Читать книгу Die großen Romane der Schwestern Brontë - Anne Bronte, Anne Brontë, The Bronte Sisters - Страница 34

Nachwort

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Agnes Grey von Anne Brontë erschien im Dezember 1847 unter dem Pseudonym Acton Bell, gemeinsam mit dem zweibändigen Roman Wuthering Heights ihrer Schwester Emily (Pseudonym Ellis Bell). Vorausgegangen war die erste Veröffentlichung der Brontës überhaupt, eine von Charlotte (Currer Bell) 1846 herausgegebene Auswahl von Gedichten aller drei Schwestern, die auf relativ geringe Resonanz stieß und ein kommerzieller Misserfolg wurde, dennoch aber für sie eine Ermutigung bedeutete, es nun mit dem ausführlicheren Genre des Romans zu versuchen. Die Wahl männlicher Vornamen stellte den Versuch dar, nicht dem damals üblichen Vorurteil weiblichen Autoren gegenüber ausgesetzt zu sein. Bereits 1845 findet sich in Annes Tagebuch die Notiz, sie habe mit dem dritten Teil von Passages in the Life of an Individual begonnen, einer Art Erfahrungsbericht, der zumindest zu großen Teilen die Grundlage für Agnes Grey bildete. Anne Brontë hatte ihr Thema also bereits vorliegen, als man gemeinsam beschloss, Romane zu schreiben, und sie, die stets im Schatten ihrer Schwestern stand, kann für sich in Anspruch nehmen, mit Agnes Grey vermutlich den ersten Roman in Haworth Parsonage verfasst und Stoff und Anregungen geliefert zu haben, die sowohl von Emily als auch von Charlotte teilweise aufgegriffen und verarbeitet wurden.

Da Agnes Grey gemeinsam mit Wuthering Heights erschien, haben die Kritiker beide Romane im Zusammenhang gesehen und beurteilt. Annes Roman wurde häufig als eine Art Nachtrag oder Anhängsel von Wuthering Heights gewertet, als ein nettes, aber unbedeutendes kleines Werk abgetan, das, schlicht und aufrichtig erzählt, seine Veröffentlichung durchaus rechtfertige. Moniert wurde jedoch der unselige Hang der Bells, immer noch Akte physischer Gewalt detailliert und übertrieben zu beschreiben – bereits Wuthering Heights war wegen der schonungslosen Darstellung von Grausamkeit und Brutalität von vielen Kritikern als Verstoß gegen die Konvention gebrandmarkt worden –, was den Leser zwangsläufig abstoßen müsse. Diese Kritik, die sich zweifellos auf die Szene bezog, in der Agnes vor den Augen ihrer Zöglinge eine Schar junger Vögel tötet, um sie vor Quälereien zu bewahren, wies Anne Brontë im Vorwort zur 2. Auflage ihres zweiten und letzten Romans The Tenant of Wildfell Hall zurück. In dieser wie auch allen anderen Szenen des Buches habe sie die Wirklichkeit getreu und ohne Überzeichnung abgebildet.

Anne, die Unbekannteste der Brontë-Schwestern, wurde am 17. Januar 1820 als jüngstes von sechs Kindern geboren. Die außergewöhnlichen Lebensumstände, unter denen die Brontës aufwuchsen, haben in ihrem literarischen Werk deutlich Spuren hinterlassen, und die Berücksichtigung dieser besonderen Gegebenheiten erleichtert den Zugang zur gesamten Brontë-Literatur.

Der Vater, Patrick Brontë, Sohn eines irischen Bauern, wurde nach einem erfolgreich abgeschlossenen Studium in Cambridge Geistlicher in England. Im Jahre 1812 heiratete er Maria Branwell, die Tochter einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie aus Cornwall. Bis 1820 kamen sechs Kinder zur Welt, fünf Töchter und ein Sohn; kurz nach der Geburt der letzten Tochter übersiedelte die Familie nach Haworth in Yorkshire, wo Patrick Brontë eine Pfarrstelle erhalten hatte. In der Abgeschiedenheit dieser Moorlandschaft, wenig berührt von den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen ihrer Zeit, wuchsen die Brontë-Kinder auf, und hierhin kehrten alle auch im Erwachsenenalter nach jeder Abwesenheit zurück. Schon früh war ihr Leben von Sorge, Krankheit und Tod überschattet. Die Mutter starb bereits eineinhalb Jahre nach Annes Geburt, die ältesten Schwestern Maria und Elisabeth im Jahre 1825 an Schwindsucht. Nun übernahm Elizabeth Branwell, die Schwester Mrs. Brontës, die Haushaltsführung und die Erziehung der Kinder. Von allen mehr respektiert als geliebt, wandte sie ihre Zuneigung besonders Anne zu, da diese ihrer verstorbenen Mutter am meisten glich. Als strenge Methodistin verstand sie es, in Anne ein Gefühl der Sündhaftigkeit und Schuld zu wecken, mit dem diese ein Leben lang nicht fertig werden sollte. Allen Brontës war ein Hang zur Melancholie eigen, ob er nun aus der zweifach keltischen Abstammung (Irland/Cornwall) herrührte, der klaustrophobischen Enge des Pfarrhauses, der düsteren Umgebung des Moorlands oder der Tatsache, dass sie mutterlos aufwuchsen. Keiner von ihnen jedoch besaß die tiefe Religiosität Annes. Das Familienleben wurde vom Beruf des Vaters bestimmt, der die Möglichkeiten eines gesellschaftlichen Austauschs stark einschränkte. Die geringen Kontakte zur Außenwelt bewirkten den engen Zusammenhalt der Kinder untereinander, die sich gegenseitig ein Gefühl von Geborgenheit, Liebe und Wertschätzung vermittelten. Früh sich selbst überlassen, suchten sie ihre eigenen Wege aus der Isolation; sie lasen viel (die Bibel, Magazine und religiöse Zeitschriften ihrer Tante, die Werke von Scott, Byron und Shakespeare), und das Erfinden und Erzählen von Geschichten gehörte zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Mit dem Schreiben begannen sie, als der Vater den Kindern eines Tages ein paar hölzerne Soldatenfiguren mitbrachte. Um diese Holzfiguren ließen sie in ihrer Phantasie eine Scheinwelt erstehen, eine Gegenwelt zu ihrer eigenen Realität, »Angria« genannt. Jahre später schufen Emily und Anne, die sich besonders nahestanden, ihre eigene Phantasiewelt, Gondal, zwar im Südpazifik angesiedelt, aber mit eindeutigen Zügen der Heidelandschaft um Haworth ausgestattet, die beide regelmäßig zusammen durchstreiften.

