Читать книгу Die großen Romane der Schwestern Brontë - Anne Bronte, Anne Brontë, The Bronte Sisters - Страница 43
Kapitel 4
ОглавлениеAus meinem Gespräch mit Mr. Lloyd und der eben geschilderten Unterhaltung zwischen Bessie und Abbot schöpfte ich genügend Hoffnung, um wieder gesund werden zu wollen: eine Veränderung schien bevorzustehen – ich sehnte sie herbei und harrte schweigend aus. Sie ließ indes auf sich warten; Tage und Wochen verstrichen. Ich war inzwischen wieder völlig hergestellt, doch das Thema, das mich so beschäftigte, wurde mit keiner Silbe mehr erwähnt. Mrs. Reed musterte mich zwar zuweilen mit ernstem Blick, richtete aber nur selten ein Wort an mich. Seit meiner Krankheit zog sie eine noch schärfere Trennungslinie als früher zwischen mir und ihren eigenen Kindern: Sie hatte mir eine kleine Kammer zugewiesen, in der ich allein schlafen musste, und mich dazu verurteilt, meine Mahlzeiten für mich einzunehmen. Außerdem musste ich die ganze Zeit im Kinderzimmer bleiben, während mein Vetter und meine Kusinen ständig im Wohnzimmer sein durften. Zwar sprach sie nie davon, mich auf eine Schule zu schicken, doch fühlte ich instinktiv, dass sie mich nicht mehr lange unter ihrem Dach dulden würde, denn wenn ihr Blick auf mich fiel, so war darin deutlicher denn je eine unüberwindliche und tiefverwurzelte Abneigung zu lesen.
Eliza und Georgiana hatten offensichtlich Anweisung erhalten, so wenig wie möglich mit mir zu sprechen, und hielten sich daran. John schnitt jedes Mal Fratzen, wenn er mich sah, und einmal versuchte er sogar, mich zu schlagen. Da ich mich jedoch, angetrieben von demselben Gefühl unbändiger Wut und verzweifelten Aufbegehrens, das schon einmal den Teufel in mir geweckt hatte, augenblicklich zur Wehr setzte, hielt er es für besser, mich in Frieden zu lassen: Verwünschungen ausstoßend und beteuernd, ich hätte ihm die Nase eingeschlagen, rannte er davon. Tatsächlich hatte ich diesem markanten Körperteil mit aller Kraft, deren meine Knöchel fähig waren, einen Schlag versetzt; und als ich merkte, dass entweder dieser oder mein Blick ihn einschüchterten, hatte ich größte Lust, meinen Vorteil zielstrebig auszunutzen, aber da war er schon bei seiner Mama. Ich hörte, wie er weinerlich von »dieser niederträchtigen Jane Eyre« zu erzählen begann, die wie eine Wildkatze auf ihn losgegangen sei. Recht schroff wurde ihm Einhalt geboten:
»Erzähl mir nichts von ihr, John. Ich habe dir gesagt, du sollst nicht in ihre Nähe kommen. Sie ist es gar nicht wert, dass man sie beachtet. Ich wünsche nicht, dass du oder deine Schwestern euch mit ihr abgebt.«
In diesem Augenblick lehnte ich mich oben über das Treppengeländer und rief, ohne auch nur im Geringsten über meine Worte nachzudenken, hinunter:
»Sie sind es nicht wert, dass ich mich mit ihnen abgebe.«
Mrs. Reed war eine recht korpulente Frau, aber als sie diese unerhörte, dreiste Äußerung vernahm, kam sie behände die Treppe heraufgelaufen, fegte mich wie ein Wirbelwind ins Kinderzimmer, drückte mich auf die Kante meines Bettes nieder und befahl mir in unmissverständlichem Ton, es nicht zu wagen, mich für den Rest des Tages vom Fleck zu rühren oder auch nur eine Silbe von mir zu geben.
»Was würde Onkel Reed dazu sagen, wenn er noch am Leben wäre?«, fragte ich fast gegen meinen Willen. Ich sage fast gegen meinen Willen, denn es schien, als äußerte mein Mund Worte, ohne dass ich es wollte: aus mir sprach etwas, worüber ich keine Macht hatte.
»Was?«, stieß Mrs. Reed leise hervor. Ihre sonst so kalten, gelassen blickenden grauen Augen nahmen einen beunruhigten, ja ängstlichen Ausdruck an. Sie ließ meinen Arm los und starrte mich an, als wüsste sie wirklich nicht, ob ich ein Kind war oder ein Teufel. Mir stand nichts Gutes bevor.
»Onkel Reed ist im Himmel und kann alles sehen, was Sie tun und denken, und Papa und Mama sehen es auch. Sie wissen, dass Sie mich den ganzen Tag lang einsperren und dass Sie wünschen, ich wäre tot.«
Mrs. Reed gewann ihre Fassung rasch wieder. Sie schüttelte mich tüchtig, versetzte mir rechts und links eine Ohrfeige und ging dann ohne ein weiteres Wort hinaus. An ihrer Stelle kam Bessie herein, die mir in einer einstündigen Strafpredigt unwiderlegbar nachwies, dass ich das ungezogenste und verworfenste Kind war, das je unter einem Dach aufgezogen worden war. Ich glaubte ihr beinahe, denn ich fühlte tatsächlich nur noch böse Regungen in meiner Brust.
