Читать книгу Die großen Romane der Schwestern Brontë - Anne Bronte, Anne Brontë, The Bronte Sisters - Страница 24

Kapitel 17

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Geständnisse

Da ich gerade dabei bin, Geständnisse zu machen, kann ich auch zugeben, dass ich zu dieser Zeit meiner Kleidung mehr Aufmerksamkeit schenkte als jemals zuvor. Das will nicht viel heißen, denn bis jetzt war ich in dieser Hinsicht etwas nachlässig gewesen: Nun aber war es nichts Ungewöhnliches, dass ich volle zwei Minuten damit verbrachte, mein Gesicht im Spiegel zu betrachten, wobei mir aus dieser Beschäftigung kein Trost erwuchs. Ich konnte in diesen ausgeprägten Zügen, den blassen, hohlen Wangen und dem gewöhnlichen, dunkelbraunen Haar keine Schönheit entdecken; die Stirn zeugte vielleicht von Verstand, und die dunkelgrauen Augen waren voller Ausdruck: Aber was bedeutet das schon? Gerade, griechische Augenbrauen und große, schwarze Augen würde man vorgezogen haben. Es ist töricht, sich Schönheit zu wünschen. Vernünftige Menschen begehren sie weder für sich selbst, noch legen sie bei anderen Wert darauf. Ist der Verstand gut entwickelt und das Herz auf dem rechten Fleck, dann fragt niemand nach dem Äußeren. Das haben uns die Lehrer in der Kindheit gelehrt, und das lehren wir die Kinder heute. Alles sehr klug und sehr richtig, ganz ohne Zweifel; aber stützen sich solche Behauptungen auch auf wirkliche Erfahrung?

Wir sind von Natur aus geneigt, das zu lieben, was uns gefällt, und was sollte uns mehr gefallen als ein schönes Gesicht – zumindest, wenn wir nichts Nachteiliges über denjenigen wissen, dem es gehört? Ein kleines Mädchen liebt seinen Vogel – warum? Weil er lebt und fühlt, weil er hilf- und harmlos ist? Auch eine Kröte lebt und fühlt und ist genauso hilf- und harmlos; aber auch wenn das Mädchen der Kröte nichts zuleide tun würde, es könnte sie nie so lieben wie den Vogel mit seiner anmutigen Gestalt, den zarten Federn und den leuchtenden, ausdrucksvollen Augen. Ist eine Frau schön und liebenswert, wird sie wegen beider Eigenschaften gerühmt, vom größten Teil der Leute aber vor allem wegen der Ersteren: Ist sie andererseits äußerlich und charakterlich unangenehm, bemängelt man im Allgemeinen ihre Unansehnlichkeit als ihren größten Nachteil, weil diese für den normalen Betrachter das größte Ärgernis darstellt; während, wenn sie hässlich und gut ist und vielleicht ein Mensch, der zurückgezogen und abgeschieden lebt, niemand außer ihren nächsten Verwandten jemals etwas von ihrem Wert erfährt. Die anderen Leute hingegen sind geneigt, ihr Gemüt, ihren Charakter negativ zu beurteilen, und sei es nur, um ihre instinktive Abneigung gegen eine Frau zu bemänteln, die von der Natur so benachteiligt wurde; umgekehrt ist es bei der Frau, deren engelgleiche Erscheinung ein böses Herz verbirgt oder einen falschen, trügerischen Charme über Mängel und Schwächen breitet, die bei einer anderen nicht toleriert würden. Diejenigen, die Schönheit besitzen, mögen dankbar dafür sein und guten Gebrauch davon machen wie von jeder anderen Anlage auch; diejenigen, die sie nicht besitzen, mögen sich trösten und, so gut es geht, ohne sie zurechtkommen: Denn Schönheit ist, auch wenn sie häufig überschätzt wird, zweifellos eine Gabe Gottes und nicht zu verachten. Viele werden so empfinden, die gefühlt haben, dass sie fähig sind zu lieben und wert, wiedergeliebt zu werden, während sie jedoch, da es ihnen an dieser oder jener Kleinigkeit mangelt, davon ausgeschlossen sind, jenes Glück zu geben und zu empfangen, das zu fühlen und zu schenken ihnen von Natur aus gegeben zu sein scheint. Ebenso könnte das bescheidene Glühwürmchen seine Leuchtkraft gering achten, ohne die jedoch ihr Anbeter, die umherschwirrende Fliege, tausendmal an ihm vorbeifliegen und sich nie bei ihm niederlassen würde: Es würde den geflügelten Liebsten um sich herumsummen hören, er hingegen vergebens nach ihm suchen, es selbst wäre voller Sehnsucht, gefunden zu werden, aber ohne die Möglichkeit, seine Gegenwart bemerkbar zu machen, ohne Stimme, um ihn zu rufen, ohne Flügel, um seinem Flug zu folgen – der ersehnte Geliebte muss sich eine andere Gefährtin suchen, das Glühwürmchen einsam leben und sterben.