In der Zeit zwischen 1835 und 1845 unternahmen alle Brontë-Schwestern mehrere Versuche, ihren Unterhalt als Lehrerin bzw. Gouvernante zu verdienen. Nach einer ersten Anstellung im April 1839 bei der Familie Ingham in Blake Hall, Mirfield, die sie bereits im Dezember des gleichen Jahres wieder aufgab, arbeitete Anne von 1840–45 bei der aristokratischen Familie Robinson in Thorp Green, hatte also Gelegenheit, ein ihr völlig neues soziales Umfeld kennenzulernen. Dorthin folgte ihr 1843 der bis dahin relativ erfolglose, labile Bruder Branwell, um eine Stelle als Hauslehrer des Sohnes der Familie anzutreten. Seine mutmaßliche Affäre mit der Frau des Hauses veranlasste Anne, Thorp Green von sich aus zu verlassen, bevor man ihrem Bruder kündigte. Trotz der unliebsamen Vorkommnisse unterhielt sie nach ihrem Weggang noch lange Zeit einen intensiven, fast täglichen Briefwechsel mit ihren ehemaligen Schülerinnen.

In der Pause zwischen ihren beiden Anstellungen fand die für sie bedeutsame Begegnung mit William Weightman, dem Hilfspfarrer ihres Vaters, statt. Anne verliebte sich in den zuvorkommenden, amüsanten jungen Mann, und obwohl Charlotte ihn schon bald als flatterhaft und eitel einstufte – offenbar verteilte er seine Gunst ziemlich gleichmäßig –, sollte Annes Idealisierung seiner Person zeitlebens anhalten. Begünstigt wurde diese beharrliche, wenn auch nie offen ausgesprochene Verehrung durch seinen frühen Tod; er starb 1842 mit sechsundzwanzig Jahren während Annes Aufenthalt in Thorp Green.

Das Jahr 1845 sah alle Geschwister wieder vereint im Pfarrhaus von Haworth. Nach dem Tod der Tante galt nun die ganze Sorge dem Vater und dem sich zusehends verschlechternden Zustand des drogen- und alkoholabhängigen Bruders. Während dieser kritischen Phase deprimierender Erfahrungen wandten sich die Schwestern verstärkt dem Schreiben zu; die zufällige Entdeckung einiger Gedichte Emilys durch Charlotte führten zu der oben erwähnten ersten Veröffentlichung, zu der Anne einundzwanzig Gedichte beisteuerte. Nach Agnes Grey schrieb sie The Tenant of Wildfell Hall (1848), in dem sie das Schicksal ihres Bruders verarbeitete; noch im Jahr der Veröffentlichung starb er, nur wenige Monate später gefolgt von Emily. Der Schmerz über den Verlust der Schwester, zu der sich Anne besonders hingezogen fühlte, verschlimmerte ihre eigene Krankheit. Bereits vom Tod gezeichnet, reiste sie in Begleitung Charlottes noch einmal nach York und an die Küste nach Scarborough, das sie besonders liebte und von dessen mildem Klima sie sich – und sei es in Form eines Wunders – eine letzte Chance der Besserung erhoffte. Doch sollten ihr nur wenige Tage bleiben; sie starb am 28. Mai 1849. Als Einzige der Brontës wurde sie nicht in Haworth, sondern auf dem Kirchhof von Scarborough beigesetzt.

In Agnes Grey schildert Anne Brontë den Werdegang einer armen Pfarrerstochter, die, nachdem der Vater sein kleines Vermögen verloren hat, beschließt, ihren Lebensunterhalt als Gouvernante zu verdienen, um zum Einkommen der Familie beizutragen. Ihre deprimierenden Erfahrungen macht sie in zwei sozial unterschiedlichen Bereichen: zunächst in einer Familie von reichen Emporkömmlingen mit gänzlich unerzogenen Kindern, wo man sie nach kurzer Zeit wegen Unfähigkeit entlässt; anschließend in einer Familie des Landadels, deren oberflächliche Lebensweise und Zielsetzungen sie abstoßen, wo sie dennoch mehrere Jahre aushält, um die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern nicht zu gefährden. Aufgewogen werden diese fast ausnahmslos negativen Erlebnisse durch ihre Liebe zu dem jungen Geistlichen Weston, den sie nach Überwindung einer Reihe von Hindernissen und Schicksalsschlägen heiratet.