November, Dezember und der halbe Januar gingen vorüber. Weihnachten und Neujahr waren in Gateshead in der üblichen Festtagsstimmung begangen worden. Geschenke waren ausgetauscht, Essen und Abendgesellschaften gegeben worden. Von all den Vergnügungen war ich natürlich ausgeschlossen. Mein Anteil an der festlichen Fröhlichkeit beschränkte sich darauf zuzusehen, wie Eliza und Georgiana jeden Tag herausgeputzt wurden und wie sie in ihren dünnen Musselinkleidern und roten Schärpen und mit kunstvoll gelocktem Haar die Treppe hinunterschritten. Und danach lauschte ich den Klängen des Klaviers oder der Harfe, die aus dem Salon zu mir heraufdrangen. Ich hörte das geschäftige Hin und Her der Diener, das Klirren und Klappern von Gläsern und Porzellan, wenn Erfrischungen gereicht wurden, und zuweilen fing ich ein paar Gesprächsfetzen auf, wenn unten die Türen zum Salon geöffnet und wieder geschlossen wurden. War ich dieser Beschäftigung müde, zog ich mich vom Treppenabsatz in das verlassene, stille Kinderzimmer zurück, wo ich, wenn auch ein wenig traurig, keineswegs unglücklich war. Um die Wahrheit zu sagen, ich verspürte nicht den geringsten Wunsch, in Gesellschaft zu sein, denn dort wurde ich kaum beachtet. Und wäre Bessie nur etwas freundlicher und geselliger gewesen, hätte es mir viel mehr Freude bereitet, die Abende ruhig und beschaulich mit ihr zu verbringen, als mich unter dem furchteinflößenden Blick Mrs. Reeds in einem Raum voller feiner Herrschaften aufhalten zu müssen. Aber Bessie pflegte sich, sobald sie die jungen Damen angekleidet hatte, in belebtere Regionen wie die Küche oder die Kammer der Haushälterin zu begeben, und meist nahm sie die Kerze mit. Dann saß ich mit meiner Puppe auf den Knien da, bis das Kaminfeuer heruntergebrannt war, und ließ von Zeit zu Zeit meinen Blick durch das düstere Zimmer wandern, um mich zu vergewissern, dass kein bedrohlicheres Wesen als ich selbst dort herumgeisterte; und wenn dann die letzten Kohlen zu dunkelroter Glut zerfielen, zerrte ich, so flink ich konnte, an Knoten und Bändern, schlüpfte hastig aus meinen Kleidern und suchte in meinem Bett Schutz vor Kälte und Dunkelheit. Meine Puppe nahm ich stets mit in dieses Bett. Jeder Mensch hat das Bedürfnis, etwas liebzuhaben, und in Ermangelung eines Objektes, das meiner Zuneigung würdiger gewesen wäre, fand ich schließlich Freude daran, diesem in einem verblichenen Kleidchen steckenden Götzen, der wie eine schäbige kleine Vogelscheuche aussah, meine Liebe und Zärtlichkeit zu schenken. Heute erstaunt mich die groteske Aufrichtigkeit, mit der ich damals in dieses unscheinbare Spielzeug vernarrt war, ja mir einbildete, es sei lebendig und menschlicher Gefühle fähig. Ich konnte nicht einschlafen, ehe die Puppe nicht in die Falten meines Nachthemdes gebettet war; und erst, wenn sie sicher und geborgen bei mir lag, fühlte ich mich einigermaßen glücklich, weil ich glaubte, sie sei es auch.
Endlos erschienen mir die Stunden, während ich auf das Weggehen der Gäste wartete und lauschte, ob ich nicht Bessies Schritte auf der Treppe hören konnte. Manchmal kam sie nämlich zwischendurch herauf, um ihren Fingerhut oder die Schere zu holen oder um mir eine Kleinigkeit – ein Rosinenbrötchen etwa oder ein Stück Käsekuchen – zum Nachtessen zu bringen. Dann setzte sie sich zu mir auf die Bettkante, solange ich aß, und wenn ich fertig war, deckte sie mich fürsorglich zu; zweimal gab sie mir sogar einen Kuss und sagte: »Gute Nacht, Miss Jane.« Wenn sie so lieb zu mir war, dünkte mich Bessie das beste, hübscheste, liebenswürdigste Geschöpf auf der Welt, und ich wünschte mir inständig, sie möge immer so freundlich und nett sein und mich nie mehr herumstoßen oder grundlos schelten oder tadeln, wie sie es oft zu tun pflegte. Bessie Lee muss meiner Meinung nach ein Mädchen mit guten natürlichen Anlagen gewesen sein, denn sie war geschickt in allem, was sie tat, und hatte ein beachtliches Talent zum Erzählen – das zumindest schloss ich aus dem Eindruck, den ihre Kindergeschichten auf mich machten. Wenn mich meine Erinnerung an ihr Gesicht und ihr Äußeres nicht trügt, war sie auch hübsch: eine schlanke junge Frau mit schwarzem Haar, dunklen Augen, sehr ansprechenden Zügen und gesunder, reiner Haut. Allerdings war sie launisch und aufbrausend und hatte keinen besonders ausgeprägten Sinn für Grundsätze und Gerechtigkeit. Trotzdem zog ich sie so, wie sie war, jedem anderen in Gateshead Hall vor.
Es war am fünfzehnten Januar gegen neun Uhr morgens. Bessie war zum Frühstück hinuntergegangen, und meine Kusinen waren noch nicht zu ihrer Mama gerufen worden: Eliza setzte gerade ihre Haube auf und schlüpfte in ihren warmen Mantel, um nach draußen zu gehen und ihre Hühner zu füttern – eine Beschäftigung, die ihr ebenso viel Spaß machte wie das Verkaufen der Eier an die Haushälterin und das Horten des Geldes, das sie dafür erhielt. Sie hatte ein Talent zum Handeln und einen ausgesprochenen Hang zum Sparen, was sich nicht nur im Verkauf von Eiern und Küken zeigte, sondern auch in den harten Verhandlungen mit dem Gärtner über den Preis von Blumenzwiebeln, Samen und Setzlingen. Allerdings war dieser Bedienstete ohnehin von Mrs. Reed angewiesen worden, dem jungen Fräulein alle Erzeugnisse aus ihrem kleinen Garten abzukaufen, die sie veräußern wollte – und Eliza hätte ihr eigenes Haar verkauft, wenn sie dabei einen hübschen Gewinn hätte erzielen können. Was ihr Geld angeht, so hatte sie es anfangs, in Lappen oder alten Papierhaarwickeln eingerollt, in allen möglichen Ecken und Winkeln versteckt. Nachdem aber einige dieser Schätze vom Zimmermädchen entdeckt worden waren, willigte Eliza aus Angst, eines Tages ihr kostbares Hab und Gut zu verlieren, ein, das Geld ihrer Mutter anzuvertrauen – zu Wucherzinsen von fünfzig oder sechzig Prozent, die sie jedes Vierteljahr eintrieb. Mit peinlicher Genauigkeit führte sie über alle ihre Geschäfte Buch.
