Читать книгу Todesritter - Anna-Lina Köhler - Страница 5
Ein Versteck für den Stein
Оглавление„Ich verstehe nicht, warum wir uns darum kümmern müssen, wo wir den schwarzen Stein aufbewahren.“ Enago verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Lysia aus seinen wilden braunen Augen fragend an.
Das Orakel erwiderte seinen sturen Blick mit einem kurzen Lächeln.
„Ich habe nur gesagt, dass es wichtig wäre, einen geeigneten Ort für ihn zu finden. Schließlich ist er das Gefängnis einer Höllenkreatur und das sollten wir beim besten Willen nicht vergessen.“
Lysia stützte ihren Kopf auf eine Handfläche und lehnte sich gelassen in ihrem Thron zurück. Nach ihrem Gespräch mit der Todes Tochter waren sie in der Haupthalle der Orbis-Höhle auf Keira und Enago gestoßen. Eine Zeit lang hatte die Stille geherrscht, niemand hatte es gewagt, ein Wort zu sagen, bis Lysia schließlich doch das Schweigen unterbrochen hatte.
Lia stützte sich mit einem Arm auf der Lehne des Throns ab und starrte mit einem nahezu ausdruckslosen Gesichtsausdruck in die Runde.
„Ich muss Lysia recht geben“, sagte sie schließlich. „Wir müssen uns auf einen Platz einigen, wo wir den schwarzen Stein aufbewahren können. Ich verspüre nicht das Verlangen, ihn bis an mein Lebensende in der Tasche herumzutragen!“
Ganz automatisch fuhr sie mit ihrer Hand in die eingenähte Tasche ihres Kleides und umfasste den kleinen Gegenstand in ihr. Er fühlte sich warm und vertraut an und doch verabscheute die Todes Tochter ihn aus tiefstem Herzen. Langsam zog sie ihn heraus. Ihre Hand war zur Faust geballt und erst als ihre Hand weiß wurde, öffnete sie sie. Der Stein glänzte makellos und mächtig. Doch als Lia ihn drehte, konnte man dünne Linien erkennen, die sich durch seine Oberfläche zogen und in ihm Risse hervorriefen.
Dieser Makel bildete das Wort Surah. Die Göttin Surah gebot über das Leben und den Tod und ihre Macht war vor langer Zeit dem Zauberer Lunus in Form des schwarzen Steins zum Schutz überreicht worden. Doch dann war der Schatten aus der Hölle entkommen und nach einer langen Reise hatte sich ihr aller Schicksal gewendet. Im entscheidenden Kampf gegen den Schatten hatte Lia erfahren, dass der Zauberer ihr damals die Kräfte übergeben und so aus einem einst mächtigen Artefakt einen gewöhnlichen Stein gemacht hatte. Jetzt war der Stein, der der Höllenkreatur eigentlich zum Sieg hatte verhelfen sollen, zu seinem Gefängnis geworden. Der Schatten befand sich in ihm und Lia verspürte jedes Mal ein unangenehmes Kribbeln auf ihrer Haut, wenn sie die Oberfläche des Steins berührte. Es war, als ob er sich in ihre Handfläche fressen würde, um ihrem Griff zu entfliehen.
Nachdem sich die Todes Tochter versichert hatte, dass ihre Gefährten beim Anblick des schwarzen Steins genau die gleiche Verachtung und Abscheu empfanden, steckte sie ihn zurück in ihre Tasche, froh, das lästige Kribbeln wieder los zu sein.
„Wenn ihr ihn unbedingt loswerden wollt, dann werft ihn doch einfach weg oder versenkt den Stein in einem tiefen See.“
„Wir wollen den Stein nicht loswerden, nur sicher verwahren!“, entgegnete Lysia und verdrehte dabei genervt die Augen.
Enago verstand die Situation noch immer nicht. „Auf dem Grund eines Sees ist er sicher verwahrt!“ Auf dem Gesicht des jungen Mannes erschien ein kurzes Grinsen, das jedoch schnell wieder erlosch, als er nur finstere Blicke erntete.