Die Handlung ist keineswegs außergewöhnlich, und im Gegensatz zu den Romanen ihrer Schwestern ist es auch nicht die Handlung selbst, die die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich zieht. Ausschnittweise und an verschiedenen Personen stellt der Roman die Unzulänglichkeit der menschlichen Gesellschaft dar. Im Mittelpunkt stehen Demütigung und Isolation, die die Protagonistin während ihrer Tätigkeit als Erzieherin erleidet. Das Thema der Gouvernante, das im Viktorianismus häufig wiederkehrt, zeigt diese als ein Wesen ohne Identität, das in einem Vakuum zwischen Familie und Dienerschaft lebt, losgelöst von ihrer früheren Vergangenheit, die anstandshalber möglichst wenig erwähnt werden sollte; die damalige Middle Class sah Geldmangel und das Fehlen von Familie und guten Beziehungen als störend an: Gerade dies aber, persönliche Bedrängnis und die plötzliche Verschlechterung der privaten Lebensumstände waren die häufigsten Ursachen, die junge Frauen dazu zwangen, ihren Unterhalt bei Menschen zu verdienen, die ihnen im Allgemeinen sozial, moralisch und geistig fast immer unterlegen waren. Den Bezügen zu ihrer Vergangenheit beraubt, fehlte ihnen auch meist eine Zukunftsperspektive, da sie gänzlich anonym lebten, am gesellschaftlichen Leben nicht teilhatten und auf ihre berufliche Funktion der Kindererziehung reduziert waren.

Dass Anne Brontë eine Gouvernante zur Hauptfigur ihres ersten Romans machte, kann nicht verwundern, wenn man in Betracht zieht, dass Lehren und Lernen ein zentrales Thema im Pfarrhaus von Haworth war und alle Geschwister einen oder mehrere Versuche unternahmen, als Lehrer oder Erzieher zu arbeiten. Anne, die sich hierin als die Ausdauerndste und Beständigste erwies, hat ihre Erfahrungen in ihren Aufzeichnungen mit dem Titel Passages in the Life of an Individual festgehalten. Diese Passages gelten gemeinhin als Vorentwurf zu Agnes Grey, und tatsächlich laufen viele Phasen der Handlungsentwicklung mit dem Leben Annes parallel, decken sich Personen, Situationen, örtliche und zeitliche Details mit den Fakten ihrer Biografie. So ist es naheliegend, in den Bloomfields die Ingham-Familie in Blake Hall zu sehen, in der sie erste Erfahrungen als Erzieherin machte. Die Kinder im Roman haben fast das gleiche Alter wie die in der Realität, und zwei von ihnen tragen die gleichen Namen. Das Vorbild für die Murrays ist mit großer Wahrscheinlichkeit die Familie des Reverend Robinson aus Thorp Green bei York, das im Roman als O—— erscheint und ziemlich genau siebzig Meilen von Haworth entfernt liegt. Die exakte Erwähnung dieser siebzig Meilen und das Gefühl von Agnes, mit der Überwindung dieser Entfernung eine Welt zwischen sich und ihre Familie gelegt und sich gewissermaßen ins Exil begeben zu haben, erinnert an das Gedicht »Lines Written in Thorp Green«, das Anne Brontë unmittelbar nach dem Antritt ihrer Stellung bei den Robinsons schrieb und in dem sie ihrer Isolation melancholischen Ausdruck verlieh. In dem eleganten Badeort A——, in dem Agnes mit ihrer Mutter eine Schule gründet und in dem schließlich das Happyend stattfindet, lässt sich unschwer Scarborough erkennen, das Anne regelmäßig mit den Robinsons besuchte und wo sie starb und beerdigt wurde. Die Gestalt des Vikars Weston basiert höchstwahrscheinlich auf der realen Person William Weightmans; Anne Brontë beschränkte sich bei seiner Darstellung aber wohl mehr auf die ernsthaften Seiten seines Charakters. Dass sie in ihn verliebt war, wird von kaum einem ihrer Biographen bestritten, uneinig ist man sich allerdings über den Grad dieser Zuneigung. Immerhin scheint er der Anlass einiger ihrer Liebesgedichte gewesen zu sein, zum Beispiel des im Text vorkommenden »Oh, they have robbed me of the hope«, und sein früher Tod inspirierte sie zu den Gedichten, in denen sie den Verlust einer Liebe beklagt.