Georgiana saß auf einem Drehschemel vor dem Spiegel und frisierte sich. Dabei flocht sie sich künstliche Blumen und verblasste Federn, von denen sie eine ganze Menge in einer Kommode auf dem Dachboden gefunden hatte, in ihre Locken. Ich machte mein Bett, da ich von Bessie die strikte Anordnung erhalten hatte, damit fertig zu sein, bis sie wiederkam (Bessie zog mich jetzt häufig als eine Art Aushilfe zum Aufräumen, Staubwischen und ähnlichen Arbeiten im Kinderzimmer heran). Als ich die Bettdecke glattgestrichen und mein Nachthemd zusammengefaltet hatte, ging ich zur Fensternische, um ein paar Bilderbücher und Puppenhausmöbel, die dort herumlagen, wegzuräumen. Ein schroffer Befehl Georgianas, ihre Spielsachen nicht anzurühren (die winzigen Stühlchen und Spiegel, die zierlichen Teller und Tassen gehörten nämlich ihr), gebot meinem Tun Einhalt. Da ich keine andere Beschäftigung hatte, begann ich, die Eisblumen anzuhauchen, mit denen das Fenster überzogen war, und mir so ein freies Fleckchen zu schaffen, durch das ich in den Garten hinausschauen konnte, wo unter dem strengen Frost alles still und erstarrt dalag.
Von diesem Fenster aus konnte man das Pförtnerhäuschen und die Auffahrt zum Haus sehen, und gerade als mein warmer Atem so viel von dem silbrig-weißen Blattwerk, das die Scheiben verschleierte, aufgelöst hatte, dass ich draußen etwas erkennen konnte, sah ich, wie das Tor geöffnet wurde und ein Wagen hindurchrollte. Teilnahmslos beobachtete ich, wie er den Kiesweg heraufkam: Es fuhren oft Kutschen in Gateshead vor, aber noch keine hatte Besucher gebracht, die mich interessierten. Der Wagen hielt vor dem Haus, die Türglocke ertönte laut, und der Ankömmling wurde eingelassen. Da mir all dies recht gleichgültig war, wurde meine müßige Aufmerksamkeit bald vom Anblick eines kleinen, hungrigen Rotkehlchens angezogen, das sich laut piepsend auf den neben dem Fenster an der Hauswand festgebundenen Zweigen des kahlen Kirschbaums niedergelassen hatte. Die Reste meines Frühstücks, etwas Milch und Brot, standen noch auf dem Tisch. Ich zerkrümelte ein Stückchen Brot und mühte mich gerade ab, das Fenster hochzuschieben, um die Krumen draußen auf den Sims zu streuen, als Bessie ins Kinderzimmer gestürzt kam.
»Miss Jane, ziehen Sie die Schürze aus. Was tun Sie denn da? Haben Sie sich heute Morgen Gesicht und Hände gewaschen?«
Ich zerrte noch einmal am Fenster, ehe ich antwortete, denn ich wollte, dass das Vögelchen sein Brot bekam: Der Riegel gab nach, ich streute die Krumen hinaus – ein paar auf den Sims, ein paar auf den Ast des Kirschbaums. Dann schloss ich das Fenster und erwiderte:
»Nein, Bessie, ich bin eben erst mit Staubwischen fertig geworden.«
»Sie nichtsnutziges, nachlässiges Kind! Was tun Sie denn nun schon wieder? Sie haben ja einen ganz roten Kopf, grad so, als hätten Sie etwas angestellt. Wozu haben Sie eigentlich eben das Fenster aufgemacht?«
Die Antwort blieb mir erspart, denn Bessie schien es viel zu eilig zu haben, um sich irgendwelche Erklärungen anzuhören. Sie zog mich unsanft zum Waschtisch und schrubbte mir Gesicht und Hände erbarmungslos, aber zum Glück nur kurz mit Seife, Wasser und einem rauen Handtuch ab, bändigte mein Haar mit einer Borstenbürste und streifte mir die Schürze ab. Dann schob sie mich in aller Eile auf den Treppenabsatz hinaus und befahl mir, sofort nach unten zu gehen, da ich im Frühstückszimmer erwartet würde.
Ich wollte fragen, wer nach mir verlangte – wollte wissen, ob Mrs. Reed auch dort war, doch Bessie war schon wieder im Kinderzimmer verschwunden und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Langsam ging ich die Treppe hinunter. Seit fast drei Monaten war ich kein einziges Mal zu Mrs. Reed gerufen worden, und da ich mich während dieser Zeit nur im Kinderzimmer hatte aufhalten dürfen, waren Frühstücks-, Speise- und Wohnzimmer für mich zu furchterregenden Orten geworden. Schon der Gedanke, sie aufsuchen zu müssen, versetzte mich in Angst und Schrecken.
Schließlich erreichte ich die leere Eingangshalle; vor mir befand sich die Tür zum Frühstückszimmer; verängstigt und zitternd blieb ich davor stehen. Zu welch einem erbärmlichen kleinen Feigling hatte mich die Furcht vor ungerechtfertigter Bestrafung damals gemacht! Ich traute mich nicht, ins Kinderzimmer zurückzugehen, und fürchtete mich, den Raum vor mir zu betreten. Unschlüssig und aufgeregt stand ich zehn Minuten da. Das energische Klingeln der Frühstückszimmerglocke ließ mir keine andere Wahl: ich musste hinein.
›Wer kann mich bloß sprechen wollen?‹, fragte ich mich, während ich mit beiden Händen den Türknauf drehte, der meinen Bemühungen ein, zwei Sekunden lang widerstand. Wen würde ich außer Tante Reed drinnen antreffen – einen Mann oder eine Frau?
