Mit beiden Händen umschloss sie den Griff der Fackel und zog ihn aus der Verankerung.
„Ich glaube, die hier dürfte die ganze Sache etwas erleichtern“, bemerkte sie und trat wieder hinaus zu ihrer Gefährtin. „Jetzt brauchen wir nur noch Feuer.“
Lysia überlegt nur kurz, drehte sich dann um und ging zu der Leiche des Soldaten. Das Orakel beugte sich zu ihm hinunter.
„Gib mir die Fackel.“
Fordernd streckte sie die Hand aus, Lia legte sie hinein. Lysia schob den Körper des Toten ein Stück zur Seite. Es sah lächerlich aus, wie ihre schmächtigen Arme versuchten, den massigen Körper zu bewegen, doch schließlich gelang es ihr. Unter dem Brustpanzer des Soldaten lag die zerbeulte Laterne. Lia hatte es nicht für möglich gehalten, dass die kleine Kerze den Sturz unbeschadet überstanden hatte, doch die Flamme brannte nach wie vor, wirkte aber in der anhaltenden Finsternis fehl am Platz. Behutsam hielt das Orakel die Handfläche hinter die Kerze, um zu verhindern, dass der Wind sie nun doch löschte, mit der anderen senkte sie die Fackel in die Flamme. Es dauerte einen kurzen Augenblick, bis ein Funke herübersprang, doch letztlich loderte sie auf. Lia nahm dem Orakel den neuen Wegweiser aus der Hand.
„Ich gehe voraus“, gab sie vor und obwohl sie es vermeiden wollte, mischte sich etwas Bedrohliches in ihre Stimme.
Lysia warf ihr einen kurzen, verwunderten Blick zu, beschloss aber, schweigend zu gehorchen und erhob sich wieder.
Die Dunkelheit empfing sie mit dergleichen abweisenden Kälte wie schon zuvor, nur dieses Mal durchbrach das Prasseln des Feuers die Nacht und warf die Schatten der beiden Mädchen an die steinernen Wände. Kurz nach dem Betreten des Turms streckte sich eine lange Treppe vor Lia und Lysia empor. Auf den Stufen hatten sich kleine Pfützen gebildet, in denen sich das matte Gelb der Fackel brach. Mit einem kurzen Blick über ihre Schulter vergewisserte sich die Todes Tochter, dass sich das Orakel unmittelbar hinter ihr befand, dann setzte sie vorsichtig einen Fuß auf die erste Stufe und begann die Treppe hinaufzusteigen. Diese schlängelte sich offenbar endlos in vielen gleichmäßigen Kreisen empor und immer wenn Lia annahm, das Ende hinter der nächsten Biegung erreicht zu haben, empfing sie dasselbe eintönige Bild der Treppe. An einigen Stellen der Wände klebten dunkelrote Flecke, die größtenteils jedoch schon wieder von silbernen Spinnennetzen überzogen worden waren.
Langsam begann die immer weiterführende Treppe Lia zu beunruhigen. Der Stadt am Rand der drei Wälder eilte nicht nur der Ruf der Uneinnehmbarkeit voraus, sondern auch der der Magie. Hinter den dunklen Mauern sollten sich Menschen aufhalten, die es tatsächlich verstanden, mit den geheimnisvollen Mächten dieser Erde umzugehen. Jeder, der bisher versuchte hatte, sie zu erobern, war an den gut ausgebildeten Soldaten und unerklärbaren Phänomenen gescheitert.
Gerade als Lia befürchtete, sie könnten Opfer eines Zaubers geworden sein, mit dem der Wachturm belegt worden war, fand die Treppe ihr Ende und die beiden Gefährtinnen standen vor einer weiteren Holztür. Prüfend hielt Lia das Licht der Fackel gegen die Tür, doch dieses Mal behinderte kein Vorhängeschloss den Durchgang. Behutsam drückte das Mädchen die Klinke hinunter und schob die morsche Holztür einen Spaltbreit auf. Ihre Sorge, weitere Wachen könnten sich hinter ihr befinden, bestätigte sich glücklicherweise nicht. Während sie die Tür vollständig aufstieß, gab sie Lysia mit einem kurzen Nicken zu verstehen, dass sie zu ihr kommen sollte. Die Todes Tochter streckte ihre Hand aus und ergriff die ihrer Gefährtin. Dann ließ sie die Fackel in eine der Pfützen fallen und wartete, bis das kühle Nass die Flamme gelöscht hatte. Sobald der letzte Funken der Lichtquelle durch das Wasser erstickt worden war, empfing sie die Nacht mit einer solchen Wucht, dass es Lia beinahe den Atem raubte. Verzweifelt riss sie ihre Augen auf, versuchte irgendetwas zu erkennen, doch es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an die ungewöhnliche Finsternis gewöhnt hatten und sie wieder etwas sah.