Doch auch wenn Agnes’ wachsende Desillusionierung und ihr Kampf um geistige Unabhängigkeit und Integrität in einer schwierigen Umwelt Anne Brontës eigene Probleme, Beobachtungen und Erfahrungen nachzeichnen, ist Agnes Grey von jedem spiegelbildlichen Autobiografismus weit entfernt. Die fiktionale Umsetzung wesentlicher Elemente ihres Lebens, einer ihr vertrauten Wirklichkeit, geschieht aus der Überzeugung heraus, dass dies den Wahrheitsgehalt ihrer dichterischen Aussage erhöht. Wahrheitstreue ist ein Schlüsselwort zu ihrem Werk, und der Nachdruck, mit dem sie die Pflicht zur Wahrheit betont, wirft ein Licht auf ihre Auffassung von der Aufgabe des Autors. »All true histories contain instruction« lautet der erste Satz von Agnes Grey, auf dessen Gehalt sie im Vorwort zur 2. Auflage des Tenant näher eingeht: »Truth always conveys its own moral to those who are able to receive it.« Dieses Vorwort enthält in wenigen Sätzen ihr literarisches Credo. Es ist nicht ihre Absicht, den Leser zu unterhalten oder ein vollkommenes Kunstwerk zu schaffen, sondern es geht ihr darum, die Realität wiederzugeben, wie unangenehm auch immer sie für das viktorianische Lesepublikum sein möge (»when I feel it my duty to speak an unpalatable truth, with the help of God, I will speak it, though it be to the prejudice of my name and to the detriment of my reader’s immediate pleasure as well as my own«). Allein durch die Darstellung der Wahrheit muss es gelingen, beim Leser Besserung zu bewirken, d. h., das Gewissen des Autors, seine moralische Verantwortlichkeit, sein Pflichtgefühl sind gefordert.

Anne Brontë, deren literarische Zielsetzung zweifellos auch ihrer religiösen Einstellung entspringt, lässt keinen Zweifel an ihrem Willen zu unbedingter Pflichterfüllung: »Such humble talents as God has given me I will endeavour to put to their greatest use.« Mit der Betonung der erzieherischen Wirkung ihres Romans knüpft sie an eine Tendenz des englischen Romans an, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts Tradition hat. Dahinter steht die Auffassung, das Leben als Verlängerung der Schule zu sehen, als eine Art ständiger geistiger und moralischer Erziehung und Entwicklung, bei der der Romanschriftsteller auf diese oder jene Weise Hilfestellung zu leisten hat (vgl. Austen, Scott, Thackeray, Dickens usw.). Diese Form der positiven Beeinflussung des Lesers versucht sie, in Agnes Grey fortzusetzen.

Die Wahl der Ich-Perspektive – die Titelheldin erzählt ihre Geschichte rückblickend einige Jahre nach ihrer Heirat ausschließlich von ihrem Standpunkt aus – dient dazu, den Eindruck von Authentizität zu erwecken. Das Ich ist doppelt anwesend: in der Form des erinnerten und des erinnernden Ich. Dieser Dualismus in der Figur der Erzählerin und Heldin verstärkt beim Leser die Illusion von Wahrheit; erhöht wird diese Illusion durch den chronologischen Ablauf, die Vergangenheitsform, die Erwähnung des Tagebuchs am Schluss und eine gewisse angestrebte Vertrautheit zwischen Erzählerin und Leser; denn Appelle an den Leser sind nicht selten. So heißt es zum Beispiel im 7. Kapitel: »As I cannot, like Dogberry, find it in my heart to bestow all my tediousness upon the reader […]« und an anderer Stelle: »I fear, by this time, the reader is well-nigh disgusted with the folly and weakness I have so freely laid before him«.

Vom ersten Satz des Romans an, in dem sie ihr Schreiben begründet und ihre Wertmaßstäbe setzt, richtet Anne Brontë ihr Augenmerk fest auf den Leser. Indem sie ihre Geschichte aus dem Blickwinkel eines weltfremden achtzehnjährigen Mädchens schildert, macht sie es dem Leser schwer, sich mit der Hauptfigur zu identifizieren, die zwar aufrichtig und offen ist, deren Jugend und offensichtliche Unerfahrenheit jedoch Zweifel an ihrer Urteilskraft aufkommen lassen. Die junge Erzieherin, die nur einen verengten Ausschnitt der Gesellschaft wiedergeben kann, aber allein aufgrund ihrer Position intime Kenntnisse von Personen und deren Verhaltensweisen hat, erhält Rückendeckung durch die Tagebuchschreiberin. Die zeitliche Distanz zwischen dem erzählenden und dem erlebenden Ich, die inzwischen gewonnene Reife, wecken Vertrauen im Leser; das Gesagte wird relativiert, die Ereignisse gewinnen an Glaubwürdigkeit.

Die Absicht des Romans und seine Erzähltechnik stehen in direktem Zusammenhang. Erzählt wird in einem zur Untertreibung neigenden, leidenschaftslosen Stil; die Schlichtheit der Sprache passt sich der Aufzählung der einfachen, unspektakulären Begebenheiten an. Selbst die raren einschneidenden Ereignisse, die für die Heldin mit großen Gemütsbewegungen verbunden sind, wie etwa der Tod des Vaters oder die Wiederbegegnung von Agnes und Weston am Strand von A––, werden äußerst zurückhaltend, weder melodramatisch noch mit Gefühlsüberschwang dargestellt. Die Erzählweise konzentriert sich strikt auf den Fortgang der Geschichte und lässt keine Sensationen zwischen den Leser und die Belange des Romans treten. Der nüchternen Art der Beschreibung entspricht die Präsentation der Romanfiguren, die nicht analysiert, sondern genau beobachtet und in geschickt gewählten Situationen vorgeführt werden. Neben dem lapidaren, oft lakonischen Erzählstil von Agnes benutzt Anne Brontë vor allem die Form des Dialogs, um die Mängel menschlichen Verhaltens anzuprangern. Die Personen und ihre Handlungsweisen sprechen für sich selbst und werden nur selten kommentiert.