Der Knauf bewegte sich, die Tür sprang auf, und als ich mit einem tiefen Knicks eintrat, blickte ich – an einer schwarzen Säule empor! So zumindest kam mir im ersten Augenblick die kerzengerade, schmale, schwarzgekleidete Gestalt vor, die sich aufrecht auf dem Teppich erhob; das grimmige Gesicht hoch oben sah aus wie eine in Stein gehauene Maske, die gleichsam als Kapitell über dem Säulenschaft angebracht war.
Mrs. Reed saß auf ihrem gewohnten Platz am Kamin; sie gab mir ein Zeichen, näher zu treten. Ich gehorchte, und sie stellte mich dem wie versteinert dastehenden Fremden mit den Worten vor: »Das ist die Kleine, derentwegen ich mich an Sie gewandt habe.«
Er – denn es war ein Mann – drehte den Kopf langsam der Stelle zu, wo ich stand, und nachdem er mich mit seinen forschenden grauen Augen, die unter einem Paar buschiger Brauen hervorblinzelten, eingehend gemustert hatte, sagte er ernst und würdevoll mit tiefer Stimme: »Sie ist klein. Wie alt ist sie?«
»Zehn Jahre.«
»So alt schon?«, war die zweifelnde Antwort, und er setzte seine Musterung noch einige Minuten lang fort. Dann wandte er sich an mich:
»Dein Name, meine Kleine?«
»Jane Eyre, Sir.«
Während ich dies sagte, blickte ich zu ihm auf; er kam mir sehr groß vor, aber ich war ja auch noch recht klein. Er hatte grobe Gesichtszüge, die, wie alles an ihm, streng und steif wirkten.
»Nun, Jane Eyre, bist du denn auch ein artiges Kind?«
Diese Frage konnte ich unmöglich mit Ja beantworten, denn in meiner kleinen Welt waren alle ganz anderer Meinung; also schwieg ich. Mrs. Reed antwortete für mich mit einem vielsagenden Kopfschütteln und fügte hinzu: »Je weniger Worte man darüber verliert, desto besser ist es wohl, Mr. Brocklehurst.«
»Es tut mir wirklich leid, das zu hören! Ich werde mich ein wenig mit ihr unterhalten müssen.« Er gab seine senkrechte Haltung auf und nahm in einem Lehnstuhl gegenüber von Mrs. Reed Platz. »Komm hierher«, forderte er mich auf.
Ich schritt über den Teppich, und er stellte mich gerade und ordentlich vor sich hin. Was für ein Gesicht er hatte! Nun, da es sich auf nahezu gleicher Höhe mit dem meinen befand, konnte ich es ganz deutlich sehen. Welch riesige Nase! Was für einen Mund! Und was für große, vorstehende Zähne!
»Es gibt keinen betrüblicheren Anblick als den eines ungezogenen Kindes«, begann er, »und besonders eines ungezogenen kleinen Mädchens. Weißt du, wohin die bösen Menschen nach ihrem Tod kommen?«
»Sie kommen in die Hölle«, war meine prompte und orthodoxe Antwort.
»Und was ist die Hölle? Kannst du mir das sagen?«
»Ein Abgrund voller Feuer.«
»Und möchtest du in diesen Abgrund fallen und auf immer und ewig darin brennen?«
»Nein, Sir.«
»Was musst du tun, um das zu vermeiden?«
Ich überlegte einen Augenblick; die Antwort, die ich dann gab, war verwerflich und anfechtbar: »Ich muss gesund bleiben und darf nicht sterben.«
»Wie willst du es denn anstellen, immer gesund zu bleiben? Täglich sterben Kinder, die jünger sind als du. Erst vor ein, zwei Tagen habe ich ein fünfjähriges Kind begraben – ein braves kleines Kind, dessen Seele jetzt im Himmel ist. Es steht zu befürchten, dass man von dir nicht das Gleiche sagen könnte, würdest du heute von hier abberufen.«
Da ich nicht in der Lage war, seine Zweifel zu zerstreuen, senkte ich nur meinen Blick und betrachtete die beiden großen Füße, die wie angewurzelt vor mir auf dem Teppich standen; dabei seufzte ich und wünschte mich weit, weit weg.
»Ich hoffe, dieser Seufzer kommt von Herzen und du bereust, deiner vortrefflichen Wohltäterin jemals Anlass zu Sorge und Verdruss gegeben zu haben.«
›Wohltäterin! Wohltäterin!‹, entrüstete ich mich innerlich. ›Alle nennen Mrs. Reed meine Wohltäterin; wenn sie das wirklich ist, dann ist eine Wohltäterin etwas Widerwärtiges.‹
»Sprichst du auch morgens und abends deine Gebete?«, setzte mein Befrager das Verhör fort.
»Ja, Sir.«
»Liest du in deiner Bibel?«
»Manchmal.«
»Gern? Bereitet es dir Freude?«
»Ich mag die Offenbarung und das Buch Daniel, auch die Schöpfungsgeschichte und Samuel und ein bisschen vom Auszug aus Ägypten und ein paar Kapitel aus den Königsbüchern und den Chroniken und Hiob und Jonas.«
»Und die Psalmen? Die magst du doch hoffentlich auch?«
»Nein, Sir.«
»Nein? Das ist ja unerhört! Ich habe einen kleinen Jungen, der ist jünger als du und kann schon sechs Psalmen auswendig; und wenn man ihn fragt, ob er lieber eine Pfeffernuss haben oder einen Vers aus den Psalmen lernen möchte, dann antwortet er: ›Oh, einen Psalmvers lernen! Engel singen Psalmen‹, sagt er, ›und ich möchte hier auf Erden ein Englein sein.‹ Dann bekommt er stets zwei Nüsse zur Belohnung für seine kindliche Frömmigkeit.«
»Die Psalmen sind nicht interessant«, bemerkte ich.
