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Das Geheimnis in der Tiefe
ОглавлениеEs war ein schönes Gefühl, über die Wege der Wälder zu reiten, die Bäume im Bruchteil einer Sekunde an sich vorbeiziehen zu sehen. Lia genoss es, den Wind in ihrem Gesicht zu spüren, während sie hinter Keira galoppierte und nicht zum ersten Mal fiel es ihr auf, wie sehr sie sich in den letzten Wochen doch verändert hatte. Sie konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als sie und Ragon zum Lunus Berg aufgebrochen waren. Damals war ihr nicht wohl bei dem Gedanken gewesen, auf ein Pferd zu steigen, geschweige denn es mit hohem Tempo durch die dicht stehenden Bäumen zu lenken. Stets hatte sie gefürchtet zu fallen. Jetzt war es anders. Sie spürte deutlich, wie das Tier unter ihr atmete, wie es sich bewegte und diese Bewegungen vermittelten Lia ein Gefühl der Freiheit. Es war, als ob sie ungezwungen an jegliche Orte dieser Welt reiten konnte, zeitlose Entscheidungen treffen durfte und sich keiner Aufgabe bewusst war. Natürlich war sie sich darüber im Klaren, dass dieses Gefühl wieder enden würde. Die Wahrheit würde sie mit derselben Brutalität erreichen, mit der sie sie in den letzten Monaten immer wieder konfrontiert hatte. Für sie gab es keine Freiheiten mehr, keine leichtfertigen Entscheidungen, sondern nur die eine bedeutsame Aufgabe. Ihr Schicksal hatte sie damals völlig unerwartet getroffen. Sie war weder vorbereitet gewesen, noch hatte sie überhaupt eine Ahnung von dem besessen, was sie erwartete. Der erste Schritt in der Erfüllung ihrer Aufgabe war getan. Dennoch war sie gezwungen, sich immer wieder dieselbe qualvolle Frage zu stellen: Zu welchem Preis? Das Einzige, was ihr im Leben etwas bedeutet hatte, war ihr genommen worden. Es war einfach aus ihrem Leben verschwunden, ohne dass sich die Erde durch sein Ableben auch nur ansatzweise geändert hatte. Dafür hatte sich ihr Leben verändert.
Lia sah, wie das Orakel neben ihr auftauchte. Sie hielt sich mit den Händen in der langen Mähne ihres Pferdes fest und achtete darauf, stets den Weg vor ihr im Auge zu behalten. Lia wusste, dass sie eigentlich nicht alleine war. Die Schicksale ihrer Gefährten lagen direkt neben ihrem eigenen Pfad. Ihre Aufgaben waren unterschiedlich, dennoch führten sie sie in dieselbe Richtung. Lia musste schlucken. Sie war nicht alleine und dennoch konnte sie auch durch dieses Wissen die Kälte in ihrem Inneren nicht mehr dazu bewegen, zurückzuweichen. Äußerlich hatte nicht jeder die Todes Tochter verlassen. Innerlich jedoch regierte die Einsamkeit und fraß unbemerkt ihre Seele.
Die Sonne stand mittlerweile an ihrem höchsten Punkt, doch ihre wärmenden Strahlen drangen nur teilweise durch die dichten Wipfel der Bäume hindurch und fielen auf den Waldboden. Die Bäume standen nun so dicht, dass es den Gefährten unmöglich war, den Wald im Galopp zu durchqueren. Das bunte Laub auf dem Boden raschelte bei jedem Schritt der Pferde und erinnerte Lia manchmal an das Rauschen des Windes.
Es war still. Niemand hatte es seit ihrem Aufbruch gewagt, die Stimme zu erheben. Sie alle konzentrierten sich auf die Tiere unter ihnen und folgten Keira. Die Seherin wusste offenbar ganz genau, wo sie sich befanden. Die Todes Tochter war, seit sie denken konnte, eine Vertraute des Waldes. Es fiel ihr nicht schwer, sich lange Wege in Wäldern einzuprägen, die im Grunde jedoch alle ziemlich gleich aussahen. Sie achtete auf die feinen Unterschiede, die Baumarten, die Tiere und dennoch musste sie dieses Mal zugeben, dass es ihr schwerfiel, die Orientierung zu behalten.