Derartigen Überlegungen gab ich mich in dieser Zeit hin. Ich könnte immer weiterschreiben, noch tiefer gehen und andere Gedanken enthüllen, Fragen stellen, über deren Beantwortung der Leser rätseln würde, und Schlussfolgerungen ziehen, die sein Vorurteil wecken oder vielleicht seinen Spott erregen würden, weil er sie nicht verstehen kann. Doch ich will davon absehen.

Lassen Sie uns deshalb auf Miss Murray zurückkommen. Am Dienstag begleitete sie ihre Mama auf den Ball, selbstverständlich aufs Feinste herausgeputzt und hocherfreut über ihre Aussichten und ihr bezauberndes Aussehen. Da Ashby Park fast zehn Meilen von Horton Lodge entfernt lag, mussten sie ziemlich früh aufbrechen, und ich nahm mir vor, den Abend bei Nancy Brown zu verbringen, die ich lange nicht gesehen hatte; aber meine reizende Schülerin trug Sorge, dass ich ihn nicht dort, sondern in den vier Wänden des Schulzimmers verbrachte, indem sie mir den Auftrag gab, ein Notenblatt abzuschreiben, womit ich voll und ganz beschäftigt war, bis es Zeit war, schlafen zu gehen. Am nächsten Morgen gegen elf, sobald sie ihr Zimmer verlassen hatte, kam sie zu mir, um mir das Neuste zu verkünden. Sir Thomas hatte tatsächlich auf dem Ball um ihre Hand angehalten: ein Ereignis, das für die Klugheit ihrer Mutter, wenn nicht für ihre geschickte Planung sprach. Ich neige eher zu der Annahme, dass sie zunächst ihre Pläne geschmiedet und dann deren Erfolg vorausgesagt hatte. Der Antrag war natürlich angenommen worden, und der auserwählte Bräutigam sollte noch an diesem Tage kommen und die Angelegenheit mit Mr. Murray regeln.

Rosalie gefiel der Gedanke, Herrin von Ashby Park zu werden; sie war freudig erregt in Erwartung der Hochzeitsfeierlichkeiten, der damit verbundenen Pracht und dem Aufsehen, den Flitterwochen im Ausland und den anschließenden Lustbarkeiten, die sie in London und anderswo zu genießen hoffte; sie schien derzeit auch ganz zufrieden mit Sir Thomas zu sein, weil sie ihn soeben erst gesehen und mit ihm getanzt hatte und von ihm mit Komplimenten bedacht worden war; letztendlich aber schien sie vor dem Gedanken zurückzuschrecken, schon so bald verheiratet zu sein: Sie wünschte, die Hochzeit wenigstens einige Monate aufzuschieben, und ich wünschte es auch. Ich hielt es für schrecklich, auf diese unglückselige Heirat zu drängen und dem armen Geschöpf keine Zeit zu lassen, über den unwiderruflichen Schritt, den zu tun sie im Begriff war, in Ruhe nachzudenken. Ich maßte mir nicht an, »die wachsame, bange Sorge einer Mutter« zu besitzen, aber ich war erstaunt und entsetzt über Mrs. Murrays Herzlosigkeit oder darüber, wie wenig Gedanken sie sich über das wirkliche Glück ihres Kindes machte, und ich versuchte vergebens, mit meinen Warnungen und Ermahnungen den Schaden abzuwenden; sie blieben unbeachtet. Miss Murray lachte nur über meine Worte, und bald fand ich heraus, dass ihr Widerwille gegen eine sofortige Heirat hauptsächlich dem Wunsch entsprang, noch recht viele Eroberungen unter den jungen Männern ihres Bekanntenkreises zu machen, bis es ihr unmöglich war, in dieser Hinsicht weiteren Schaden anzurichten. Darum hatte sie mir auch, bevor sie mir das Geheimnis ihrer Verlobung anvertraute, das Versprechen abgenommen, bei niemandem ein Wort darüber zu verlieren. Und als ich das erkannte und sah, wie sie sich noch leichtsinniger als zuvor in die Niederungen gefühlloser Koketterie begab, hatte ich kein Mitleid mehr mit ihr. »Komme, was will«, dachte ich, »es geschieht ihr recht. Sir Thomas kann gar nicht zu schlecht für sie sein, und je eher sie daran gehindert wird, andere zu täuschen und zu verletzen, desto besser.«