»Das beweist, dass du ein böses Herz hast. Du musst zu Gott beten und ihn bitten, es zu verwandeln, dir ein neues, reines zu schenken, dir dein Herz von Stein zu nehmen und dafür eines von Fleisch zu geben.«
Ich wollte gerade fragen, wie denn dieser Austausch meines Herzens vor sich gehen sollte, als Mrs. Reed das Wort ergriff und mir gebot, mich zu setzen; dann führte sie das Gespräch selbst weiter.
»Mr. Brocklehurst, ich glaube, ich habe in dem Brief, den ich Ihnen vor drei Wochen schrieb, bereits angedeutet, dass dieses kleine Mädchen nicht ganz den Charakter und die Anlagen besitzt, wie ich sie mir wünschen würde. Sollten Sie sie in Lowood aufnehmen, wäre es mir lieb, wenn Schulleiterin und Lehrpersonal angewiesen würden, ein wachsames Auge auf sie zu haben und sich vor allem vor ihrem schlimmsten Fehler, nämlich ihrer Neigung zu Falschheit und Hinterlist, in Acht zu nehmen. Ich sage das in deiner Gegenwart, Jane, damit du gar nicht erst versuchst, Mr. Brocklehurst etwas vorzumachen.«
Ich hatte wirklich allen Grund, Mrs. Reed zu fürchten und sie nicht zu mögen, lag es doch in ihrer Natur, mich stets aufs Neue grausam zu verletzen: nie war ich in ihrer Gegenwart glücklich gewesen. Wie eifrig ich auch gehorchte, wie sehr ich mich auch anstrengte, es ihr recht zu machen – immer wurden meine Bemühungen zurückgewiesen und mit Bemerkungen wie der obigen erwidert. Nun, da die Anschuldigung vor einem Fremden erhoben wurde, schnitt sie mir besonders tief ins Herz, und ich ahnte dunkel, dass meine Tante bereits im Begriff war, alle meine Hoffnungen zunichtezumachen, die ich an den vor mir liegenden neuen Lebensabschnitt knüpfte. Auch wenn ich das Gefühl nicht in Worte hätte fassen können, spürte ich doch, dass sie Abneigung und Lieblosigkeit auf meinen künftigen Weg säte; ich sah mich in Mr. Brocklehursts Augen als verschlagenes, verderbtes Kind gebrandmarkt, aber was konnte ich tun, um diese falsche Beschuldigung zu entkräften?
›Nichts, absolut nichts‹, dachte ich, während ich mich bemühte, ein Schluchzen zu unterdrücken, und hastig ein paar Tränen, ohnmächtige Zeugen meines Kummers, wegwischte.
»Falschheit ist in der Tat ein schlimmer Charakterfehler bei einem Kind«, erklärte Mr. Brocklehurst. »Sie ist mit der Unaufrichtigkeit eng verwandt, und das Los aller Lügner wird der Pfuhl sein, der von Feuer und Schwefel glüht. Man wird jedoch ein wachsames Auge auf sie haben, Mrs. Reed. Ich werde mit Miss Temple und den Lehrerinnen sprechen.«
»Ich möchte, dass sie ihrer künftigen Stellung entsprechend erzogen wird«, fuhr meine Wohltäterin fort, »also zu Nützlichkeit und Demut. Was die Ferien anlangt, so wird sie sie, mit Ihrer Erlaubnis, immer in Lowood verbringen.«
»Ihre Entscheidungen sind außerordentlich weise und umsichtig, gnädige Frau«, erwiderte Mr. Brocklehurst. »Demut ist eine christliche Tugend, die den Schülerinnen von Lowood in besonderem Maße ansteht; deshalb habe ich auch angeordnet, dass besondere Sorgfalt darauf verwandt wird, sie bei ihnen zu entwickeln und zu fördern. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie man am besten das weltliche Gefühl des Stolzes in ihnen abtötet, und vor ein paar Tagen erst erhielt ich einen erfreulichen Beweis für den Erfolg meiner Methode. Meine zweitälteste Tochter, Augusta, stattete mit ihrer Mama der Schule einen Besuch ab, und bei ihrer Rückkehr rief sie begeistert: ›Ach, lieber Papa, wie schlicht und sittsam sehen die Mädchen in Lowood doch aus! Mit ihrem glatt nach hinten gekämmten Haar, ihren langen Schürzen und diesen außen an ihren Kitteln befestigten Leinentaschen wirken sie fast wie armer Leute Kinder. Und‹, fügte sie hinzu, ›sie starrten meine und Mamas Kleider an, als hätten sie noch nie ein Seidenkleid gesehen.‹«
»Dies entspricht genau meinen Vorstellungen«, erklärte Mrs. Reed. »Ich hätte wohl in ganz England keine Schule finden können, die für ein Kind wie Jane Eyre geeigneter wäre. Konsequenz, mein lieber Mr. Brocklehurst – ich bin für Konsequenz in allen Dingen.«
»Konsequenz, gnädige Frau, ist die erste Christenpflicht, und dieser Grundsatz wird in allen Anordnungen, die die Anstalt zu Lowood betreffen, befolgt: Einfache Kost, schlichte Kleidung, schmucklose Unterkünfte, abhärtende und zu Fleiß erziehende Betätigungen kennzeichnen das Leben im Haus und seiner Bewohnerinnen.«
»Ganz recht, Sir. Ich kann mich also darauf verlassen, dass dieses Kind als Schülerin in Lowood aufgenommen und dort seiner Stellung und seinen Aussichten entsprechend erzogen wird?«
»Das können Sie, gnädige Frau. Sie soll in diesem Gewächshaus ausgesuchter Pflanzen untergebracht werden, und ich hoffe sehr, dass sie sich für den unschätzbaren Vorzug, zum Kreis der Auserwählten zu gehören, dankbar zeigen wird.«
»Dann will ich sie Ihnen so bald wie möglich schicken, Mr. Brocklehurst, denn ich versichere Ihnen, dass mir sehr daran liegt, endlich einer Verantwortung enthoben zu werden, die mir allmählich recht lästig geworden ist.«
»Ohne Zweifel, gnädige Frau, ohne Zweifel. Und nun wünsche ich Ihnen einen guten Morgen. Ich werde erst im Lauf von ein, zwei Wochen nach Brocklehurst Hall zurückkehren; mein guter Freund, der Archidiakon, wird mich gewiss nicht eher weglassen. Ich werde aber Miss Temple benachrichtigen, dass sie ein neues Mädchen zu erwarten hat. Dann wird es keinerlei Schwierigkeiten mit der Aufnahme geben. Guten Tag.«
»Leben Sie wohl, Mr. Brocklehurst. Empfehlen Sie mich bitte Mrs. und Miss Brocklehurst und Augusta und Theodor und auch Master Broughton Brocklehurst.«
»Das werde ich, gnädige Frau. Und hier, kleines Mädchen, ist ein Buch für dich mit dem Titel Wegweiser für das Kind. Lies es beim Gebet, besonders den Abschnitt, der ›vom so entsetzlich plötzlichen Tod von Martha G –, einem ungezogenen Kind, das zu Falschheit und Hinterlist neigte‹, handelt.«
Mit diesen Worten überreichte mir Mr. Brocklehurst eine dünne, in einen Umschlag geheftete Schrift. Dann ließ er seinen Wagen vorfahren und ging.