Mit der Zeit begann ihre Umgebung sich zu verändern. Die Bäume, die sich zuerst mit ihren bunten Blättern geschmückt hatten, wurden kahl und stachen als riesige, graue Ungetüme in den Himmel. Lia fing ein kleines Laubblatt auf, das sich gerade vom Ast gelöst hatte und zur Erde hinabgesegelt war. Sie betrachtete es kurz auf ihrer flachen Hand. Es hatte einen schönen kräftigen Gelbton angenommen. Lia seufzte und ließ es aus ihrer Hand gleiten. Wenn es am Boden angekommen war, würde sich das Gelb schnell in ein hässliches Braun verwandeln. Das Blatt würde vermodern, eins werden mit seinem Untergrund. Aber war nicht gerade das der Kreislauf allen Lebens? Nachdem man vom süßen Saft des Daseins kosten durfte, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis einem unter Bergen von Schmutz die Maden aus den leeren Augenhöhlen krochen. Die Zeit saß jedem im Nacken und niemand konnte diese Uhr zum Stillstand bringen. Das war die Kehrseite des Lebens. Es forderte einen Preis, den man von dem Augenblick an bezahlte, an dem man die Augen aufschlug. Und jedes Geschöpf entrichtete eine unterschiedlich hohe Summe. Denn jedes Leben bestand aus einem Schicksal und einer Aufgabe. Beides war mit Prüfungen verbunden, die unterschiedlich schwer waren. Während viele Menschen das Leben genossen, veränderte die Aufgabe für manch andere einfach alles.
Lia wusste, dass sie auserwählt worden war, zu der einen Seite zu gehören, deren Prüfung aus Leid und Schmerzen aufgebaut worden war. Schon einige Male hatte sie sich gefragt, ob sie etwas Besonderes war, ob sie sich durch ihr Schicksal von den anderen Geschöpfen abhob. Letztlich war sie jedoch immer wieder zu der Erkenntnis gelangt, dass ihre Aufgabe einem Fluch gleichkam, nicht der einer besonderen Persönlichkeit.
Um sie herum standen nun lauter kahle Bäume. Ihre Äste hingen tief herab, so als ob sie die Gefährten daran hindern wollten, weiterzureiten. Lia beugte sich immer wieder zur Seite, damit ihr der Wind die dürren Zweige nicht ins Gesicht schlug. Es begann langsam immer kälter zu werden. Die Sonne wurde von einer dicken Schicht aus traurig grauen Wolken verschluckt und dichter Nebel senkte sich langsam auf sie herab. Wie von selbst musste Lia an den Weg zur Höhle des Schattens denken. Damals, als sie kurz vor ihrem Kampf gestanden hatte, war es ihnen genauso ergangen wie jetzt. Mit jedem Schritt, mit dem sie ihrem Ziel näherkamen, veränderte sich alles um sie herum, als sollte ihnen gezeigt werden, dass sie hier falsch waren. Damals war es ein Bann gewesen, der sie davon abhalten sollte, näher zu kommen. Ihre Bewegungen waren nur schwer zu lenken gewesen, jeder Versuch, zu atmen, ein einziger Kraftakt. Der finstere Wald jedoch griff auf etwas anderes zurück. Er versuchte in den Seelen seiner Besucher den Funken Angst oder zumindest Unbehagen zu entfachen, der sie letztlich zum Umkehren bewegen sollte.
Die Kälte grub sich allmählich in Lias Knochen und ließ das Mädchen frösteln. Sie strich sich über den rechten Arm und versuchte so, den Schauer zu vertreiben.
„Wir sind da.“
Lias Kopf schnellte nach oben. Vor ihr hatte die Seherin ihr Pferd zum Stehen gebracht und starrte nun gebannt auf eine Wand aus weiteren Bäumen. Hastig trieb die Todes Tochter ihr Tier an, um zu ihr aufzuschließen und auch Enago und Lysia setzten zu ihnen auf. Die Bäume, die sich vor ihnen in die Höhe streckten, glichen auf den ersten Blick denen, die sie bereits hinter sich gelassen hatten. Bei genauerem Hinsehen jedoch waren sie alles andere als gewöhnliche Sprösslinge der Natur. So wie sie dastanden, perfekt aufgereiht, Stamm an Stamm, erinnerten sie das Mädchen viel mehr an eine mächtige Schlachtreihe aus Soldaten als an einfache Pflanzen. Ihre dürren Äste verhakten sich in denen ihres Nachbarn und selbst kleinen Vöglein fiel es schwer, sich hindurchzuquetschen. Die Stämme der Bäume boten einen gewaltigen Umfang und Lia zweifelte stark daran, dass sie, selbst wenn sie alle ihre Gefährten bei den Händen nähme, auch nur ansatzweise einmal um das mächtige Ungetüm herumpassten. Die Bäume wiegten sich leicht im Wind, was wegen ihrer ungeheuren Größe angsteinflößend und bedrohlich wirkte.
Lia blickte zur Seite. Keira hatte ein sanftes Lächeln aufgesetzt und Lia überkam das Gefühl, dass sie diesem Ort nichts Unheimliches abgewinnen konnte, genau das Gegenteil war der Fall. Auch das Gesicht des Orakels zierte ein spitzes Grinsen. Ihre haselnussbraunen Augen waren weit aufgerissen und es war, als ob sie mit ihrer Seele selbst durch die Wand aus Bäumen hindurchstarren konnte. Enago dagegen hatte die Augenbrauen hochgezogen und starrte mit einem mehr oder weniger verwunderten Ausdruck auf die Ungetüme vor ihm. Es beruhigte Lia ein wenig, dass sie nicht die Einzige war, die sich an diesem Ort überhaupt nicht willkommen fühlte. Dennoch wusste sie, dass sie etwas von dem ehemaligen Schattendiener unterschied. Während Enago mit Sicherheit kehrtgemacht hätte, wäre die Todes Tochter erst recht - von Neugier getrieben - dem Geheimnis gefolgt, das der Wald vor ihnen verbarg. Lia unterdrückte ein spöttisches Grinsen.