Die Hochzeit wurde auf den 1. Juni angesetzt. Zwischen diesem Termin und dem bewussten Ball lagen nur wenig mehr als sechs Wochen, aber mit Rosalies vollendetem Geschick und ihren unausgesetzten Bemühungen konnte man sogar in diesem Zeitraum einiges erreichen; besonders weil Sir Thomas den größten Teil der Zeit in London verbrachte, wohin er gereist war, wie es hieß, um einige Dinge mit seinem Rechtsanwalt zu regeln und weitere Vorkehrungen für die bevorstehende Hochzeit zu treffen. Er bemühte sich, seine fehlende Anwesenheit durch ein wahres Feuerwerk von Liebesbriefen wettzumachen; diese aber erregten weder die Aufmerksamkeit der Nachbarn, noch wiesen sie auf die künftige Verbindung hin, wie es persönliche Besuche getan hätten; und ihr Hochmut und eine säuerliche Form der Reserviertheit hielten die alte Lady Ashby davon ab, die Neuigkeit zu verbreiten, während ihre anfällige Gesundheit sie daran hinderte, ihre zukünftige Schwiegertochter zu besuchen, so dass alles in allem weniger über die ganze Angelegenheit bekannt wurde als sonst in solchen Fällen üblich.

Manchmal zeigte mir Rosalie die Briefe ihres Verlobten, um mich zu überzeugen, was für ein netter, ergebener Ehemann er sein würde. Sie zeigte mir auch die Briefe eines anderen Individuums, des unglücklichen Mr. Green, der nicht den Mut oder, wie sie es ausdrückte, den »Mumm« aufbrachte, seinen Fall persönlich vorzutragen, dem aber eine Abfuhr nicht genügte: Er schrieb wieder und wieder. Er hätte dies sicher unterlassen, wenn er gesehen hätte, welche Grimassen seine schöne Angebetete beim Lesen seiner bewegenden Appelle an ihre Gefühle schnitt, und ihr höhnisches Gelächter und die schmählichen Bezeichnungen vernommen hätte, mit denen sie ihn wegen seiner Ausdauer überhäufte.

»Warum teilen Sie ihm nicht umgehend mit, dass Sie verlobt sind?«, fragte ich.

»Ach, ich möchte nicht, dass er das weiß«, antwortete sie. »Wenn er es wüsste, wüssten es auch seine Schwestern und alle Welt, und das wäre das Ende meiner – hm, hm! Und außerdem, wenn ich es ihm erzähle, würde er glauben, meine Verlobung wäre das einzige Hindernis und ich wollte ihn haben, wenn ich nur frei wäre; und ich könnte es nicht ertragen, dass auch nur ein Mann das denkt, er jedenfalls zuallerletzt. Außerdem stören mich seine Briefe nicht«, fügte sie verächtlich hinzu, »er kann so oft schreiben, wie es ihm Spaß macht, und meinetwegen gucken wie ein Kalb, wenn ich ihm begegne: Ich amüsiere mich höchstens darüber.«

