Читать книгу Duftapotheke Bundle. Bände 1-3 - Anna Ruhe - Страница 23
Оглавление15. Kapitel
Auch in dieser Nacht wälzte ich mich unruhig hin und her. Jedes Mal wenn ich gerade halbwegs eingenickt war, schreckte ich wieder auf.
Irgendwann gegen vier Uhr dreißig zog ich die Gardine vor meinem Fenster beiseite und beschloss, einfach wach zu bleiben. Durch die undichten Fensterrahmen zog die kalte Nachtluft. Ich suchte meinen kuscheligsten Pullover und wickelte mir die Decke enger um die Schultern. Der Halbmond schimmerte zu mir ins Zimmer hinein und ich stützte mich auf das Fensterbrett, um den Sternen beim Funkeln zuzusehen.
Sofort drehten sich wieder meine Gedanken um die Duftapotheke. Nach Willems Telefonaten zu urteilen, musste es also noch andere Menschen geben, die von ihr wussten. Wie viele von ihnen gab es wohl? Existierte vielleicht doch ein gruseliger Geheimorden, über den sich die Nachbarn so viele Gerüchte erzählten?
Jedenfalls beschloss ich, in Zukunft Benno aus der ganzen Sache herauszuhalten. Das wurde immer gefährlicher und mein Bruder war wirklich viel zu klein für so was.
Während ich in den Himmel hinaufsah, kroch Heimweh in mir hoch. Heimweh nach Mona, Berlin und unserem alten Leben. Ich schob die Bettdecke zur Seite und stand auf. Dann griff ich mir mein Fotoalbum. Es lag noch auf meinem Bücherstapel und wartete auf einen Platz im Regal.
Auf die ersten Seiten hatte ich Bilder von Weihnachten geklebt. Das letzte Mal, dass ich hier reingeschaut hatte, war echt lange her. Auf dem Foto vor mir waren Ma, Pa, Benno und ich drauf. Wir saßen in unserer alten Wohnung auf dem Boden, nur Benno stand neben einem Weihnachtsbaum, der sogar noch kleiner als er selbst war. Ich lächelte und merkte, wie sehr mir unsere winzige Wohnung fehlte. Es hatte zwar öfter Ärger gegeben, weil immer irgendwo etwas im Weg lag, aber dafür waren wir die meiste Zeit zusammen gewesen. Hier, in der Villa Evie, liefen wir uns kaum über den Weg.
Beim Weiterblättern wurde mir schlagartig klar, dass ich genau das an unserer alten Wohnung vermisste, worüber ich früher immer gemeckert hatte. Es war die Nähe.
Um mein Heimweh zu verscheuchen, klappte ich das Fotoalbum wieder zu und legte es zurück auf den Bücherstapel. Ich kroch zurück ins Bett und lehnte den Kopf an die Wand. Mir fiel plötzlich auf, dass Pa immer noch auf dem Sofa gelegen hatte, als wir aus der Duftapotheke zurück in unseren Flur geschlichen waren. Eigentlich war es nicht seine Art, stundenlang rumzuhängen und nichts zu tun.
Seltsam war auch, dass wir heute gar nicht zusammen Abendbrot gegessen hatten. Das war bei uns zu Hause ein Familienritual, an dem man teilnehmen musste, ganz egal, was war. Heute Abend hatte Pa nichts gekocht, nachdem wir wieder zu Hause waren, obwohl er das sonst immer tat. Als hätte er das Abendessen einfach vergessen.
Ich war so aufgeregt gewesen nach unserem Ausflug in die Duftapotheke, dass ich gar nicht groß darüber nachgedacht hatte. Ma hatte sich zwar schon über Pas Verhalten gewundert, aber nichts dazu gesagt und uns am Abend nur ein paar schnelle Brote geschmiert. Nachdem sie Benno ins Bett gebracht hatte, gab es für mich noch ein kurzes »Hab dich lieb«, dann legte sich wieder Stille über die Villa.
Irgendwie fühlte es sich auf einmal so an, als ob jeder von uns für sich allein in diesem riesigen Haus lebte. Ob sich unsere Eltern vielleicht sogar freuten, endlich mal ihre Ruhe zu haben? Ich wischte diesen unangenehmen Gedanken schnell weg. Selbst wenn es so war – bestimmt hatten sie bald wieder genug davon. Dann würden sie wieder anfangen, uns Löcher in den Bauch zu fragen. Eltern waren ja schließlich dazu da, einen zu nerven.
Es war schon halb elf, als Benno auf mein Bett hüpfte und so lange an mir herumrüttelte, bis ich endlich aufwachte. Wann genau ich wieder eingeschlafen war, wusste ich gar nicht.
»Spiel mit mir«, nörgelte er.
Ich zog mir die Bettdecke über den Kopf, in der Hoffnung, dass, wenn Benno mich nicht mehr sah, er aufhören würde, an mir herumzuziehen. Aber funktioniert hatte das noch nie.
»Kannst du nicht mit Pa spielen?«, nörgelte ich zurück.
»Ne. Der ist langweilig geworden.«
Ich rutschte an meinem Kissen hoch und rollte mich geschlagen auf den Rücken. Benno saß auf meiner Bettdecke und kippte prompt einen Sack Legos darauf aus.
Na toll.
»Langweilig?«, hakte ich trotzdem nach.
»Ja. Papa ist komisch. Und Mama einkaufen.«
»Wie ›komisch‹?«
»Weiß nicht. So komisch halt!« Benno ließ die Legosteine neben sich nicht eine Sekunde aus den Augen. Wie eine kleine Gipsfigur verharrte er.