„Es stimmt, wir sollten ihn nicht hierbehalten“, warf nun auch Keira ein. Ihre langen blonden Haare glänzten im blauen Licht der Fackeln und Enago spürte, wie beim Anblick ihrer makellosen Gestalt seine Knie zu zittern begannen.
„Es wäre nicht klug, unseren Feind, auch wenn er gefangen ist, in unserer Nähe zu behalten. Er lebt noch und seine Gedanken sind so dunkel wie zuvor. Wir benötigen einen Ort, den niemand so schnell aufspürt, an dem ihn menschliche, immer noch treu ergebene Schattendiener nicht finden. Die Orbis-Höhle ist zwar ein gut verborgener Platz, jedoch befürchte ich, dass uns die Nähe der Höllenkreatur schaden wird.“
Die Todes Tochter stimmte der Seherin mit einem kurzen Nicken zu. „Ich gebe dir Recht. Seitdem ich den Stein in meiner Tasche trage, kann ich seine Präsenz mal mehr, mal weniger deutlich spüren. Es ist, als ob mich seine toten weißen Augen ständig beobachten, jeden meiner Schritte verfolgen.“
Enago erschauderte bei dem Gedanken, dass sein ehemaliger Meister Notiz von ihnen nahm und möglicherweise sogar ihre Gespräche belauschte.
„Wir müssen einen Platz finden, an dem der Stein sicher ist und nicht gefunden werden kann“, erklärte Lia. „ Jedoch bin ich mir sicher, dass ihr euch bewusst seid, dass solche Plätze kaum noch existieren!“
„Damit wirst du leider Recht haben!“ Keira schlug betrübt den Blick nieder. „Die Welt ist nicht mehr das, was sie einmal war. Die Menschen sind begierig, ihre größten Geheimnisse zu entdecken, sie lassen sich mit gefährlichen Kräften ein, von denen sie letztlich aber nicht das Geringste verstehen und zerstören damit die Magie unserer Welt.“
Lia verstand nicht genau, wovon die Seherin sprach, aber sie konnte an ihrem Blick erkennen, dass es sie innerlich sehr aufwühlte.
„Und wenn wir ihn einfach vergraben?“, schlug sie vor.
Lysia schüttelt den Kopf, dabei lösten sich mehrere Locken aus ihrer Frisur und fielen ihr ins Gesicht.
„Ich glaube nicht, dass das klug wäre. Er könnte wieder an die Oberfläche gelangen, wenn der Regen die Erde aufweicht und wegspült. Oder schlimmer noch, er könnte, sei es durch puren Zufall, von jemand anderem gefunden werden.“
Die Todes Tochter brachte ein kurzes Nicken zustande. Nein, es war gewiss nicht klug, den Stein einfach unbeobachtet zu lassen und darauf zu vertrauen, dass niemand ihn je finden würde.
„Wir bräuchten einen Wächter“, sprach sie ihre Gedanken schließlich laut aus.
„Einen Wächter?“ Enago legte die Stirn in Falten. „Was meinst du damit?“
Auch die Seherin und das Orakel blickten Lia fragend an. Die Todes Tochter fuhr sich kurz mit der Zunge über die Lippen, bevor sie den Mund öffnete, um ihren Gefährten zu antworten.
„Meiner Meinung nach kann es nicht schaden, wenn es einen Wächter für den Stein gibt. Eine Person, die sich der Gefahr im Inneren des schwarzen Steins bewusst ist und dafür sorgt, dass sie nie wieder ausbricht.“
Auf dem Gesicht der Seherin erschien ein Lächeln, das ihre wässrigen blauen Augen aufblitzen ließ. „Du meinst so, wie Lunus damals über den schwarzen Stein wachte.“
Lia nickte. Der Zauberer Lunus war damals, bevor er sie und die beiden ersten Todesritter erschaffen hatte, der Wächter des schwarzen Steins gewesen. Surah, die Göttin des Lebens und des Todes selbst, hatte ihn für diese wichtige Aufgabe auserkoren.