Sie alle waren überzeugt davon, dass sie mit ihren muskelbepackten Körpern und unbändigen Temperamenten die perfekten Voraussetzungen eines großen Kriegers mitbrachten. Mit ihren riesigen Waffen und dem Glauben, sie alleine entschieden eine Schlacht, stürzten sie sich alle früher oder später in den Tod. Ihr Verstand begriff dabei nicht, dass durch unkontrolliertes Handeln und sinnloses Blutvergießen kein Krieg gewonnen wurde. Denn sie alle waren Marionetten eines Einzelnen.
Enago hatte es geschafft, sich von seinen Fäden zu lösen. Anstatt sich für seinen ehemaligen Meister bereitwillig in das Schwert des Todes zu stürzen, hatte er sich dafür entschieden, mit Verstand zu kämpfen und konzentriert jeden Tropfen Blut aus seinen Feinden herauszupressen. An Stelle von unbeherrschbarem Zorn, der ihn auf seine Gegner hatte wild einstechen lassen, behielt er nun sein Ziel, seine Aufgabe im Kopf. Vielleicht würde die Todes Tochter ihn dafür sogar bewundern, wenn da nicht noch etwas wäre, das jedem irgendwann einmal im Weg stand – die Angst. Viele Menschen konnten ihre Furcht vor der Außenwelt verbergen. Doch wenn man lange genug danach suchte, entdeckte man immer etwas, das die Menschen in die Knie gehen ließ und dieses Etwas trat allzu häufig als Liebe auf.
Lia hatte das begriffen und mit dem Tod Ragons war ihr das Letzte genommen worden, für das sie die Bezeichnung ‚Liebe‘ als passend empfunden hatte. Sie hatte sich geschworen, die Schwäche, die Angst für immer aus ihrer Seele zu verbannen. Wenn sie das geschafft hatte, brauchte sie sich nie wieder um etwas sorgen.
„Und wie kommen wir jetzt weiter voran?“ Enagos Stimme riss Lia wieder aus ihren Gedanken.
„Er hat recht“, pflichtete sie ihm bei. „Wir sind nicht gekommen, um uns von ein paar Bäumen aufhalten zu lassen, sondern um den Stein in Sicherheit zu bringen.“
Lia hatte nicht gewollt, dass ihre Stimme etwas Bedrohliches bekam. Dennoch konnte sie sehen, wie Keira verwundert zusammenzuckte. Beschwichtigend hob die Seherin die Hand und wandte sich mit einem Lächeln ihr zu.
„Hab Geduld“, bat sie. Dann glitten ihre Füße aus den Steigbügeln und sie sprang mit einer fließenden Bewegung vom Rücken ihres Pferdes.
Misstrauisch beobachtete das Mädchen, wie Keira langsam an den Bäumen vorbeiging und jeden von ihnen kurz musterte. Endlich fand sie den Richtigen, blieb stehen und zog den kleinen Dolch mit den Drachenköpfen aus ihrem linken Ärmel. So klein die Waffe auch wirkte, Lia wusste, dass die schöne Frau mit ihr bestens umzugehen vermochte.
Keiras Finger fuhren an der grauen Rinde des Stammes entlang, bis sie auf eine kleine Kerbe stieß. Ihre wasserblauen Augen blitzten erfreut auf. „Ich hab es gefunden“, flüsterte sie. Dann steckte sie den Dolch mit dem Griff zuerst in die Kerbe hinein. Als sie sicher war, dass er nicht wieder herausrutschen konnte, packte sie ihn an der Klinge und drehte die Waffe einmal um sich selbst.
Plötzlich verstand Lia. Keiras Dolch war nicht nur zur Verteidigung gedacht, sondern diente auch gleichzeitig als Schlüssel. Er war der Schlüssel zu Keiras Geheimnis.
Schließlich zog die junge Frau ihren Dolch wieder aus der Rinde des Baumes und sprang zurück auf ihr Pferd. Ihr schönes Lächeln war nicht versiegt und Lia konnte deutlich erkennen, dass sie froh war, an diesen Ort zurückzukehren.
Plötzlich ertönte ein leises Rauschen. Wind kam auf, der die Gefährten frösteln und ihre Tiere unruhig werden ließ. Beruhigend strich die Todes Tochter ihrem Pferd über den Mähnenkamm. Dann hob sie den Kopf, um mit anzusehen, welch ein besonderer Anblick sich vor ihr bot. Der Wind nahm mit jeder verstreichenden Sekunde weiter zu. Er brachte die Äste der riesigen Bäume zum Tanzen und wenig später wiegten selbst die Stämme sich leicht im Wind. Lia ließ ihr Pferd vorsichtshalber einen kleinen Schritt zurückgehen, dennoch zweifelte sie stark daran, dass sie einem umstürzenden Ungetüm noch rechtzeitig entkommen konnte.