Das Orakel hielt ihre Hand fest umklammert. Mit weit geöffneten Augen starrte sie gebannt in die Dunkelheit hinein. Lia hätte es bevorzugt, die Fackel nicht löschen zu müssen, doch es wäre zu riskant gewesen. Auf der hohen Brücke, die die vier Wachtürme miteinander verband, hätten sie durch den hellen Schein ein leicht aufzuspürendes Ziel abgegeben.
Lia tippte mit ihrer freien Hand kurz auf den Arm des Orakels und verdeutlichte ihr dadurch, dass sie losgehen mussten. Zuerst empfand es Lysia als unangenehm, sich von ihrer Gefährtin leiten zu lassen, doch schon nach kurzer Zeit fasste sie Vertrauen und folgte Lia mit sicheren Schritten. Die Todes Tochter richtete ihren Blick beständig auf den Boden. Der Übergang war ziemlich schmal, sodass immer nur eine Person auf ihr Platz fand. Zwar wurden sie auf beiden Seiten von relativ hohen Mauern geschützt, dennoch fürchtete Lia, dass schon einige Soldaten den Tod fanden, weil sie in Unachtsamkeit über die Begrenzung fielen.
Lia blickte kurz an den Mauern entlang, versuchte ihr Ziel so schnell wie möglich ausfindig zu machen. Sie wusste, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Die Finsternis besaß ihre Vorteile, vor allem aber war sie ein Hindernis für ihre übrigen Gefährten. Plötzlich entdeckte Lia, wonach sie gesucht hatte. Vor ihr öffnete sich eine große Lücke in der Mauer. Er erinnerte das Mädchen an einen großen schwarzen Mund, der sich auf die Lauer gelegt hatte und nun gemächlich auf Beute wartete.
„Hier ist es“, flüsterte sie und zog Lysia am Ärmel nach unten.
Vorsichtig näherten sich beide dem dunklen Schlund. Mit der einen Hand hielt Lia immer noch die des Orakels, mit der anderen umklammerte sie nun den oberen Teil der Mauer und streckte dann den Kopf in den großen Spalt hinein. Es war, als ob sie durch das schlammige Wasser eines Tümpels watete und das Mädchen musste automatisch die Luft anhalten, um nicht von dem Gefühl übermannt zu werden, sie könnte ersticken. Auf der anderen Seite des Schlundes holte sie tief Luft, ehe sie in den Abgrund blickte. Schon als sie noch am Boden gestanden und den Übergang betrachtete hatte, war in ihr die Furcht herangereift, sie könnte die Höhe unterschätzt haben. Doch was sie nun erblickte, ließ ihr Herz einen Sprung lang aussetzen. Sie hatte sich getäuscht und zwar gewaltig. Der Abgrund unter ihr wirkte im ersten Moment bodenlos, das nachtschwarze Gras wie ein Meer aus tausend Schatten, die nur darauf warteten, sie zu verschlingen.
„Lia?“ Die Stimme des Orakels riss sie aus ihrer Furcht. „Lia, was ist denn?“
Die Todes Tochter hatte im ersten Moment des Schreckens nicht bemerkt, wie sie ihre Fingernägel in die Hand ihrer Gefährtin geschlagen hatte. Schnell lockerte wieder sie ihren Griff und zog ihren Kopf aus dem schwarzen Schlund.
„Nichts“, antwortete sie. Ihre Stimme zitterte ein wenig und Lia selbst begann an ihren Worten zu zweifeln.
Auch das Orakel misstraute ihr. Auch wenn sie ihre Kraft als Seelenseherin in dieser Finsternis nicht verwenden konnte, so wusste sie dennoch ganz genau, dass Lia log.
„Ist es zu tief?“, fragte sie. „Noch können wir umkehren. Wir finden auch anderswo …“
„Nein“, unterbrach Lia sie barsch. Sie merkte, wie das Orakel unter ihrer eiskalten Stimme zusammenzuckte.
Während Lysia gesprochen hatte, war in Lia mit einmal Mal der Zorn entflammt. Sie hatte es tatsächlich gewagt, Furcht zu spüren, hatte es zugelassen, dass die Angst ihrem Plan im Weg stand, ihn zum Scheitern verurteilen wollte. Wie konnte sie so etwas nur zulassen! Die Todes Tochter spürte, wie sich eine eisige Kälte in ihrem Inneren auszubreiten begann. Sie fraß sich langsam durch ihre Seele, setzte sich in ihren Kopf. Nein, sie kannte keine Furcht, sie kannte nur ihre Aufgabe, ihr Schicksal. Das alleine zählte. Sie strich sich eine störende Haarsträhne aus dem Gesicht und klemmte sie hinter ihr Ohr.