Unterdessen kam der junge Meltham häufig ins Haus oder ritt daran vorbei: und nach Matildas Flüchen und Vorwürfen zu urteilen, schenkte ihm ihre Schwester mehr Aufmerksamkeit, als es die Höflichkeit erfordert hätte, mit anderen Worten, sie flirtete weiterhin so lebhaft, wie es die Anwesenheit ihrer Eltern erlaubte. Sie unternahm einige Versuche, Mr. Hatfield erneut zu ihrem Anbeter zu machen, als sie aber merkte, dass dies ohne Erfolg blieb, zahlte sie ihm seine hochmütige Gleichgültigkeit mit umso größerer Verachtung heim und sprach nun mit ebenso viel Geringschätzung und Abscheu von ihm wie vorher von seinem Hilfspfarrer. Aber während alledem verlor sie Mr. Weston nicht einen Moment aus den Augen. Sie ergriff jede Gelegenheit, ihn zu treffen, probierte jedes Mittel, ihn zu betören, und verfolgte ihn mit einer Hartnäckigkeit, als wenn sie wirklich ihn und keinen anderen liebte und das Glück ihres Lebens davon abhinge, ihm die Erwiderung ihrer Zuneigung zu entlocken. Für ein derartiges Verhalten hatte ich absolut kein Verständnis. Wäre es in einem Roman geschildert worden, ich hätte es für unnatürlich gehalten, hätten andere Leute es beschrieben, ich hätte es als Irrtum oder Übertreibung abgetan; da ich es aber mit eigenen Augen sah und auch darunter litt, konnte ich nur folgern, dass übermäßige Eitelkeit genau wie Trunksucht das Herz verhärtet, die natürlichen Anlagen verkümmern lässt und die Gefühle verdirbt; und dass Hunde nicht die einzigen Geschöpfe sind, die, nachdem sie sich bis obenhin satt gefressen haben, sich noch über das freuen, was sie gar nicht mehr herunterbringen, dem hungernden Bruder aber noch den kleinsten Bissen missgönnen.

Den armen Häuslern gegenüber zeigte sie sich nun äußerst wohltätig. Sie dehnte die Bekanntschaft mit ihnen aus und besuchte ihre bescheidenen Behausungen häufiger und länger. Das brachte ihr den Ruf einer leutseligen und barmherzigen jungen Dame ein, und die Loblieder über sie wurden mit Sicherheit vor Mr. Weston wiederholt, den zu treffen sie so täglich Gelegenheit hatte, ob in einem der Häuser oder auf dem Weg von einem zum anderen; und oft konnte sie durch das Geschwätz der Leute aufschnappen, wohin er zu der und der Zeit gehen würde, ob er ein Kind taufen oder die Alten, Kranken, Elenden oder Sterbenden aufsuchen würde, und geschickt richtete sie ihre Pläne danach aus. Diese Besuche machte sie manchmal zusammen mit ihrer Schwester, die sie irgendwie überredet oder bestochen hatte, sich auf ihre Machenschaften einzulassen, manchmal allein, aber niemals mehr mit mir, so dass mir die Freude versagt war, Mr. Weston zu sehen oder seine Stimme wenigstens im Gespräch mit einer anderen zu hören: Denn eine Freude wäre es gewesen, wie kränkend oder schmerzlich auch immer. Ich konnte ihn nicht einmal mehr in der Kirche sehen, denn Miss Murray beschloss unter einem nichtigen Vorwand, genau den Platz in der Familienbank einzunehmen, der von Anfang an der meine gewesen war, und wenn ich nicht so vermessen sein wollte, mich zwischen Mr. und Mrs. Murray zu setzen, musste ich mit dem Rücken zur Kanzel sitzen, was ich demzufolge auch tat.