Die gewaltigen Stämme knarzten und ächzten unter der Kraft des Windes. Hinter ihnen wurden ein paar Blätter vom Boden aufgehoben und mit wilden Bewegungen durch die Luft geschleudert. Eines der Blätter verfing sich in der kunstvollen Hochsteckfrisur des Orakels. Doch das Mädchen störte sich nicht weiter daran, auch sie verfolgte gebannt, wie sich die beiden Ungetüme vor ihnen langsam in entgegengesetzte Richtungen beugten und der Durchgang zwischen ihnen größer wurde. Die grauen Stämme brachen immer weiter auseinander. Ihre Kronen, die bis eben noch in den Himmel geragt hatten, hingen jetzt schon fast waagerecht über der Erde, sodass Lia befürchtete, sie könnten in der Mitte zerbersten. Zwei große Raben, die bisher als einzige Zeugen des Lebens auf einem dicken Ast gesessen hatten, öffneten ihre Flügel und erhoben sich laut krächzend in die Lüfte. Bei jedem ihrer Schreie durchfuhr es die Todes Tochter eiskalt. Obwohl sie den Eingang zu Keiras geheimnisvollen Ort geöffnet hatten, wurde sie das ungute Gefühl nicht los, weiterhin unerwünscht zu sein. Lia schüttelte irritiert ihren Kopf. Nein. Es war nicht mehr dasselbe Gefühl, das sie ganz zu Anfang beim Betreten dieses Waldes ereilt hatte. Es war etwas anderes, das ihr Herz schneller schlagen ließ. Ihr Nacken brannte, es war, als ob sich zwei Augen wie brennende Eisen in ihre Haut fraßen und das zarte Fleisch verätzte. Sie fühlte sich beobachtet.
Hastig drehte sich das junge Mädchen im Sattel herum. Kurz glaubte sie einen Schatten erkennen zu können, der sich im aufkommenden Nebel langsam erhob. Die Todes Tochter fixierte das ungewöhnliche Ereignis, versuchte, den schummrigen Umrissen mit ihren blutroten Augen ein Gesicht zu geben. Beim nächsten Wimpernschlag jedoch hatte sich die dunkle Gestalt wieder im Nebel verloren und Lia ahnte, dass ihr das seltsame Wetter und ihre Müdigkeit einen Streich gespielt hatten. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich nun erneut auf die Bäume vor ihr. Die beiden Stämme waren mittlerweile so weit auseinandergegangen, dass die Gefährten samt ihren Pferden geradeso hintereinander hindurchreiten konnten. Lia wartete, bis die anderen im finsteren Eingang verschwunden waren, dann blickte sie sich noch einmal um. Der düsterte Wald lag kalt und dunkel hinter ihr. Doch es war nicht mehr die bedrückende Atmosphäre, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Dichter, nahezu weißer Nebel hatte sich ausgebreitet und kam mit einer bedrohlichen Geschwindigkeit auf sie zu. Der Todes Tochter war es unmöglich, durch ihn hindurchzusehen und sie wusste, dass er eine Gefahr darstellte, sollte er sie erreichen. Bevor die dicken Nebelschwaden sie berührten, bohrte das Mädchen ihrem Pferd die Fersen in die Seiten und folgte ihren Gefährten.
Sie wusste nicht, was sie erwartete. Vielleicht hatte sie sich in Gedanken das genaue Gegenteil des finsteren Dickichts von vorhin ausgemalt – strahlend blauer Himmel, immerwährend grüne Bäume, warmes Licht, Leben. Mit Hilfe ihrer Fantasie hatte sie einen schönen Ort geschaffen, der die Seele der Seherin widerspiegelte, eben zu Keira passte.
Die Realität sah jedoch vollkommen anders aus. Nachdem Lias Pferd den letzten Schritt zwischen den zwei Ungetümen hindurchgegangen war und sich die Stämme wieder mit gleicher Anstrengung schlossen, empfing sie stickige und warme Luft. Lia musste husten, als sie versuchte, ihre Lunge mit Sauerstoff zu füllen. Ihr Hals begann zu kratzen und sie stellte fest, dass es ihr schwerfiel zu atmen. Ein beißender Gestank erfüllte die Luft, ließ die Augen des jungen Mädchens tränen. Mit dem Ärmel ihres Kleides wischte sie sich kurz über ihr Gesicht. Es kostete sie Überwindung, den Ort, der sie augenblicklich mit all seinen freudlosen und unangenehmen Eigenschaften konfrontierte, genauer zu betrachten.