„Nein“, flüsterte sie, ohne den plötzlichen Hass in ihrer Stimme verbergen zu wollen. „Es ist nicht zu hoch. Nur etwas höher, als ich dachte. Komm jetzt, es wird Zeit.“
Mit diesen Worten zog sie das Orakel langsam in den klaffenden Spalt hinein, bis ihre Füße über den Abgrund baumelten. Dann setzte sie sich neben sie.
„Zieh deine Waffe“, wies sie das Orakel an und schon bald vernahm sie das vertraute Geräusch klirrenden Metalls. In Gedanken sah sie dabei das Bild ihrer blutroten Augen. Sie grinste. Ob ihre Augen in der Nacht leuchteten wie die eines wilden Tieres? Ihre Feinde würden vor ihr erzittern, allein wenn sie ihre Augen sahen, den Tod in ihnen erblickten und sie würden wissen, dass ihr Ende gekommen war. Plötzlich vernahm sie leises Hufgetrappel, das sich langsam näherte.
„Es geht los“, hörte sie das Orakel sagen.
Die Geräusche wurden lauter und schon bald erblickte das Mädchen zwei Reiter, die sich langsam näherten. Unruhig rutschte sie noch ein Stück nach vorne, immer darauf bedacht, nicht den Halt zu verlieren. Ihr Plan war verrückt, eindeutig nicht vorhersehbar und genau das war es, was Lia dazu bewogen hatte, ihn durchzuziehen. Für die beiden Soldaten würden sie Gestalten aus der Nacht sein, schnell und genauso tödlich, und ehe sie auch nur begriffen, was sich über ihren Köpfen abspielte, würden sie sich in der Hölle wiederfinden.
Einer der beiden Reiter trug eine Fackel in der Hand. Das Lodern des Feuers tauchte ihre grimmigen Gesichter in ein geheimnisvolles Licht. Vorsichtig zog Lia Rufus aus ihrem Gürtel. Schon bald würden ihre entschlossenen Gesichtsausdrücke der Angst weichen.
„Warte auf mein Zeichen“, flüsterte sie in Lysias Richtung. Sie konnte die Anspannung des Orakels geradezu fühlen, dennoch nicht mehr vollständig nachvollziehen. Lysia sah kaum etwas in der Finsternis, sie konnte den drohenden Abgrund unter ihr nicht einschätzen und musste darauf vertrauen, dass Lia das Zeichen zum richtigen Augenblick aussprach. Aber vielleicht war es auch genau das, wovor sie sich fürchtete – Lia zu vertrauen. Das Mädchen verwarf den Gedanken schnell wieder. Wenn sie ihr nicht vertraute, warum sonst sollte sie dann hier oben sitzen?
Die Soldaten waren jetzt fast unter ihnen. Lia umfasste Rufus Griff so fest, dass sich ihre Haut weiß färbte. Noch einen kurzen Augenblick …
„Spring!“, rief sie Lysia zu.
In dem Moment, in dem sich die Todes Tochter und das Orakel von der Mauer fallen ließen, wusste Lia, dass sie den Abstand richtig eingeschätzt hatte. Sie und Lysia würden da landen, wo sie es beabsichtigt hatte und nicht im nachtschwarzen Gras zerschellen.
Lias Kleid wölbte sich im Wind und ließ sie wie einen schwarzen Falken aussehen, der sich aus dem Himmel auf seine Beute hinabstürzte. Mit einem schmerzhaften Aufprall landete sie schließlich hinter dem Soldaten im Sattel. Das Pferd erschrak fürchterlich, als es plötzlich zwei Reiter im Sattel spürte und bäumte sich auf. Lia klammerte sich hastig an der Rüstung des Soldaten fest und nutzte den mitgebrachten Schwung des Tieres, um den Kopf des Mannes nach hinten zu reißen und seine Kehle zu entblößen.
Kraftvoll zog sie ihre Waffe durch den Hals des Soldaten. Im Bruchteil einer Sekunde durchtrennte sie seine Pulsschlagader und nahm ihm damit jegliche Chance auf Gegenwehr. Warmes Blut spritzte aus der Kehle des Mannes hervor und befleckte den muskulösen Hals des Pferdes. Der Gestank des Todes begann sich augenblicklich auszubreiten. Die Todes Tochter steckte Rufus zurück in den Gürtel. Sie packte den Kopf des Mannes mit beiden Händen und drehte ihn zu sich herum. Mit einem grässlichen Krachen brach das Genick des Mannes und Lia sah mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht dabei zu, wie er nun völlig auf die andere Seite hinüberglitt. Sie schloss die Augen und atmete ein letztes Mal den Duft des Todes ein, dann stieß sie den toten Soldaten vom Pferd.