Agnes steht nicht allein im Mittelpunkt des Interesses, ist nicht das absolute Zentrum des Romans. Ihre Funktion ist es auch, Personen und Geschehen zu verknüpfen und die Handlung weiterzuentwickeln. Die Ereignisse um Rosalie Murray sind ebenso wichtig, meist sogar aufregender als das, was Agnes widerfährt. An zahlreichen Stellen des Romans schaltet sich ein zweiter Erzähler ein. So erhält beispielsweise die Häuslerin Nancy Brown ausführlich Gelegenheit, die beiden Pfarrer Hatfield und Weston kontrastiv darzustellen und ihre eigenen seelischen Nöte zu beschreiben, und Rosalie darf sich in aller Länge und Weitschweifigkeit über den Antrag des armen Mr. Hatfield lustig machen. An beiden Gesprächen hat Agnes nur einen geringen Anteil in Form von kurzen Fragen und Antworten. Durch diese Dialoge wird der lineare Verlauf der Handlung unterbrochen, sachliche Information geliefert und mitunter auch eine Aussage über die seelische Gestimmtheit der Titelheldin gemacht. Letzterem Zweck dient die Unterhaltung mit Mr. Smith, dem Gemischtwarenhändler, die unmittelbar nach dem Abschied von ihrem harmonischen Zuhause und vor ihrem künftigen Aufenthalt bei den Bloomfields stattfindet und in der sie Mr. Smith’ sinnfällige Bemerkungen über das Wetter nur mit Mühe einsilbig beantworten kann.

Das Mittel, anhand von Kontrasten menschliches Verhalten aufzuzeigen, ist strukturbildendes Prinzip in Agnes Grey. Beide Familien, in denen sie arbeitet, und die Gesellschaft, in die sie eintritt, stehen in deutlichem Gegensatz zu ihrer eigenen Familie. (Agnes Grey ist übrigens der einzige aller Brontë-Romane, in dem die Hauptfigur ständig an ein glückliches Zuhause denkt und eine Mutter hat, die sie mit ihrem Rat begleitet.)

Agnes, die sich mit idealistischen Vorstellungen an ihre Aufgabe macht (»– Delightful task / To teach the young idea how to shoot!«, stößt schon bei den Bloomfields an ihre erzieherischen Grenzen. Ihre hochfliegenden Pläne geraten durch den Kontakt mit den gänzlich verzogenen Bloomfield-Kindern und ihren gefühllosen Eltern in Konflikt mit der Realität. Die Naivität ihrer Erziehungspläne – das Zurückgreifen auf die eigenen Kindheitserfahrungen erweist sich naturgemäß als nicht ausreichend –, zu weitgesteckte Ziele und eine wenig adäquate Ausbildung lassen ihr Scheitern jedoch vorausahnen. Allerdings übersteigt das Gebaren dieser Kinder jedes normale Maß, so dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass auch ein erfahrenerer Pädagoge hier keinen Erfolg gehabt hätte. Betonung liegt auf der Tatsache, dass die Kinder der Bloomfields die getreuen Abbilder ihrer Eltern sind und deren Schwächen und Defekte wiederholen. Maßlos verwöhnt von allen Erwachsenen ihrer Umgebung, können sie sich ungestraft jede Freiheit erlauben und werden in ihrem Fehlverhalten noch bestärkt. So wird Grausamkeit gegenüber Tieren entweder mit Beifall bedacht (s. Onkel Robson) oder gar als verbrieftes Recht des Menschen verteidigt. »You seem to have forgotten«, wird Agnes von Mrs. Bloomfield belehrt, »that the creatures were all created for our convenience«. Dies gibt Agnes Gelegenheit zu einem ihrer knappen, ironischen Kommentare, derenthalben man Anne Brontë häufig in die Nähe von Jane Austen gerückt hat: »I thought that doctrine admitted some doubt«.

Anne Brontë war der Überzeugung, dass das Verhalten Tieren gegenüber Rückschlüsse auf den Charakter eines Menschen zuließ. Entsprechend vollzieht sie auch an diesem Thema die Aufteilung ihrer Figuren in Gut und Böse. Onkel Robson tritt brutal seine Hunde, die Bloomfield-Kinder quälen Vögel und andere Tiere, Matilda Murray genießt es, ihren Hund einen jungen Hasen töten zu lassen, Mr. Hatfield versetzt Nancy Browns Katze einen Fußtritt und dem Terrier Schnapp einen Schlag mit dem Stock, als dieser ihn bei seinem Flirt mit Rosalie Murray stört. Auf der anderen Seite die Menschen, die Mitgefühl mit der Kreatur haben: Agnes selbst, Nancy und Mr. Weston, der erste Nancys Katze und dann Schnapp vor Unbill bewahrt – eine nicht unbedeutende Tat immerhin, denn dieser Hund sorgt schließlich für die Wiederbegegnung von Agnes und Weston am Strand von A—— und bringt damit das Denouement zustande.