Mrs. Reed und ich blieben allein zurück. Einige Minuten lang herrschte Schweigen. Sie nähte, und ich beobachtete sie. Mrs. Reed mochte damals etwa sechs- oder siebenunddreißig gewesen sein. Sie war eine stämmige, breitschultrige Frau mit kräftigen Gliedmaßen, nicht sehr groß und, obgleich korpulent, keineswegs dick; sie hatte ein etwas breites Gesicht, der Unterkiefer war stark ausgeprägt und wirkte recht gedrungen; ihre Stirn war niedrig, das Kinn breit und vorstehend; Mund und Nase waren ziemlich regelmäßig; unter ihren hellen Augenbrauen schimmerten zwei erbarmungslose Augen; ihre Haut war dunkel und stumpf, ihr Haar beinahe flachsfarben. Sie war kerngesund, Krankheit kannte sie nicht. Sie war eine gewissenhafte und tüchtige Wirtschafterin, die Haushalt und Pächter gleichermaßen fest im Griff hatte; einzig und allein ihre Kinder widersetzten sich zuweilen ihrer Autorität und machten sich über sie lustig. Sie kleidete sich stets geschmackvoll, und sowohl ihr Äußeres als auch ihr Auftreten waren dazu angetan, ihre elegante Kleidung noch besser zur Geltung zu bringen.
Ich saß nur wenige Schritte von ihrem Lehnstuhl entfernt auf einem niedrigen Schemel und betrachtete eingehend ihre Gestalt, studierte ihre Züge. In der Hand hielt ich das Büchlein mit der Geschichte vom plötzlichen Tod der Lügnerin, die als geziemende Warnung meiner besonderen Aufmerksamkeit anempfohlen worden war. Was eben geschehen war, was Mrs. Reed Mr. Brocklehurst über mich erzählt hatte, der ganze Tenor ihrer Ausführungen brannten wie eine frische offene Wunde in mir, denn so deutlich, wie ich jedes ihrer Worte vernommen hatte, so stechend war auch der Schmerz gewesen, den ich dabei verspürt hatte, und nun wüteten leidenschaftliche Rachegedanken in mir.
Mrs. Reed sah von ihrer Arbeit auf; unsere Blicke trafen sich, und gleichzeitig hielten ihre Finger in ihren flinken Bewegungen inne.
»Verlass den Raum! Geh wieder ins Kinderzimmer zurück«, lautete ihr Befehl. Sie muss meinen Gesichtsausdruck oder sonst etwas an mir als feindselig oder beleidigend empfunden haben, denn aus ihrer Stimme klang nur mühsam unterdrückter Zorn. Ich stand auf; ich ging zur Tür; kam wieder zurück; durchquerte das Zimmer; trat kurz ans Fenster und stellte mich schließlich direkt vor sie hin.
Ich musste einfach sprechen: Man hatte mich übel behandelt, und ich musste endlich einmal zurückschlagen. Aber wie? Welche Möglichkeit hatte ich denn, um mich an meiner Widersacherin zu rächen? Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und schleuderte ihr in schonungsloser Offenheit meine Meinung an den Kopf:
»Ich bin nicht falsch und verlogen. Wäre ich es, so würde ich behaupten, ich liebte Sie. Aber ich sage offen, dass ich Sie nicht liebe; ich verabscheue Sie mehr als irgendeinen anderen Menschen auf der Welt – ausgenommen John Reed. Und dieses Buch über die Lügnerin sollten Sie lieber Ihrer Tochter Georgiana geben, denn die lügt und nicht ich.«
Mrs. Reeds Hände lagen noch immer reglos auf ihrer Näharbeit, und auch ihr eisiger Blick war nach wie vor auf mich gerichtet.
»Hast du sonst noch etwas zu sagen?«, fragte sie in einem Ton, wie man ihn für gewöhnlich wohl eher einem erwachsenen Gegner als einem Kind gegenüber anschlägt.