„Die Idee ist durchaus klug“, bestätigte Lysia und ließ ein kurzes Kichern ertönen. „Aber habt ihr schon vergessen, wie es dem Wächter, wie es Lunus damals letztlich erging?“
Stille breitete sich in der Höhle aus und nur das leise Knistern der Fackeln wurde von den schwarzen Wänden zurückgeworfen. Natürlich hatte niemand von ihnen vergessen, was letztendlich das Schicksal des weisen Mannes gewesen war. Dennoch ergriff Lysia erneut das Wort.
„Der Schatten hat ihn gefunden. Er hat ihn an einem magischen Ort gefunden, von dem man dachte, er sei dort gut genug verborgen. Doch das war er nicht. Lunus fand den Tod.“ Die letzten Worte hatte das Orakel geflüstert und dabei die Augen weit aufgerissen. Jetzt lehnte sie sich langsam in ihrem Thron zurück, schlug die Beine übereinander und wartete darauf, dass einer ihrer Gefährten zu sprechen begann.
Enago tat ihr schließlich diesen Gefallen. „So kommen wir doch nicht weiter.“ Seufzend fuhr er sich mit der flachen Hand durch seine schwarzen Haare. „Einen Wächter zu bestimmen ist durchaus klug und ratsam, dennoch bleibt die Frage, wer wird dieser Wächter sein? Einer von uns wird sich wohl kaum bereiterklären, auf das, was wir in der letzten Zeit erfolgreich bekämpft haben, Tag und Nacht aufzupassen. Und selbst wenn wir eine geeignete Person fänden, wo bliebe dieser Jemand? Ich denke, es ist klar geworden, dass es zu wenige unbekannte und sichere Plätze gibt. Und die Orte, die vermeintlich sicher erscheinen, es schließlich nicht sind.“
Keira verschränkte die Arme vor der Brust. „Also befinden wir uns wieder am Anfang. Wir wissen nicht, was wir mit dem schwarzen Stein anstellen sollen!“
Lia fuhr sich mit einer Hand über den Arm, sie fröstelte leicht. Es war nicht kalt in der Höhle und das blaue Feuer der Fackeln spendete zusätzlich etwas Wärme. Dennoch spürte sie, wie schon so oft in letzter Zeit, eine unangenehme Kälte, die seltsamerweise von ihr selbst ausging. Die Kälte war wie eine große, unheimliche Hand, die sich langsam auf ihre Schulter legte, einen Schatten über sie warf.
Plötzlich stieß Keira einen leisen Schrei aus. Lia und Lysia hoben erschreckt die Köpfe und Enago griff sofort nach seinem Schwert. Doch es war keine Gefahr vorhanden, nichts Ungewöhnliches hatte die Seherin erschreckt. Ein leises Lächeln zierte ihr schönes Gesicht und als ihre Gefährten sie mit verständnisloser Miene anblickten, blitzten ihre wasserblauen Augen erfreut auf.
„Gut gemacht, Enago!“ Ihre Worte schienen der Situation nicht angemessen und steigerten nur die Verständnislosigkeit der anderen.
Enago ließ den Griff seiner Waffe wieder los. „Was habe ich Gutes getan?“, fragte er.
Auch Lysia legte den Kopf fragend auf die Seite und starrte Keira aus großen runden Augen neugierig an. „Das möchte ich auch gerne wissen!“
Das Lächeln im Gesicht der Seherin erstarb nicht. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und wartete noch einen kurzen Augenblick, bis sie sich sicher war, die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Gefährten zu besitzen.
„Ich weiß es!“, rief sie schließlich.
„Was weißt du?“ Lia konnte die Neugier in ihrer Stimme nicht verbergen.