Die Erziehungsmethoden, die Agnes anwendet und die einem Leser des 20. Jahrhunderts die Haare zu Berge stehen lassen, müssen auf dem Hintergrund der Zeit und auf Agnes’ unbedingtem Willen gesehen werden, ihren Zöglingen etwas beizubringen und ihnen die Verwerflichkeit ihres Tuns vor Augen zu führen. Denn nur ein Mensch, der gelernt hat, zwischen falsch und richtig zu unterscheiden, sich an festen Wertmaßstäben zu orientieren, so die Basis ihres moralischen Programms, ist auch ein guter Mensch; und nur ein guter Mensch – wie sie Master Tom erklärt, den dies allerdings wenig beeindruckt – kommt in den Himmel. Die Furcht vor der Verdammnis, von der Anne Brontë zeitlebens heimgesucht wurde, war Gegenstand vornehmlich ihrer Gedichte; in Agnes Grey ist es Nancy Brown, die sich mit ihren religiösen Zweifeln auseinanderzusetzen hat und Annes Dilemma nachvollzieht. Die ohnehin deprimierende Erfahrung völliger Wirkungslosigkeit erhält so eine andere Dimension, da Agnes glaubt, ihrer Aufgabe in moralischer Hinsicht nicht zu genügen.

Schwerer noch wiegt das Gefühl der Isolation, das sie unter ihr wesensfremden Menschen mit gänzlich anderen Wertvorstellungen empfindet. Die den Bloomfields eigene materielle Sicht der Dinge, Scheinheiligkeit und besonders der kalte bis rüde Umgangston, in dem man miteinander verkehrt, stehen in deutlichem Kontrast zu ihrem bisherigen behüteten, von Güte und Herzlichkeit geprägten Leben. Die Lunch-Episode im 3. Kapitel zeigt exemplarisch die eisige Atmosphäre, die bei den Bloomfields herrscht, und wieder ist es die Form des Dialogs, in der sich der Hausherr durch sein schlechtes Benehmen selbst entlarvt:

»he had a large mouth, pale, dingy complexion, milky blue eyes, and hair the colour of a hempen cord. There was a roast leg of mutton before him: he helped Mrs Bloomfield, the children, and me, desiring me to cut up the children’s meat; then, after twisting about the mutton in various directions, and eyeing it from different points, he pronounced it not fit to be eaten, and called for the cold beef.

›What is the matter with the mutton, my dear?‹ asked his mate.

›It is quite overdone. Don’t you taste, Mrs Bloomfield, that all the goodness is roasted out of it? And can’t you see that all that nice, red gravy is completely dried away?‹

›Well, I think the beef will suit you.‹

The beef was set before him, and he began to carve, but with the most rueful expressions of discontent.

›What is the matter with the beef, Mr Bloomfield? I’m sure I thought it was very nice.‹

›And so it was very nice. A nicer joint could not be; but it is quite spoiled,‹ replied he dolefully.

›How so?‹

›How so? Why, don’t you see how it is cut? Dear – dear! it is quite shocking!‹

›They must have cut it wrong in the kitchen, then, for I’m sure, I carved quite properly here yesterday.‹

›No doubt they cut it wrong in the kitchen – the savages! Dear – dear! Did ever any one see such a fine piece of beef so completely ruined? But remember that, in future, when a decent dish leaves this table, they shall not touch it in the kitchen. Remember that, Mrs Bloomfield!‹

Notwithstanding the ruinous state of the beef, the gentleman managed to cut himself some delicate slices, part of which he ate in silence. When he next spoke, it was, in a less querulous tone, to ask what there was for dinner«.

Die Szene enthüllt – neben der Kritik an den Bloomfields – Anne Brontës Sinn für Humor. Es ist eine verhaltene Spielart, die durch Sparsamkeit besticht und häufig in der Kunst des Weglassens besteht. So heißt es zum Beispiel, als Mrs. Bloomfield ihren Sohn Tom in den höchsten Tönen lobt und dessen Abneigung gegen jede Art von Betrug hervorhebt, knapp: »This was good news«.

Eine der Episoden, in denen Anne Brontë Kritik mit Humor verbindet, ist der Brief Rosalies, inzwischen Lady Ashby und so gelangweilt, dass sie ihre ehemalige Gouvernante anfleht, sie zu besuchen. Nachdem Rosalie sich ausführlich über Reisen, Zerstreuungen, ihren Ehemann und die alte Lady Ashby verbreitet hat, schreibt sie:

»›I forget whether you like babies; if you do, you may have the pleasure of seeing mine – the most charming child in the world, no doubt […]. And you shall see my poodle, too: a splendid little charmer imported from Paris: and two fine Italian paintings of great value – I forget the artist‹«.

Diese Aufzählung, in der Kind, Hund und Kunstgegenstände gleichberechtigt nebeneinanderstehen, beweist, dass sich ihre Wertmaßstäbe trotz der einschneidenden Veränderungen in ihrem Leben ganz und gar nicht verschoben haben; es ist die Aufzählung von Dingen, die man mit Stolz vorzeigen kann. Die Ironie liegt in der Diskrepanz zwischen ihrer offenen, unbewussten Selbstdarstellung und der Einschätzung, die ihr durch Agnes oder den Leser zuteilwird.

Die Erfahrungen, die Agnes bei den Bloomfields macht, setzen sich auf anderer Ebene fort. Denn ungeachtet der unerfreulichen Erlebnisse und der Behandlung, die man ihr dort zumutete, gibt sie nicht auf (»They may crush, but they shall not subdue me! / ’Tis of thee that I think, not of them.«. Der Gedanke an die finanzielle Unterstützung der Eltern und der Wille, sich zu behaupten, veranlassen sie, nach einer seelenstärkenden Atempause im elterlichen Pfarrhaus eine Stelle als Gouvernante bei den Murrays, Angehörigen des Landadels, anzunehmen. Die sorgfältige Auswahl der Familie – unter Beratung der Mutter, die der Ansicht ist, in einer aristokratischen Familie würde man Agnes’ Kenntnissen und Talenten mehr Anerkennung zollen – erweist sich jedoch als vergebens. Sah sie sich bei ihrer ersten Stelle mit Brutalität und körperlicher Gewalt konfrontiert, sind es nun vorwiegend Probleme im psychisch-geistigen Bereich, die ihr zu schaffen machen: die moralisch fragwürdigen Grundsätze der Murrays und wachsende emotionale und spirituelle Einsamkeit.