Sie befand sich auf einem großen Platz. Eine völlig vertrocknete Wiese kam unter den Hufen der Pferde zum Vorschein, erstreckte sich weit ins Land hinein und verschwand hinter fernen Bergen. Im Gegensatz zu den mächtigen Bäumen, die sich eben noch vor ihnen aufgestellt hatten, verteilten sich geradezu mickrige, vertrocknete Bäume in unregelmäßigen Abständen über den ganzen Platz. Ihre Stämme waren kaum dicker als Lias geballte Faust und das kleinste Lüftchen brachte sie gefährlich ins Wanken. Ihre Äste versuchten dennoch weiter in die Höhe zu wachsen, waren geradezu besessen, ihre dünnen Finger in das schmutzige Grau des Himmels zu tauchen. Immer wieder suchten Lias Augen nach der Sonne, sehnten sich nach einem kurzen Aufblitzen oder einem grellen Strahl. Nicht, dass die Todes Tochter grelles Tageslicht der Dunkelheit der Nacht vorzog, doch das matte Licht, das keinen Ursprung besaß, ließ das Mädchen erschaudern. Wenige Meter von Lia entfernt befand sich die Quelle des bestialischen Gestanks. Es war ein großer See, an dem ein Strand aus kleinen spitzen Steinen lag. Die Steine waren mit einer Schicht dicken Schlamms bezogen und Lia war sich sicher, dass das braune Wasser des Sees der Grund dafür war. Ihr Blick fiel auf ihre Gefährten. Erleichtert stellte sie fest, dass auch ihre Erwartungen enttäuscht worden waren und der Ort in ihnen mehr Unbehagen auslöste, als dass er ihnen Sicherheit gab. Nur auf dem Gesicht der Seherin blieb der Ausdruck von Fröhlichkeit weiterhin ungebrochen.
„Und hier willst du wirklich den schwarzen Stein verstecken?“ Enago sprach das aus, was sich Lia von der ersten Sekunde an gefragt hatte. „Versteh mich nicht falsch“, der junge Mann hob beschwichtigend eine Hand. „Aber dieser Ort hier sieht meiner Meinung nach alles andere als sicher aus!“
Seine Bemerkung löste bei Keira jedoch nicht etwa Entrüstung oder wenigstens einen Anflug der Enttäuschung aus, wie Lia es erwartete, sondern belustigte sie geradezu.
„Denkt ihr etwa wirklich, das hier ist der Ort, von dem ich euch erzählt habe?“ Es reichte ein kurzer Blick in die unsicheren Gesichter ihrer Gefährten und die junge Frau kannte die Antwort. „Sorgt euch nicht“, beruhigte sie sie. „Unser eigentliches Ziel liegt noch ein Stück von uns entfernt.“
In ihren Augen blitzte trotz des wenigen Lichts ein heller Funke, der ihrem ohnehin schon makellosen Gesicht etwas Besonderes verlieh. Vorsichtig ließ sich die Seherin aus dem Sattel gleiten. Als ihre Füße den Boden berührten, stiegen auch die anderen von ihren Tieren herunter.
„Im Prinzip habt ihr nicht unrecht“, gab Keira zu. „Der Zugang zu dem Ort, an dem wir den Stein verstecken, liegt hier.“
„Warte mal kurz“, unterbrach Lia sie. „Ich dachte, die grauen Bäume wären der Eingang zu dem Versteck!“ Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Enago ihr mit einem kurzen Nicken zustimmte.
Lysia dagegen interessierte das Gespräch über den richtigen Platz nicht mehr. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie gebannt auf einen kleinen lilafarben glänzenden Käfer, der mit müden Bewegungen an einem Stamm hochkletterte.
„Manchmal gibt es Orte, die von deren Mitwissern so gut im Verborgenen gehalten werden, dass man sie nicht nur durch ein mystisches Schlüsselloch in einem ungeheuer großen Baum erreichen kann.“
Lia konnte spüren, wie sich etwas in ihrem Inneren regte. Ungeduld gehörte normalerweise nicht zu ihren Eigenschaften, doch in diesem Moment merkte sie, dass sie es mehr als leid war, Keiras geheimnisvolle Spielchen noch länger mitzuspielen.
„Sag uns doch einfach, wohin wir den Stein bringen müssen! Oder fällst du sofort tot um, wenn du uns sagst, wo wir langgehen sollen?“ Ihre Worte waren scharf und in ihrer Stimme lag etwas, das sich wie ein Fauchen anhörte.
Keira zuckte erschreckt zusammen und das erste Mal seit ihrem Aufbruch wich ihr freundliches Lächeln einer ernsten Miene. Enago sah sie ungläubig an und Lysia riss ihre Augen von dem glänzenden Käfer, um sie mit einem tadelnden Blick anzusehen.
„Was ist denn?“
Lia spürte, wie drei Paar Augen sie unverständlich musterten. Die Seherin hatte für einen kurzen Augenblick die Fassung verloren, doch ihre verwirrte Miene verschwand fast so schnell wieder, wie sie gekommen war und das schöne Lächeln nahm wieder seinen Platz ein.