„Ich weiß, wo wir den schwarzen Stein aufbewahren können und wo er sicher sein wird!“
Lia sah, wie Lysia begeistert nach Luft schnappte und auch sie konnte ihr Erstaunen nicht verbergen. Die plötzliche Idee, der Gedanke der Seherin begeisterte sie und es genügte ein kurzer Blick in ihr strahlendes Gesicht und auch Lia fühlte einen kleinen Funken Hoffnung in sich aufkeimen, dabei kannte sie noch nicht einmal die Hintergründe des Plans.
„Und dabei soll dir Enago geholfen haben?“ Die Todes Tochter beschloss fürs Erste skeptisch zu bleiben. Sie wusste, dass es nicht gut war, überstürzte Entscheidungen zu treffen. Keira stieß ein kurzes Lachen aus.
„Mehr oder weniger. Enago hat mir unbewusst geholfen. Eigentlich hätte ich schon viel früher darauf kommen müssen! Aber erst jetzt ist mir klar geworden, dass sein Vorschlag gar nicht so abwegig war.“
„Welcher Vorschlag?“ Der junge Mann legte die Stirn in Falten.
„Du wolltest den schwarzen Stein in einem See versenken!“, erklärte Keira und starrte Enago dabei mit ihren tiefblauen Augen an. Stille begann sich im Raum auszubreiten, bis Lia plötzlich ein abschätziges Lachen ausstieß.
„Du willst den schwarzen Stein wirklich in einem See versenken? Wir wollten ihn doch nicht loswerden. Zudem ist es zu gefährlich. Wir wissen nicht, wer ihn finden könnte …“
„Nein!“, unterbrach die Seherin sie. „Es wäre gewiss nicht klug, den Stein einfach wegzuwerfen. Ich habe diese Idee natürlich nicht in Erwägung gezogen!“ Mit einem kurzen Blick entschuldigte sie sich bei Enago, der ihr sofort wieder verzieh. Ihre langen blonden Haare wippten bei jeder ihrer Bewegungen fröhlich mit. Irgendetwas erfreute sie.
Lia wartete darauf, dass Keira weitersprechen würde und ihren plötzlichen Einfall weiter erklärte, doch die junge Frau schwieg und starrte sie aus ihren wasserblauen Augen an. Ihre Gefährten starrten zurück. Sie verstanden nicht, worauf die Seherin hinauswollte. Schließlich beendete die Todes Tochter das Schweigen. Sie strich sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht und trat langsam einen Schritt vor.
„Was für einen Vorschlag möchtest du unterbreiten?“ Ihre Frage sollte nicht kühl klingen und schon gar nicht zweifelnd. Doch Lia musste feststellen, dass in ihrer Stimme ein fremder Unterton mitschwang.
Keiras fröhlicher Blick verschwand für einen kurzen Moment hinter einer Maske aus Überraschung und Zorn. Lia hatte mit ihrer Frage unabsichtlich das Wissen der Seherin in Frage gestellt. Es war nicht klug, einer Seherin oder einem Seher jemals zu misstrauen, wenn es darum ging, was sie wussten. Die Menschen, die eine ganz besondere Gabe ihr Eigen nennen konnten, sammelten seit vielen hundert Jahren magisches Wissen und verbargen es vor machthungrigen Geschöpfen. Dieses Wissen wurde dann von Generation zu Generation weitergegeben und jedes Mal war es größer und wertvoller als zuvor. Es gab wohl kaum jemanden auf der Erde, der mehr Wissen besaß als ein Seher.
Sollte Keira durch Lias zweifelnde Frage gekränkt worden sein, so ließ sich die schöne Frau das nicht anmerken. Ihr liebliches Lächeln zierte wieder ihre Lippen und sie sah Lia mit festem Blick in die Augen. „Ich will euch nur sagen, dass ich weiß, wo wir den schwarzen Stein hinbringen können. Ich weiß, wo er sicher ist.“
Es folgte wieder eine kurze Pause.
„Und wirst du uns auch verraten, wo das wäre?“, fragte Lysia.
Als Antwort stieß Keira nur ein tiefes Seufzen aus und blickte betrübt auf ihren Knöchel.