Nachdem sie die Leiche aus dem Sattel gehoben hatte, griff sie augenblicklich nach den Zügeln, um zu verhindern, dass das Tier mit ihr durchgehen konnte. Als sich das Pferd wieder einigermaßen beruhigt hatte, suchte sie die Nacht sofort nach ihrer Gefährtin ab. Erleichtert stellte sie fest, dass sie nur ein paar Meter neben ihr auf dem zweiten Pferd saß und sich ebenfalls des Soldaten vor ihr entledigt hatte. Das Orakel gab ihr mit einem kurzen Nicken zu verstehen, dass sie bereit war.
Schnell wischte sich die Todes Tochter das Blut von ihren Händen, dann stieß sie ihrem Tier die Fersen in die Seiten. Es war ein ungewohntes Gefühl, wieder auf einem Pferd zu sitzen. Sie spürte den warmen Bauch an ihren Schenkeln, hörte den schnaubenden Atem des Lebewesens. Während sie im gestreckten Galopp an der Mauer entlangstürmten, durchbrach der erste Sonnenstrahl plötzlich die Dunkelheit und färbte den Horizont in ein feuriges Gelb. Lia kniff die Augen zusammen. Das plötzliche Licht brannte in ihrem Gesicht, sodass sie kurz den Überblick verlor. Neben ihr tauchte das Orakel auf. Sie hatte sich in die Steigbügel gestellt und hielt eine neue Klinge in ihrer Hand. Auch Lia befreite Rufus aufs Neue, denn natürlich war ihre nächtliche Aktion nicht unbemerkt geblieben. Die erstickenden Laute der Soldaten, das anfängliche Wiehern der Pferde hatten die beiden anderen Soldaten herbeieilen lassen, die zusammen mit ihren nun toten Gefährten diese Nacht Wache hatten halten sollen.
„Sie kommen!“, vernahm Lia den warnenden Ruf des Orakels.
Sie blickte zwischen den Ohren des Tieres hindurch und tatsächlich sah sie, wie zwei weitere Soldaten ihnen ebenfalls im Galopp entgegenkamen. Die Todes Tochter entfernte sich einige Meter vom Orakel und verdeutlichte ihr damit, welchen der beiden Männer sie töten wollte.
Lysia packte ihren Dolch an der Klinge und hielt sich lediglich mit einer Hand am Zügel fest. Sie wartete kurz, bis ihr Ziel den rechten Abstand hatte, dann holte sie aus und warf die Waffe von sich. Der Dolch bohrte sich tief in die Brust des Mannes, durchdrang selbst das einfach gestrickte Kettenhemd. Die Wucht, mit der er getroffen wurde, war so groß, dass er nach hinten fiel und vom Pferd stürzte. Das Orakel parierte das Pferd durch und griff nach den Zügeln des neu gewonnenen. Es dauerte, bis sich das Tier beruhigt hatte und zitternd zum Stehen kam. Lysia hob den Kopf, sah Lia, wie diese sich mit hohem Tempo dem verbliebenen Mann näherte. Sie schien ihn nicht auf die gleiche Weise töten zu wollen, wie es zuvor das Orakel erledigt hatte.
Vorsichtig lehnte sich die Todes Tochter ein Stück zur Seite und hob Rufus hoch. Die schwarze Klinge bildete einen wunderbaren Kontrast zu der aufgehenden Sonne. Das Mädchen erkannte, wie die Furcht sich in den Augen ihres Gegenübers spiegelte, als er begriff, was sie plante. Hastig versuchte er noch sein Schwert zu ziehen, doch seine Hand rutschte durch die ungleichmäßigen Bewegungen seines Tieres immer wieder vom Griff seiner Waffe – er war verloren. Während er an Lia vorbeiritt, riss sie Rufus schwungvoll in die Höhe und trennte ihm damit den Kopf von den Schultern. Sein Schädel flog hoch in die Luft. Als er auf dem Boden aufschlug, zerplatzte der Kopf mit einem lauten Knall und die Todes Tochter sah, wie sich sein Hirn über das Gras ergoss. Lia riss ihr Pferd am Zügel herum, um zu sehen, wohin das andere Tier gelaufen war.
„Gute Arbeit“, ertönte plötzlich eine wohlbekannte Stimme und sie sah, wie Enago den Rest des Soldatenkörpers aus dem Sattel stieß und sich selbst hineinschwang.
Ein paar Meter von ihr entfernt stieg Keira gerade auf ein weiteres Pferd, das das Orakel für sie bereitgehalten hatte. Die beiden hatten sich die Nacht lang in einem Gebüsch nahe dem Wachturm versteckt und auf diesen Augenblick gewartet. Ihr Plan war geglückt, sie besaßen ein paar der schnellsten Pferde des Landes.
Ihre Reise konnte beginnen – erneut.