Die Bloomfield-Kinder in ihrer Ungezähmtheit und ihrem fast als abnorm zu bezeichnenden Verhalten bereiten den Weg für die Kinder der Familie Murray; diese sind älter, haben daher komplexere Charaktere und werden über einen längeren Zeitraum hinweg beobachtet; an ihnen, vor allem am Beispiel der ältesten Tochter Rosalie, wird das Thema fehlerhafter Erziehung und ihrer meist nicht wiedergutzumachenden Einflüsse erneut und diesmal eingehender abgehandelt. (Diesem Vorgehen entspricht im Übrigen die Aufteilung der Kapitel: Vier beschäftigen sich mit dem monströsen Verhalten der Bloomfield-Familie – mehr wollte Anne Brontë ihren Lesern offensichtlich nicht zumuten; dem diffizileren Geschehen während Agnes’ Aufenthalt bei den Murrays werden dreizehn Kapitel zugebilligt: Immerhin finden in dieser Zeit auch bedeutsame Ereignisse ihres eigenen Lebens statt.) In ihrem neuen Milieu hat Agnes zudem Gelegenheit, mit einem größeren Personenkreis zusammenzutreffen, und Anne Brontë nutzt diese Möglichkeit, um ihre Überzeugungen an diversen Personen antithetisch aufzuzeigen.

Auf Rosalies Entwicklung richtet sich das Augenmerk der Autorin; fast ebenso Zentrum des Romans wie Agnes selbst, hat sie neben dieser und Nancy Brown den größten Redeanteil. Von Beginn an wird sie als das erzieherische Produkt ihrer Mutter dargestellt. Mrs. Murrays einziges Bestreben, für Rosalie eine in finanzieller und gesellschaftlicher Hinsicht vorteilhafte Heirat zu bewerkstelligen, prägt den Stil ihrer Erziehung; der Schwerpunkt liegt auf der Vervollkommnung von Äußerlichkeiten und Talenten, mit denen man in Gesellschaft glänzen kann wie Singen, Tanzen, Klavierspielen usw. und der Erlangung eines »liebenswürdigen« Benehmens. Die Vermittlung anderer Kenntnisse ist, zum Erstaunen von Agnes, zweitrangig. Diese Jagd nach der guten Partie bleibt natürlich nicht ohne Eindruck auf Rosalie, die die Normen ihrer Mutter übernimmt und im selben Maße eitel und oberflächlich wird. Die Beschreibung ihres Äußeren ist minuziös wie die keiner anderen Gestalt in Agnes Grey; ihre über das Herkömmliche hinausgehende Schönheit, so wird angedeutet, ist ihr Kapital und die grundlegende Voraussetzung für den Verlauf ihrer Entwicklung. Sobald sie sich der Wirkung ihres guten Aussehens bewusst ist, wird ihre Neigung zur Koketterie dominierend, und ihr Eroberungswille stellt alle anderen Eigenschaften in den Schatten:

»At sixteen, Miss Murray was something of a romp, yet not more so than is natural and allowable for a girl of that age; but at seventeen, that propensity, like all other things, began to give way to the ruling passion, and soon was swallowed up in the all-absorbing ambition to attract and dazzle the other sex«.

Wie anders dagegen liest sich das Selbstporträt der Titelheldin, das dem Leser ihre bescheidene Selbsteinschätzung verrät. Die Betrachtung ihres Spiegelbildes bringt ihr erklärtermaßen keinen Trost:

»I could discover no beauty in those marked features, that pale hollow cheek, and ordinary dark brown hair; there might be intellect in the forehead, there might be expression in the dark grey eyes: but what of that?«.

Der Verschiedenheit des Äußeren entspricht die Gegensätzlichkeit im sozialen Verhalten der beiden Mädchen. Am Thema Heirat und Ehe werden die Ansichten von Agnes und Rosalie kontrastiv aufgezeigt: Der streng moralischen Auffassung von Agnes steht Rosalies materieller Standpunkt gegenüber. Eines der herausragendsten Beispiele für Anne Brontës Geschick, mit einem Minimum an Worten die völlig entgegengesetzten Wertvorstellungen zweier Menschen darzustellen und dies mit sozialer Kritik zu verbinden, ist die Unterhaltung zwischen Agnes und Rosalie über die bevorstehende Heirat von Agnes’ Schwester:

»›To whom is she to be married?‹

›To Mr. Richardson, the vicar of a neighbouring parish.‹

›Is he rich?‹

›No; only comfortable.‹

›Is he handsome?‹

›No; only decent.‹

›Young?‹

›No; only middling.‹

›O mercy! what a wretch! What sort of a house is it?‹

›A quiet little vicarage, with an ivy-clad porch, and old-fashioned garden, and‹ –

›O stop! – you’ll make me sick. How can she bear it?‹

›I expect she’ll not only be able to bear it, but to be very happy. You did not ask me if Mr Richardson were a good, wise, or amiable man; I could have answered Yes, to all these questions‹«.