„Ich kann euch nicht genau sagen, wohin wir den Stein bringen werden, denn das würde die Magie der Rune tatsächlich nicht zulassen, Todes Tochter. Aber ich kann euch nun verraten, wo wir langgehen müssen, denn wir sind nahezu am Ziel und ein halber Weg gibt der Todesrune keinen Grund, mich umzubringen.“ Keira führte ihr Pferd an einen der kleinen Bäume und drehte sich dann zu Lysia um.
„Werden sie hier stehenbleiben, bis wir zurück sind? Das letzte Stück des Weges müssen wir zu Fuß gehen.“
Wie zur Antwort stellte das Orakel das Tier neben das von Keira. „Sie werden hier warten“, sagte sie. „Das ist ihr zweiter Vorteil. Soldatenpferde sind nicht nur unglaublich schnell, sondern sie werden auch tagelang auf ihre Reiter und eine neue Aufgabe warten. Es sind stolze Tiere, solange sie keinen Grund haben, in Panik zu verfallen.“
Lias Blick schweifte automatisch über den See hinweg, über die Berge. „Und?“, fragte sie. „Gibt es hier etwas, vor dem sie in Panik geraten könnten?“
Keira schüttelte den Kopf. „Soweit ich weiß nicht.“
Enago setzte sich langsam in Bewegung und trat neben die Seherin. Dabei fiel der Blick der Todes Tochter sofort auf den silbernen Schwertgriff an seinem Gürtel. Es war nur ein Griff, ein Griff ohne Klinge – noch. Allmählich spürte sie, wie der Zorn in ihr brodelte, der Hass an seinen Ketten zerrte und vor allem die Trauer versuchte, aus ihrem Verließ zu entkommen. Letztere hatte Lia mittlerweile so gut weggeschlossen, dass es ihr nicht mehr schwerfiel, andere Emotionen in den Vordergrund zu stellen. Angriffslustig fuhr sie mit den Fingerspitzen über die Griffe ihrer Schwerter. Wie konnte er es nur wagen, sein Schwert zu tragen? Bevor der Hass jedoch wieder die Kontrolle über ihren Verstand erlangte, riss Keira sie aus ihren Gedanken. Die junge Frau hatte sich an das Ufer des Sees begeben und gab nun ihren Gefährten ein Zeichen, ihr zu folgen. Lia strich ihrem Pferd, dankbar, dass es sie den ganzen Weg lang sicher getragen hatte, noch einmal über die Nüstern, bevor sie zu ihr hinüberging. Lia spürte, wie sich die scharfen Kanten der Steine in die Sohlen ihrer Stiefel bohrten und sie hoffte inständig, dass sie sie nicht durchdringen würden.
„Wie schon soeben erwähnt, sind die mächtigen Bäume nur das erste Hindernis, das man überwinden muss.“ In Keiras Stimme lag etwas Ernstes, etwas Magisches. „Unser eigentliches Ziel liegt in der Tiefe, auf dem Grund dieses Sees.“
Als sich die Seherin umdrehte und mit der ausgestreckten Hand hinter sich auf das trübe Wasser zeigte, glaubte Lia zuerst an einen Scherz. Stille umgab sie, als Keira geendet hatte und mit ihr kam die unglaubliche Erkenntnis, dass es die schöne Frau ganz und gar ernst meinte. Schließlich räusperte sich Enago.
„Ich bin kein besonders guter Schwimmer“, gab er zu bedenken. „Aber selbst, wenn ich einer wäre, glaube ich kaum, dass ich weit genug in die Tiefe tauchen, geschweige denn solange die Luft anhalten könnte. Außerdem würde mich das Wasser nach ein paar Metern wieder nach oben drücken.“
Zur Überraschung aller begann Keira zu nicken. „Du hast Recht. Der See ist tief und unser Ziel liegt am Rand des anderen Ufers unter Wasser. Aber“, sie bückte sich und krempelte ihr Kleid ein Stück nach oben, sodass die dunkelblaue Sichel mit dem kleinen Kreis in der Mitte sichtbar wurde, „die Todesrune beschützt mich vor all diesen Sachen. Das Wasser des Sees wurde verzaubert, sodass ich auf seinem Grund wandeln kann wie auf der Erde.“
Lia stieß ein kurzes Lachen aus, worauf sich wieder alle zu ihr umdrehten.
„Verzeih mir, Keira. Aber du solltest bedenken, dass nicht nur du nach dort unten musst, sondern wir ebenfalls. Im Gegensatz zu dir jedoch haben wir keinerlei mystische Runen auf unseren Knöcheln!“
Die Seherin erstickte ihre spitze Bemerkung mit einem Lächeln. „Sie hat Recht, Keira.“
Enago trat ein Stück auf die junge Frau zu. Seine Augen hefteten sich auf ihr nahezu makelloses Gesicht, er glaubte ihren rosigen Duft selbst durch die muffige Luft hindurch noch riechen zu können. Er musste lächeln.
„Was ist mit uns?“, fragte er schließlich.