So sah Benno nur aus, wenn etwas wirklich überhaupt nicht stimmte.
»Hast du schon gefrühstückt?«, fragte ich vorsichtig.
Benno schüttelte den Kopf und starrte weiter den Legoberg auf meiner Bettdecke an.
Mit einem Seufzen schlüpfte ich in meine Jeans und winkte Benno die Treppe runter. »Dann komm, ich mach dir ein Müsli.«
Als wir unten ankamen, traute ich meinen Augen nicht. Pa war nicht nur komisch, er saß ungekämmt und in den Klamotten von gestern auf dem Sofa. Hatte er etwa da geschlafen? Immerhin tat er mittlerweile etwas. Er sortierte nämlich seine Schallplatten. Nach Farben.
»Benno hat Hunger«, sagte ich, ohne ein »Guten Morgen« davorzusetzen.
»Das ist nicht so gut«, nuschelte Pa und hielt mir eine seiner Platten hin. »Zu den blauen oder gelben?«
»Zu den grünen!«, sagte Benno wütend, drehte sich um und zog mich am Arm hinter sich zur Küche. »Siehst du. Der ist komisch!«
Ich stolperte ihm hinterher. »Seit wann ist Ma weg?«
»Sie hat gesagt, sie geht einkaufen, aber das ist schon ganz lange her.«
Ich stellte zwei Schälchen mit Müsli und eine Milchpackung auf den Küchentisch. »Haben sich Pa und Ma gestritten?«, fragte ich, weil mir das die einzige logische Erklärung für alles schien.
»Weiß nicht.« Benno schob sich einen Löffel Müsli in den Mund. Aber im nächsten Moment sprang er auf und spuckte alles in den Mülleimer. »Bäh!«
»Was ist denn?« Ich schielte in seine Müslischale, in der die Milch in kleinen Stückchen zwischen den Haferflocken klumpte. Also kippte ich unsere Müslis beide in den Müll und goss die restliche faule Milch ins Waschbecken. Leider fand ich nirgends eine neue Packung. Nicht mal im Brotkorb lag noch etwas Essbares, die letzten Toastscheiben von gestern hatte bereits jemand verdrückt.
Ich hörte die Haustür aufgehen. »Hallo! Ich bin wieder dahaa!« Ma ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
Ich lächelte erleichtert und ging ihr mit knurrendem Magen entgegen. »Was hast du denn mitgebracht?« So leer, wie unsere Schränke waren, konnte sie die vielen Einkaufstüten bestimmt nicht alle auf einmal schleppen. Aber als ich im Flur vor ihr stand, entdeckte ich nicht eine einzige Tasche.
Ma sah mich irritiert an. »Mitgebracht?«
»Milch, Brot, Schokolade? Irgendwas? Im Kühlschrank liegen nur zwei verschrumpelte Möhren, ein halbes Paket Butter und Sojasoße.«
»Ach danke, aber ich hab gerade drüben bei Hanne einen Kaffee getrunken. Sie hat mir einen köstlichen Himbeerkuchen aufgetischt. Mehr krieg ich eh nicht runter, ich platze gleich.«
Mir fiel fast die Kinnlade runter. Seit wann machte Ma denn solche Scherze?
»Wie schön für dich«, sagte ich bemüht ruhig. »Hast du zufällig noch zwei Stückchen von Hannes köstlichem Himbeerkuchen in deiner Jackentasche? Benno und ich platzen nämlich noch nicht!«
Ma hörte mir gar nicht richtig zu. Sie bemerkte nicht mal den Ärger in meiner Stimme, sondern plapperte einfach fröhlich weiter. Darüber, wie nett es bei Hanne gewesen war und was es für ein Glück sei, dass Hanne noch so viel über den Originalzustand der alten Villa wusste.
Blablabla.
Gut gelaunt hängte sie ihren Mantel an den Haken.
»Ma!«, sagte ich und ließ meine Stimme so streng wie nur möglich klingen. »Dein kleiner Sohn hat Hunger!«
Benno guckte finster zu Ma hinauf, während sie ihn nur anlächelte.
»Dann iss doch einfach mal was, mein Kleiner!«, schlug Ma vor. Und schon rauschte sie in ihr Arbeitszimmer und verschwand.
Ich schloss langsam meinen Mund und sah zu Benno. Wäre Ma nicht Ma gewesen, hätte ich einen Lachanfall bekommen und geschworen, dass sie bluffte. Ich wäre zum Auto gegangen und hätte die Einkaufstüten mit den leckeren Sachen rausgeholt, die sie für uns eingekauft hatte. Aber diese Art Späße war nicht gerade Mas Spezialgebiet. Pa sagte immer, dafür konnte sie zu schlecht lügen.
Okay, ich musste ruhig bleiben. Ma war öfter gedankenverloren, daran gewöhnte man sich. Es gehörte zu ihr, dass sie oft nur halb zuhörte. Man sah es ihr meistens an, dass sie an etwas anderes dachte, während man mit ihr redete. Aber das war normalerweise harmlos. Ma liebte uns mit ihrer ganzen zerstreuten Art. Sie hätte uns nie hungrig uns selbst überlassen.
Pas Verhalten war noch besorgniserregender. Lehrer sind selten schusselig, die nehmen immer alles ziemlich genau. Sonst hätten sie sich bestimmt einen anderen Beruf ausgesucht. So war auch unser Pa, nur heute nicht.
Ich wickelte eine Haarsträhne um meinen Zeigefinger und versuchte zu verstehen, was los war. Und langsam bohrte sich mir das ungute Gefühl in den Bauch, dass etwas sehr Schlimmes passiert war …