Ihr Blick, ihre Stimme weckten in mir eine Abneigung, wie sie tiefer nicht hätte sein können. Von unbändiger Erregung ergriffen und am ganzen Körper zitternd fuhr ich fort:
»Ich bin froh, dass Sie nicht mit mir verwandt sind. Solange ich lebe, werde ich Sie nie wieder Tante nennen. Ich werde Sie nie besuchen kommen, wenn ich erwachsen bin; und sollte mich jemand fragen, ob ich Sie mag und wie Sie mich behandelt haben, so werde ich sagen, dass mir schon übel wird, wenn ich nur an Sie denke, und dass Sie mich mit erbärmlicher Grausamkeit behandelt haben.«
»Wie kannst du es wagen, so etwas zu behaupten, Jane Eyre?«
»Wie ich es wagen kann, Mrs. Reed? Wie ich es wagen kann? Weil es die Wahrheit ist. Sie glauben, ich habe keine Gefühle und kann ohne alle Zuneigung und Freundlichkeit auskommen. Aber ich kann so nicht leben, und Sie haben kein Mitleid. Bis an mein Lebensende werde ich nie vergessen, wie Sie mich in das Rote Zimmer zurückgestoßen – roh und grob zurückgestoßen – und mich wieder eingeschlossen haben, obwohl ich Todesqualen litt, obwohl ich vor Angst fast umkam und Sie unter Tränen anflehte: ›Haben Sie Erbarmen! Haben Sie Erbarmen, Tante Reed!‹ Und diese Bestrafung haben Sie mir auferlegt, weil Ihr niederträchtiger, missratener Sohn mich geschlagen hat – mich grundlos zu Boden geschlagen hat. Jedem, der mich fragt, werde ich das erzählen. Man hält Sie für eine gute Frau, aber Sie sind böse und hartherzig. Sie sind falsch und verlogen.«
Noch ehe ich mit meiner Antwort zu Ende war, wurde mir ganz leicht ums Herz. Ich verspürte ein seltsames Gefühl der Befreiung, des Triumphes, ein Frohlocken, wie ich es noch nie gekannt hatte. Mir war, als sei eine unsichtbare Kette zersprungen, als hätte ich nach langem, mühsamem Kampf unverhoffte Freiheit errungen. Und nicht ohne Grund war dieses Gefühl in mir erwacht, denn Mrs. Reed sah ganz erschrocken aus. Ihre Handarbeit war von ihrem Schoß auf den Boden geglitten; sie erhob die Hände, wiegte sich hin und her und verzog sogar das Gesicht, als wollte sie weinen.
»Du irrst dich, Jane. Was ist nur los mit dir? Warum zitterst du so? Möchtest du einen Schluck Wasser?«
»Nein, Mrs. Reed.«
»Möchtest du sonst irgendetwas, Jane? Ich versichere dir, ich möchte dir gern eine Freundin sein.«
»Sie? Niemals! Sie haben Mr. Brocklehurst gesagt, ich hätte einen schlechten Charakter, neigte zu Falschheit und Hinterlist; aber ich werde allen in Lowood erzählen, wie Sie sind und was Sie getan haben.«
»Das sind Dinge, die du nicht verstehst, Jane! Kinder müssen nun einmal für ihre Fehler getadelt und bestraft werden.«
»Ich bin aber nicht verlogen!«, stieß ich aufgebracht und schrill hervor.
»Aber du bist unbeherrscht und jähzornig, Jane, das musst du doch zugeben. Und jetzt, mein liebes Kind, geh ins Kinderzimmer zurück und leg dich ein wenig hin.«
»Ich bin nicht Ihr liebes Kind; und hinlegen kann ich mich jetzt nicht. Schicken Sie mich bald zur Schule, Mrs. Reed – ich hasse es, hier zu leben.«
»Ich werde sie wirklich bald zur Schule schicken!«, murmelte Mrs. Reed leise vor sich hin. Dann raffte sie ihr Nähzeug zusammen und verließ hastig das Zimmer.
Ich blieb allein zurück – als Siegerin. Es war die schwerste Schlacht gewesen, die ich je geschlagen, der erste Sieg, den ich errungen hatte. Eine Weile lang blieb ich auf dem Teppich stehen, dort, wo Mr. Brocklehurst gestanden hatte, und genoss meinen einsamen Triumph. Anfangs lächelte ich mir selbst zu und fühlte mich in gehobener Stimmung, doch dieses ungestüme Hochgefühl ließ ebenso rasch nach wie das beschleunigte Pochen meines Pulses. Ein Kind kann nicht mit Erwachsenen streiten, so wie ich es getan hatte; es kann nicht einfach, wie ich eben, seiner Wut freien Lauf lassen, ohne gleich darauf Gewissensbisse und beklemmende Ernüchterung zu empfinden. Ein brennender Bergrücken, auf dem die Flammen im trockenen Heidekraut stets neue Nahrung finden und helllodernd und unersättlich immer weiter um sich greifen, wäre ein treffendes Bild für meine Gemütsverfassung gewesen, in der ich Mrs. Reed anklagte und bedrohte; der gleiche Bergrücken nach Erlöschen des Feuers, schwarz und verkohlt, hätte ebenso treffend die Stimmung wiedergegeben, die sich meiner bemächtigte, als mir nach einer halben Stunde stillen Nachdenkens klar wurde, wie unsinnig ich mich betragen hatte und wie trostlos meine Lage war, umgeben von Menschen, die mich ebenso hassten wie ich sie.
Zum ersten Mal hatte ich ein wenig Rache gekostet. Wie würziger Wein war sie mir beim ersten Schluck erschienen, warm und anregend; ihr Nachgeschmack aber, metallisch und ätzend, ließ in mir ein Gefühl aufsteigen, als sei ich vergiftet worden. Am liebsten wäre ich jetzt zu Mrs. Reed gegangen und hätte sie um Verzeihung gebeten, doch teils aus Erfahrung, teils instinktiv wusste ich, dass sie mich dann nur mit doppelter Verachtung zurückgestoßen und damit erneut alle aufrührerischen Regungen in mir entfacht hätte.