Enago sah, wie ihre wasserblauen Augen ihn anlächelten und er spürte, wie sein Herz schneller schlug. Plötzlich rief ihn sein Gewissen zurück, befahl ihm, sich jetzt nicht in seinen aufkeimenden Gefühlen zu verlieren. Nachdem sie den Schatten in den Stein gesperrt hatten, hatte sich sein ehemaliger Diener geschworen, sich mehr um die Aufmerksamkeit seiner Gefährtin zu bemühen. Doch dann waren sie zu ihrer Aufgabe, einer neuen Reise aufgebrochen und es blieb für Enago keine Zeit mehr, sich über seine Gefühle klar zu werden.
„Natürlich habe ich auch das bedacht“, aus Keira sprach die pure Wärme. „Während des Weges habe ich mir etwas ausgedacht, das hoffentlich auch funktionieren wird.“ Mit den Blicken ihrer Gefährten im Rücken drehte sie sich um und ging zu einem der dürren Bäume, die auch am Ufer des Sees wuchsen. Es dauerte eine Weile, bis sie das Objekt ihrer Begierde gefunden hatte, doch schließlich bückte sie sich und hob einen kleinen Gegenstand auf – es war eine Nussschale.
Lia betrachtete Keira skeptisch mit ihren blutroten Augen, doch die junge Frau störte sich nicht daran.
„Ich weiß, dass man die Magie des Wassers für einen kurzen Zeitraum lang austricksen kann. Sie reagiert auf unsere Todesrunen.“ Keira begann mit den Fingern den Schlamm von den kleinen Steinen zu kratzen und ihn in der Nussschale zu sammeln, dabei erklärte sie weiter: „Da der Schlamm aus dem See kommt, stand er auch in unmittelbarer Verbindung mit seiner Magie. Wie ihr wisst, hat der Name der Rune den Ursprung, dass sie mich sofort tötet, sobald ich ein magisches Geheimnis verrate. Also werden wir den Tod in diesem Fall mit Blut in Verbindung bringen.“ Die kleine Schale war nun bis zum Rand mit braunem Schlamm gefüllt. Keira erhob sich und klopfte den Schmutz ab, der auf ihrem roten Kleid ein paar Flecken hinterlassen hatte.
„Mit dieser Mischung“, sie zeigte auf den Inhalt der kleinen Nussschale, „werden wir die Magie des Sees nun hintergehen. Ihr werdet euch für einen bestimmten Zeitraum als Träger der Rune ausgeben und somit den Weg weitergehen können.“ Es klang einfach, wie die Seherin ihnen mit ihrer glockenhellen Stimme ihren Plan verriet, doch keiner ihrer Gefährten verstand es gänzlich.
„Was genau hast du vor?“, fragte Lia, dieses Mal darauf bedacht, die Kälte in ihrer Stimme zu zügeln.
Keira drehte sich zu ihr um. „Ganz einfach“, antwortete sie. „Der Schlamm wird die Magie widerspiegeln, die der See erkennen kann. Das Blut jedoch wird den Tod symbolisieren, der uns allen im Nacken sitzt. Mit dieser Mischung werde ich euch die Todesrune auf den Knöchel malen. Dann seid ihr in der Lage, für eine gewisse Zeit den Bedingungen des Wassers zu trotzen und mir zu folgen.“
Mit einem kurzen Zeichen verdeutlichte sie Enago, die Hand auszustrecken. Dann zog sie ihren Dolch und schnitt ihm mit einer schnellen Bewegung in den Finger. Der junge Mann zuckte erschreckt zurück, als die Klinge seine Fingerkuppe unerwartet spaltete. Sofort schoss kräftig rotes Blut hervor, das Keira mit der Schale auffing, bevor es auf den Boden tropfen konnte.
„Das Blut muss natürlich von euch stammen.“ Ihr Lächeln wurde breiter. „Sonst wirkt es nicht.“
Enago brummte etwas Unverständliches, als er seine andere Hand um den verletzten Finger schloss, um die Blutung zu stoppen.
„Kremple dein Hosenbein hoch!“, wies sie ihn schließlich an, während sie mit einem Finger Blut und Schlamm vermischte. Vorsichtig begann Keira nun auf dem Knöchel des jungen Mannes, Linie für Linie, eine nahezu identische Todesrune zu zeichnen.
Lia neigte den Kopf und betrachtete erstaunt, wie das vollendete Werk der Seherin beim letzten Strich einmal kurz aufleuchtete und dann in einem matten Blau auf Enagos Haut zurückblieb.
„Wer möchte als nächstes?“
Bereitwillig trat das Orakel einen Schritt vor und streckte Keira den Zeigefinger entgegen. Die Todes Tochter sah, wie Lysias Augen erschreckt zuckten, als der Dolch ihre Haut durchschnitt. Es war kein Wunder, dass das Mädchen ihre Nervosität kaum verbergen konnte. Sie war zwar ein Orakel, eine mächtige Wissende im Kreis des Lebens. Dennoch war zu bedenken, dass sie ihr Leben lang in einer dunklen Höhle gesessen hatte, alle paar Jahre einen Fremden zu Gesicht bekam und nur selten ihren Thron verließ. Seit Kurzem jedoch hatte sich das geändert. Ihr Leben hatte einen völlig neuen Weg eingeschlagen, sie durfte ihr Schicksal leben. Es war nur offensichtlich, dass all die neuen Eindrücke und die Magie, die sie bisher nur aus Erzählungen der Göttin kannte, Angst und Misstrauen in ihr weckten.