Ich ging jetzt auch nicht mehr zu Fuß mit meinen Schülerinnen nach Hause: Sie teilten mir mit, ihre Mama fände, es sähe nicht gut aus, wenn drei Mitglieder der Familie zu Fuß gingen und nur zwei mit der Kutsche führen, und da sie es bei schönem Wetter vorzogen zu laufen, wurde mir die Ehre zuteil, mit den Eltern zu fahren. »Und außerdem«, meinten sie, »können Sie auch nicht so schnell gehen wie wir; Sie wissen ja, dass Sie immer weit zurückbleiben. Ich wusste, dass dies faule Ausreden waren, machte jedoch keine Einwände und widersprach diesen Behauptungen nie, kannte ich doch ihre Motive. Und nachmittags ging ich im Verlauf dieser sechs denkwürdigen Wochen überhaupt nicht mehr zur Kirche. Wenn ich erkältet oder etwas unpässlich war, nutzten sie diesen Vorteil, um mich zu Hause zu halten, und oft sagten sie mir, sie wollten heute selbst nicht mehr gehen, taten dann so, als hätten sie ihre Meinung geändert, und brachen auf, ohne mir Bescheid zu sagen, wobei sie ihren Aufbruch so geschickt arrangierten, dass ich ihren Sinneswandel stets zu spät entdeckte. Bei ihrer Rückkehr von einem dieser Kirchenbesuche berichteten sie mir angeregt von einer Unterhaltung, die sie unterwegs mit Mr. Weston geführt hatten. »Und er hat gefragt, ob Sie krank sind, Miss Grey«, sagte Matilda, »aber wir haben ihm erklärt, dass Sie ganz gesund sind und nur keine Lust hätten, in die Kirche zu gehen – jetzt denkt er bestimmt, Sie wären gottlos geworden.«

Auch jede zufällige Begegnung an den Wochentagen wurde sorgsam verhindert, denn damit ich nicht die arme Nancy Brown oder sonst jemanden besuchte, achtete Miss Murray darauf, mir für all meine freie Zeit ausreichend Beschäftigung zu geben. Immer war ein Bild fertig zu malen, ein Notenblatt abzuschreiben oder irgendeine andere Arbeit zu verrichten, genug, um es mir unmöglich zu machen, mir mehr als einen kurzen Spaziergang auf dem Parkgelände zu gönnen, egal ob sie oder ihre Schwester nun beschäftigt waren oder nicht.

Eines Morgens, nachdem sie Mr. Weston gesucht und ihm aufgelauert hatten, kehrten sie in Hochstimmung zurück und berichteten über ihr Gespräch mit ihm. »Und er hat sich wieder nach Ihnen erkundigt«, sagte Matilda trotz des stummen, aber gebieterischen Winks ihrer Schwester, den Mund zu halten. »Er hat gefragt, warum Sie nie mit uns kämen, und meinte, Sie wären wohl von zarter Gesundheit, weil Sie so selten nach draußen gingen.«

»Das hat er nicht, Matilda – was für einen Unsinn zu redest!«

»Oh, Rosalie, das ist gelogen! Du weißt genau, dass es so war; und du hast gesagt – hör auf, Rosalie, zum Henker! Ich will nicht, dass du mich so kneifst! Und, Miss Grey, Rosalie hat ihm erzählt, Sie würden sich ganz wohl fühlen, sich aber immer so in Ihren Büchern vergraben, dass Sie an nichts anderem Interesse hätten.«

»Was muss er nur von mir denken!«, überlegte ich.

»Und fragt die alte Nancy noch manchmal nach mir?«, fragte ich.

»Ja, und wir haben ihr gesagt, Sie wären so versessen aufs Lesen und Zeichnen, dass Sie für nichts anderes Zeit hätten.«

»Aber das ist doch gar nicht der Fall; wenn Sie ihr erzählt hätten, ich wäre zu beschäftigt gewesen, um sie besuchen zu können, wäre das der Wahrheit nähergekommen.«

»Das glaube ich nicht«, antwortete Miss Murray plötzlich gereizt, »Sie haben doch bestimmt eine Menge Zeit für sich, jetzt, wo Sie nur noch so wenig Unterricht geben müssen.«