Da dämmerte es Lia plötzlich. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Es ist ein magisches Geheimnis, nicht wahr?“
Keira nickte. Ein magisches Geheimnis verkomplizierte die Sache nur noch. Die Seherin konnte durch eine Rune auf ihrem Knöchel, eine kleine Sichel mit einem ausgefüllten Punkt in der Mitte, bestimmte Dinge, die zum Kreis des aufbewahrten Wissens der Jahrhunderte gehörte, nicht verraten. Ansonsten würde die Magie der Todesrune sie sofort töten.
„Das gestaltet die Sache nicht gerade einfach“, warf Enago ein.
Lysia nickte. „Gibt es keinen anderen Weg, der uns verraten könnte, an was du denkst?“
Keira schüttelte den Kopf. „Wir müssen uns eine Alternative überlegen. Oder ihr müsst mir einfach blind vertrauen.“
Lia schluckte. Natürlich wusste sie, dass sie der jungen Frau vertrauen konnte. Keira war zu gutherzig und zu klug, um sie zu verraten oder einen unüberlegten Vorschlag zu äußern. Dennoch gefiel es ihr nicht, ohne jegliches Wissen einfach so an einen unbekannten Ort zu gehen. Sie wollte schon widersprechen, wollte sagen, dass es keine gute Idee war, sich einfach so ins Unbekannte zu wagen, als ihr Lysia zuvorkam.
„Ich finde, wir sollten Keira vertrauen!“
Sofort besaß das Orakel die Aufmerksamkeit der Gefährten. Sie zuckte verlegen mit den Achseln.
„Sie kann uns zwar nicht sagen, wo wir den Stein hinbringen, dennoch finde ich, dass es keinen Grund gibt, ihr nicht zu vertrauen. Sie weiß, was sie tut. Obendrein haben wir im Moment keinen besseren Vorschlag oder sehe ich das falsch?“
Enago schüttelte den Kopf. „Ich denke, du hast Recht, Lysia. Es gibt keinen Grund, ihr nicht zu vertrauen. Sie hat damals, als der Schatten noch nicht eingesperrt war, versucht, uns zu helfen, indem sie uns zu Lysia bringen wollte. Sie hatte das Orakel in einer Vision gesehen und ich denke, dass das mehr als hilfreich war.“
Er schenkte Keira ein kurzes Lächeln, das sie sofort erwiderte. Jetzt drehten sich alle Köpfe zu Lia herum. Die Todes Tochter blickte mit ihren roten Augen in die einzelnen Gesichter. Sie hatte eigentlich keine Wahl mehr.
„Kennst du denn auch ganz bestimmt den Weg, Keira? Kennst du die Gefahren, die uns möglicherweise erwarten können?“
„Also ist es beschlossen?“, fragte die junge Frau.
„Es ist beschlossen!“
Gerade als die Worte den Mund des jungen Mädchens verließen, fiel ihr Blick auf Enago. Ihre Augen wanderten an seinem Körper hinab bis hin zur Hüfte und was sie dort sah, versetzte ihr einen gewaltigen Stoß. Es war, als ob jegliche Luft aus ihren Lungen gepresst worden wäre. Ihr Kopf begann zu schmerzen, ihr wurde schwindelig.
„Nein“, hauchte sie. Doch sie konnte nicht leugnen, was sie soeben erblickt hatte.
Enago legte die Stirn in Falten. Ihm war Lias entsetzter Blick natürlich nicht entgangen.
„Was hast du?“, fragte er.
„Wie konntest du?!“ Lia wollte nicht schreien, wollte so verhindern, dass ihr die Tränen kamen, doch es war zu spät. Der Anblick von Ragons alter Waffe, die nun am Gürtel ihres Gefährten hing, riss die Wunden in ihrer Seele von Neuem auf. Die Todes Tochter konnte fast fühlen, wie ihr Herz zu bluten begann.