Wie gern hätte ich bessere Fähigkeiten besessen als die Gabe, ungestüme und hitzige Reden zu führen, wie gern ein weniger grimmiges Gefühl in mir genährt als finstere Empörung! Ich nahm ein Buch zur Hand – es waren arabische Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Ich setzte mich hin und versuchte zu lesen, doch ich vermochte den Geschichten keinen Sinn abzugewinnen; meine eigenen Gedanken drängten sich immer wieder in den Vordergrund und ließen den Text, der mich sonst so fesselte, vor meinen Augen verschwimmen. Ich öffnete die Glastür, die vom Frühstückszimmer ins Freie führte: Draußen herrschte strenger Frost, den kein Sonnenstrahl, kein Luftzug milderte; Büsche und Sträucher lagen ruhig und friedlich vor mir. Ich bedeckte Kopf und Arme mit meinem Rock und ging hinaus, um in einem recht abgelegenen Teil des Gartens ein wenig spazieren zu gehen. Aber ich fand keine Freude an den stillen Bäumen, den fallenden Tannenzapfen, den erstarrten Überresten des Herbstes, diesen Haufen rotgelber Blätter, die der Wind vor dem Frosteinbruch aufgetürmt hatte und die nun steinhart gefroren waren. Ich lehnte mich an eine Pforte und blickte auf ein leeres Feld hinaus, auf dem keine Schafe mehr weideten und der Raureif die kurzen Grasstoppeln weiß gefärbt hatte und absterben ließ. Es war ein sehr grauer Tag. Über allem erstreckte sich ein düsterer Himmel, über den dunkle Schneewolken zogen. Hie und da fielen auch schon ein paar Flocken, die auf dem gefrorenen Weg und der weißschimmernden Wiese liegen blieben. Unglücklich und elend stand ich da, und immer wieder flüsterte ich verzweifelt vor mich hin: ›Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun?‹
Plötzlich hörte ich eine helle Stimme rufen: »Miss Jane, wo sind Sie? Kommen Sie zum Mittagessen.«
Es war Bessie, das wusste ich wohl; dennoch rührte ich mich nicht. Mit leichtem Schritt kam sie den Gartenweg herunter.
»Sie ungezogenes kleines Ding!«, schalt sie. »Warum kommen Sie nicht, wenn man Sie ruft?«
Im Vergleich zu meinen Grübeleien erschien mir Bessies Gegenwart geradezu ein erfreulicher Lichtblick, obwohl sie, wie so oft, etwas verärgert war. Tatsächlich war ich nach meiner Auseinandersetzung mit Mrs. Reed und meinem Sieg über sie nicht mehr gewillt, mich vom vorübergehenden Unmut des Kindermädchens allzu sehr einschüchtern zu lassen; an ihrer jugendlichen Unbeschwertheit aber wollte ich mich gern wärmen. Ich schlang einfach meine Arme um sie und sagte: »Ach, Bessie, so schimpf doch nicht mit mir!«
Mein Verhalten war freier und furchtloser als gewöhnlich, und irgendwie schien ihr das zu gefallen.
»Sie sind ein seltsames Kind, Miss Jane«, sagte sie und blickte auf mich herunter. »Ein unberechenbares, einsames Ding! Und jetzt sollen Sie wohl auf eine Schule geschickt werden?«
Ich nickte.
»Wird es Ihnen gar nicht leidtun, die arme Bessie zu verlassen?«
»Was macht Bessie sich denn schon aus mir? Sie zankt mich ja doch nur immer aus.«
»Weil Sie so ein sonderbares, verängstigtes, schüchternes kleines Ding sind. Sie sollten beherzter sein.«
»Was? Damit ich noch mehr Schläge bekomme?«
»Unsinn! Aber leicht haben Sie’s nicht, das stimmt schon. Als mich meine Mutter letzte Woche besuchte, sagte sie, sie möchte keines ihrer Kinder an Ihrer Stelle sehen. Nun kommen Sie aber mit hinein; ich habe gute Nachrichten für Sie.«
»Das glaube ich nicht, Bessie.«
»Aber Kind! Was soll das nun wieder heißen? Wie traurig Sie mich ansehen! Nun, die Gnädige ist heute Nachmittag mit den jungen Damen und Master John zum Tee eingeladen, und wir beide, wir werden hier zusammen Tee trinken. Ich werde die Köchin bitten, Ihnen einen kleinen Kuchen zu backen, und danach können Sie mir helfen, Ihre Schubladen durchzusehen, denn ich muss bald Ihre Koffer packen. Mrs. Reed wünscht, dass Sie Gateshead in ein bis zwei Tagen verlassen, und Sie sollen sich die Spielsachen aussuchen, die Sie mitnehmen möchten.«
»Bessie, du musst mir versprechen, nicht mehr mit mir zu schimpfen, solange ich noch hier bin.«
»Gut, ich verspreche es; aber Sie müssen auch ganz artig sein und dürfen keine Angst vor mir haben. Zucken Sie nicht immer gleich zusammen, wenn ich einmal etwas heftiger werde: das bringt mich nämlich erst richtig auf.«
»Ich glaube nicht, dass ich vor dir jemals wieder Angst haben werde, Bessie, denn an dich habe ich mich gewöhnt; und bald wird es eine ganze Reihe andrer Leute geben, vor denen ich mich fürchten muss.«
»Wenn Sie sich vor ihnen fürchten, werden sie Sie nicht mögen.«
»So wie du mich auch nicht magst, Bessie?«
»Ich hab Sie doch gern, Miss; ich glaube, ich mag Sie sogar lieber als alle anderen hier.«
»Das lässt du dir aber nicht anmerken.«
»Sie bissiges kleines Ding! Das sind ja ganz neue Töne, die man da von Ihnen hört. Was macht Sie denn heute so kühn und verwegen?«
»Nun, ich werde ja bald fort sein und außerdem –« Ich war drauf und dran zu erzählen, was zwischen Mrs. Reed und mir vorgefallen war, aber dann erschien es mir doch besser, über diesen Punkt Schweigen zu bewahren.
»Dann sind Sie also froh, mich zu verlassen?«
»Nein, Bessie, ganz und gar nicht; im Augenblick tut es mir sogar fast leid.«
»Im Augenblick! Und fast! Wie kühl die kleine Dame das sagt! Ich glaube gar, Sie würden es ablehnen, mir einen Kuss zu geben, wenn ich Sie jetzt darum bäte, und sagen: fast lieber nicht.«
»Ich will dir aber einen Kuss geben, sehr gern sogar. Du musst mir nur ein bisschen entgegenkommen.«
Bessie beugte sich zu mir herunter; wir umarmten einander, und dann folgte ich ihr völlig getröstet ins Haus. Der Nachmittag verstrich in Frieden und Eintracht; und am Abend erzählte mir Bessie ein paar von ihren packendsten Geschichten und sang mir ihre süßesten Lieder vor. Selbst in mein Leben fielen zuweilen ein paar Sonnenstrahlen.