Es hatte keinen Sinn, mit derart verwöhnten, unvernünftigen Geschöpfen Streit anzufangen: Also hielt ich den Mund. Ich war mittlerweile daran gewöhnt zu schweigen, wenn in meiner Gegenwart Dinge geäußert wurden, die mir missfielen, und auch darin geübt, ein gelassenes Lächeln zur Schau zu tragen, wenn mir tief im Innern bitter zumute war. Nur jemand, der das Gleiche erlebt hat, kann sich meine Gefühle vorstellen, wie ich gleichgültig lächelnd dasaß und mir die Erzählungen über jene Begegnungen und Gespräche mit Mr. Weston anhörte, von denen sie mir offensichtlich so gern berichteten; sie stellten Behauptungen über ihn auf, von denen ich genau wusste – denn ich kannte ja seinen Charakter –, dass sie Übertreibungen und Verzerrungen der Wahrheit, wenn nicht gänzlich falsch waren. Darstellungen, die für ihn nachteilig, für sie aber, besonders Miss Murray, schmeichelhaft waren. Ich brannte darauf zu widersprechen und zumindest meine Zweifel anzumelden, aber ich wagte es nicht, aus Angst, ich könnte zugleich mit meinem Zweifel auch mein Interesse erkennen lassen. Ich vernahm Berichte, bei denen ich spürte oder fürchtete, dass sie nur zu sehr der Wahrheit entsprachen: Aber voller Empörung über sie musste ich meine Besorgnis um ihn weiterhin hinter einer unbekümmerten Miene verbergen; dann wieder machten sie Andeutungen über etwas, das gesagt oder getan worden war, worüber ich gern mehr erfahren hätte, aber es nicht wagen durfte nachzufragen. So verging diese unerträgliche Zeit. Ich konnte mich nicht einmal damit trösten, dass ich mir sagte: »Bald ist sie verheiratet, und dann gibt es vielleicht Hoffnung.«

Bald nach ihrer Hochzeit würden die Ferien kommen, und wenn ich von zu Hause zurückkehrte, würde Mr. Weston höchstwahrscheinlich nicht mehr hier sein; denn ich hatte erfahren, dass er und der Gemeindepfarrer nicht gut miteinander auskämen (natürlich die Schuld des Letzteren) und dass er im Begriff stand, an einen anderen Ort zu ziehen.

Nein – außer meinem Gottvertrauen war es mein einziger Trost zu denken, dass, auch wenn er es nicht wusste, ich seiner Liebe eher würdig war als Rosalie Murray, so reizend und anziehend sie auch war; denn ich konnte seine vortrefflichen Eigenschaften einschätzen, sie nicht: Ich würde mein Leben dafür hingeben, ihn glücklich zu machen; sie würde wegen der flüchtigen Befriedigung ihrer Eitelkeit sein Glück zerstören. »Oh, wenn er nur den Unterschied sehen könnte!«, wollte ich ernsthaft ausrufen. »Doch nein, ich würde nicht wollen, dass er mir ins Herz blickt, aber wenn er nur ihre Falschheit, ihre nichtswürdige, herzlose Oberflächlichkeit erkennen könnte, dann wäre er sicher und ich beinahe glücklich, auch wenn ich ihn nie mehr wiedersehe.«

Ich fürchte, der Leser ist mittlerweile der Torheit und Schwäche überdrüssig, die ich so offen vor ihm ausgebreitet habe. Ich habe damals nichts verraten und hätte dies auch nicht getan, wenn ich mit meiner Schwester oder meiner Mutter in einem Hause gelebt hätte. Ich war eine verschwiegene, entschlossene Heuchlerin – zumindest in diesem einen Fall. Nur der Himmel und ich selbst waren Zeugen meiner Gebete, Tränen, Sehnsüchte, Ängste und Klagen.

Wenn wir von Sorgen und Ängsten gequält oder lange Zeit von starken Gefühlen bedrückt werden, die wir für uns behalten müssen und für die wir bei keinem Menschen Verständnis finden und suchen, die wir jedoch nicht gänzlich ersticken können oder wollen, suchen wir oft instinktiv in der Dichtung Trost und finden ihn dort auch häufig – ob in den Ergüssen anderer, die augenscheinlich mit unserem eigenen Fall übereinstimmen, oder in unseren eigenen Versuchen, jenem Denken und Fühlen Ausdruck zu verleihen, vielleicht in Versen, die weniger musikalisch, aber passender und daher eindringlicher, einfühlsamer und für den Augenblick tröstender oder wirkungsvoller sind, um das gequälte und übervolle Herz aufzurichten und von seiner Last zu befreien. Ich hatte bereits zuvor in Wellwood House und auch hier zwei- oder dreimal bei dieser Labsal des Gemüts Zuflucht gesucht, wenn ich von Heimweh und Schwermut heimgesucht worden war; nun tat ich es wieder und mit größerem Verlangen als je zuvor, weil ich es anscheinend noch dringender brauchte. Ich bewahre jene Andenken an vergangene Leiden und Erfahrungen noch immer auf wie Gedenksäulen, die man auf der Reise durch das Tal des Lebens errichtet hat, um an besondere Ereignisse zu gemahnen. Die Fußspuren sind verwischt, das Gesicht der Landschaft hat sich vielleicht verändert, aber die Säule ist noch da, um daran zu erinnern, wie alles war, als sie aufgestellt wurde. Weil der Leser nun sicher gern etwas von diesen Ergüssen erfahren möchte, will ich ihm eine kurze Kostprobe nicht vorenthalten: Mögen die Zeilen auch kühl und fern klingen, verdanken sie ihre Entstehung doch einem geradezu leidenschaftlichen Schmerz.