„Wie konntest du?“, schrie sie noch einmal und machte einen Schritt auf den völlig verblüfften Enago zu. Ihre Augen blitzten gefährlich auf und auf dem Gesicht des jungen Mannes trat eine Mischung aus Unverständnis und Angst. Plötzlich spürte sie, wie sich eine Hand auf ihrer Schulter legte.
„Was hast du, Lia?“
Keiras schöne Stimme beruhigte sie für einen kurzen Moment. Doch als die erste Träne auf den Boden tropfte und dort in alle Richtungen zerlief, verlor sie sich endgültig. Mit einem kräftigen Ruck schüttelte sie die Hand von ihrer Schulter und zeigte anschuldigend mit dem Finger auf Enagos Gürtel.
„Woher hast du das?“, fragte sie. „Woher!“
Endlich dämmerte es ihm. Ohne die Todes Tochter aus den Augen zu lassen, umfasste er den silbernen Schwertgriff und zog ihn aus dem Gürtel.
„Lass es mich erklären“, antwortete er. „Er hat es mir geschenkt. Als er … starb.“ Enago fuhr sich mit einer Hand nervös durch die Haare, suchte nach passenden Worten.
„Er gab es mir, nachdem Keira dich aus der Höhle gebracht hatte. Ich soll dich damit weiterhin beschützen …, ich soll dir als dritter Todesritter im Kampf zur Seite stehen.“
Enago verstummte. Er erwartete, dass Lia ihn weiter anschreien, beschimpfen oder ihm Vorwürfe machen würde, doch das tat sie nicht. Sie stand mit verschränkten Armen vor ihm und starrte ihn aus ihren blutroten Augen an. Enago hätte es zweifellos bevorzugt, wenn sie ihn angeschrien hätte. Ihre Augen blitzten immer wieder im Licht der Fackeln zornig auf, sodass es dem jungen Mann eiskalt den Rücken hinunterlief. In seiner Zeit als Schattendiener hatte er fast täglich die Qualen der Angst spüren müssen. Doch die Angst, die ihn jetzt befiel, war ihm völlig fremd. Die Todes Tochter strahlte etwas Tödliches aus, etwas, das Enago als Schmerz deutete. Langsam ließ er das Schwert zurückgleiten und ging mutig einen Schritt auf das Mädchen zu.
„Bitte“, flüsterte er, „ich wollte dich damit ganz bestimmt nicht verletzen und Ragon erst recht nicht! Er hat es für dich getan, um dich weiterhin zu schützen.“
Lia stieß plötzlich ein heiseres Lachen aus. „Wie willst du mich mit einem Schwert beschützen, dem der wichtigste Teil fehlt?“
Enago seufzte. „Ich …“
Er brach ab, als Keira sich neben ihn stellte und ihre Hand auf seinen Arm legte. Ihre Berührung durchfuhr ihn, sein Herz begann schneller zu schlagen und auch wenn er wusste, dass sie ihm nur den Rücken stärken wollte, bildete er sich ein, es hätte mehr zu bedeuten.
„Enago muss sich die Schneide erst durch eine selbstlose Tat verdienen. Solange wird er dich mit seinem alten Schwert beschützen müssen.“
Die Stimme der Seherin klang wie immer weich und gelassen. Doch Enago spürte auch, dass sie mit ihrem Einschreiten ein Zeichen gesetzt hatte. Lia ließ nur ein verächtliches Schnauben ertönen. Enago verstand, weshalb Lia der Zorn ins Gesicht geschrieben stand. Der Tod ihres Gefährten war noch zu frisch und er riss die alten Wunden gerade wieder auf.
„Ich werde mein Bestes geben, um den Anforderungen eines Todesritters gerecht zu werden, das verspreche ich dir!“ Er machte noch einen Schritt auf Lia zu und wagte ein kurzes, vorsichtiges Lächeln, das sie mit ihrem eisigen Blick jedoch sofort wieder erstickte.
„Ich bin mir sicher, dass du das versuchen wirst“, sagte sie. „Aber glaube ja nicht, dass du ihn jemals ersetzen kannst!“