Das Blut tropfte in die kleine Nussschale und schließlich begann Keira von neuem. Als sie fertig war, blickte sie zu Lia. „Jetzt fehlst nur noch du.“
Langsam trat das junge Mädchen vor. Keira kniete vor ihr und blickte sie mit ihren strahlenden Augen wartend an.
„Du kannst dich auch selbst schneiden, wenn du das möchtest“, sagte sie zögernd.
„Nein.“
Vielleicht war Lias Reaktion etwas zu plötzlich gewesen. Doch die Seherin solle nicht denken, dass sie sich vor ihrer kleinen Waffe fürchtete. Wenn sie musste, sollte sie ihr doch gleich den ganzen Finger abschneiden. Es blieb bei einem Schnitt. Es dauerte länger als bei Enago und Lysia, bis das Blut aus ihrer Fingerkuppe hervorschoss und als es endlich in die Schale tropfte, war es nicht - wie zuvor - mit einem kräftigen Rotton versehen, sondern schimmerte schwarz, schwarz wie die Nacht. Lia sah, wie sich der Gesichtsausdruck der Seherin kurz veränderte, doch blieb sie still und begann die Rune auf Lias Knöchel zu malen. Der Schlamm war angenehm kühl auf ihrer Haut und verschmolz perfekt mit ihr. Als Keira geendet hatte, schimmerte auch auf ihrer Haut die Nachbildung der blauen Todesrune.
„Wie lange wird sie uns schützen können?“ Die Todes Tochter ließ den Saum ihres Kleides wieder hinuntergleiten.
Die Seherin überlegte kurz. „Etwa eine halbe Stunde lang. Ich weiß, das ist nicht viel, aber es muss reichen, um unser Ziel zu erreichen.“
Die junge Frau warf ihre langen blonden Haare über die Schulter und ging zu einer steinernen Treppe, die Lia bisher nicht aufgefallen war. Sie lag seitlich am See. Die Stufen waren aus altem, zerbrochenem Stein gefertigt und dennoch erkannte die Todes Tochter kunstvoll gestaltete Muster, die auf jeder Seite eingemeißelt worden waren. Die Treppe tauchte einfach aus dem Nichts auf und verlief in einem kurzen Bogen um einen kleinen Baum herum ins trübe Wasser. Lia setzte sich ans Ende ihrer kleinen Gruppe, sah erstaunt mit an, wie Keira langsam die Stufen hinabstieg. Ihre Füße tauchten mit einem leisen Plätschern ins Wasser ein, dann stand sie bis zur Hüfte in der stinkenden Brühe.
„Keine Angst“, lächelte sie. „Ihr müsst mir einfach nur folgen. Das Wasser wird meine Zeichnung langsam entfernen. Bevor sie jedoch ganz verschwunden ist und euch die Magie wieder schaden kann, werden wir unser Ziel erreicht haben.“
Sie stieg weiter hinab. Ihre blonden Haare schwammen noch einen kurzen Moment auf der Oberfläche, dann wurde auch sie in die Tiefe gezogen. Enago und Lysia folgten ihr. Auch wenn ihre neue Bemalung bewirkte, dass sie unter Wasser nicht atmen mussten, holte das Orakel einmal tief Luft, bevor auch ihr Kopf versank. Lia stellte sich auf die erste Stufe, setzte ihren Fuß vorsichtig auf die zweite. Ihre Hand glitt in die Tasche ihres Kleides und umschloss den schwarzen Stein. Sie hatte darauf bestanden, ihn tragen zu dürfen, auf ihn zu achten. Seine Oberfläche war glatt, makellos, bis auf einen kleinen Teil. Auf einer Seite war ein Name in den Stein geätzt worden, der Name der Göttin – Surah. Die Todes Tochter fuhr mit ihrem Finger über die Kerben, dann hob sie den Kopf und blickte zurück, während sie langsam vorwärtsging. Das Wasser stürzte sich auf ihre Haut, wie ein ausgehungertes Tier auf Beute. Es war eiskalt. Lias rote Augen musterten ein letztes Mal den wundersamen Ort, den sie eben erst betreten hatte. Sie merkte sofort, dass sich in den letzten paar Minuten etwas verändert hatte. Der unheimliche Nebel hatte es geschafft, sich durch die Äste der riesigen Bäume zu schlängeln und kam nun wie eine breite, undurchlässige Armee unsichtbarer Krieger auf sie zu. Lia kniff die Augen zusammen, glaubte wieder einen Schatten im Nebel erkennen zu können. Doch bevor der Schatten Gestalt annehmen konnte, stieg sie die letzte Stufe hinab und tauchte ein, in die Tiefe.