Ach, alle Hoffnung nahm man mir,

Die ich so still gehegt,

Darf jene Stimme nicht mehr hören,

Die mich so tief bewegt.

Dein Antlitz seh ich nun nicht mehr,

Das mich so sehr beglückt,

Dein Lächeln, deine Liebe, ach,

Wie weit sind sie entrückt!

Und wenn sie mir auch alles nehmen,

Eines bleibt gewiss für mich –

Ein Herz, das liebend an dich denkt

Und fühlt: Es gibt nur dich.

Ja, zumindest das konnten sie mir nicht nehmen: Ich konnte Tag und Nacht an ihn denken und fühlen, dass er es wert war, dass ich an ihn dachte. Niemand kannte ihn so gut wie ich; niemand schätzte ihn so wie ich, niemand konnte ihn so lieben wie ich – wenn ich es gedurft hätte, aber hier lag das Problem. Welchen Anlass hatte ich, so oft an einen Menschen zu denken, der nie an mich dachte? War das nicht töricht? War das nicht falsch? Aber wenn ich so viel Freude daran hatte, an ihn zu denken, und diese Gedanken für mich behielt und niemand anderen damit belästigte, welchen Schaden sollte das anrichten, fragte ich mich. Und solche Gedankengänge hielten mich davon ab, mir wirklich Mühe zu geben, mich von meinen Fesseln zu befreien.

Aber wenn mir diese Gedanken Freude bereiteten, so war es doch eine schmerzliche, unruhige Freude, die zu sehr mit einem Gefühl der Pein verbunden war und mich mehr kränkte, als ich merkte. Es war eine Schwäche, die sich ein klügerer, erfahrenerer Mensch zweifellos versagt hätte. Und doch, wie trostlos war es, die Augen von der Betrachtung jenes strahlenden Gegenstandes abzuwenden und sie auf die einförmige, graue, trübselige Aussicht ringsum zu richten: den freudlosen, hoffnungslosen, einsamen Weg, der vor mir lag. Es war falsch, so niedergedrückt und verzagt zu sein; ich hätte mit Gott Freundschaft schließen und es zum Mittelpunkt meines Lebens machen sollen, nach Seinem Willen zu leben, aber mein Glaube war zu schwach, die Leidenschaft zu stark.

In dieser Zeit der Not gab es für mich noch zwei weitere Gründe, betrübt zu sein. Der erste mag banal erscheinen, aber er kostete mich so manche Träne: Schnapp, mein kleiner, stummer, grimmig dreinschauender, aber glanzäugiger, warmherziger Gefährte, das einzige Wesen, das mich liebte, wurde mir weggenommen und der rauen Behandlung des dörflichen Rattenfängers überlassen, einem Mann, der dafür bekannt war, dass er brutal mit seinen Hunden umging. Der zweite war ernst genug: Die Briefe, die ich von zu Hause bekam, deuteten darauf hin, dass es mit der Gesundheit meines Vaters bergab ging. Sie enthielten keine unheilvollen Befürchtungen, aber ich war ängstlich und mutlos geworden und konnte den Gedanken nicht verdrängen, dass uns ein schreckliches Unglück bevorstand. Ich sah förmlich die schwarzen Wolken, die sich um die Hügel meiner Kindheit zusammenballten, und hörte das wütende Heulen des Sturms, der im Begriff war, unser Heim zu zerstören und zu verwüsten.

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