Das kurze Gespräch legt Rosalies eigene Vorstellung über potentielle Ehemänner schonungslos offen; Reichtum und Titel, daran besteht kein Zweifel, rangieren bei der Wahl selbstverständlich an erster Stelle. Was hier noch in ihren Fragen implizit ist, wird später von ihr konkretisiert: »I must have Ashby Park, whoever shares it with me«. Von Zuneigung ist keine Rede, Liebe wird geradezu als Schwäche gedeutet. Damit vertritt sie die radikale Gegenposition zu Agnes, in deren Werteskala Begriffe wie Liebe, Güte und Klugheit ganz oben stehen, Liebe erst die Basis einer Ehe ist. Ausschlaggebend bei beiden ist der familiäre Hintergrund. Agnes’ Mutter hat aus Liebe auf Rang und Vermögen verzichtet, um heiraten zu können. Rosalies Mutter dagegen fädelt, auch unter dem Aspekt, selbst die gesellschaftliche Leiter ein paar Stufen höher zu erklimmen, die Heirat ihrer Tochter mit einem ungeliebten, aber reichen Adligen ein und nimmt dabei deren Unglück in Kauf.

Die Polarität der Standpunkte setzt sich in den beiden Pfarrern Hatfield und Weston fort. Wie im Moralitätenspiel verkörpert Hatfield das böse, Weston das gute Element. Hatfield entspricht dem Typus des eitlen, ehrgeizigen Geistlichen, der die sonntäglichen Auftritte dazu nutzt, seinem Hang zu Pose und Selbstdarstellung zu frönen:

»Mr Hatfield would come sailing up the aisle, or rather sweeping along like a whirlwind, with his rich silk gown flying behind him and rustling against the pew doors, mount the pulpit like a conqueror ascending his triumphal car; then, sinking on the velvet cushion in an attitude of studied grace, remain in silent prostration for a certain time; then mutter over a Collect, and gabble through the Lord’s Prayer, rise, draw off one bright lavender glove, to give the congregation the benefit of his sparkling rings, lightly pass his fingers through his well-curled hair, flourish a cambric handkerchief […]«.

Sein Interesse gilt mehr der sorgfältigen Abwicklung der äußeren Zeremonie des Gottesdienstes als dem Inhalt seiner Predigten, mehr der Einschüchterung der armen Leute, die er regelmäßig an ihre Pflicht zum Gehorsam gegenüber den Reichen gemahnt, als ihrem Seelenheil. Es zieht ihn zu den Mächtigen und Wohlhabenden; die einfachen Gemeindemitglieder und ihre Probleme sind ihm lästig, ein Mensch im Range einer Gouvernante wird von ihm schlicht übersehen. Rosalie Murray hingegen ist ein Objekt, das seine Aufmerksamkeit wert scheint. In dem Werben um sie dokumentieren sich seine gesellschaftlichen Ambitionen. Die kühle Zurückweisung seines Heiratsantrags, die seinen Stolz empfindlich verletzt, beantwortet er auf bezeichnende Weise: Der Zorn über die erlittene Kränkung lässt ihn auch vor dem Mittel der Erpressung nicht zurückschrecken. Der schnelle Wandel vom Verehrer, der seiner Angebeteten ergeben sein Herz zu Füßen legt, zum verschmähten Liebhaber, der um seinen Ruf fürchtet und ihr erbost mit Sanktionen droht, falls sie nicht Stillschweigen über den Vorfall bewahrt, wird in Hatfields Person glaubhaft dargestellt und betont Leere und Wertlosigkeit seiner Beteuerungen.

Das Verhalten beider – Rosalie hat den Antrag leichtfertig aus Koketterie provoziert – ist von Hochmut und Eigenliebe diktiert. Im Kontrast dazu wird die zurückhaltende, echte, kontinuierlich wachsende Zuneigung zwischen Agnes und Weston entwickelt. Weston vertritt die Position des aufrechten Geistlichen, der seine Gemeindepflichten sehr ernst nimmt, sonntags ohne Schnörkel seine auch für schlichte Seelen verständlichen Predigten hält und darüber hinaus an den privaten Bedürfnissen der Armen und Kranken Anteil nimmt. Er sucht sie regelmäßig in ihren bescheidenen Behausungen auf – eine Pflicht, der Hatfield nur äußerst ungern nachkommt – und befasst sich ohne Herablassung mit ihren Sorgen. Der von Hatfield und den Murray-Mädchen demonstrierten Gefühllosigkeit werden die Freundlichkeit und Nächstenliebe von Agnes und Weston gegenübergestellt; das Verständnis beider für die Kümmernisse der Armen nähert sie einander an. Schon die unromantisch-realistische Beschreibung von Westons Äußerem dient dazu, seinen Charakter von dem des weltlich gesinnten Hatfield abzugrenzen:

»In stature he was a little, a very little, above the middle size; the outline of his face would be pronounced too square for beauty, but to me it announced decision of character; his dark brown hair was not carefully curled like Mr Hatfield’s, but simply brushed aside over a broad white forehead; the eyebrows, I suppose, were too projecting, but from under those dark brows there gleamed an eye of singular power, brown in colour, not large, and somewhat deep-set, but strikingly brilliant, and full of expression«.

Zweifellos trägt der blasse Weston die Züge des »unhandsome hero«, der nur in den Augen der Heldin schön ist (s. Mr. Rochester in Jane Eyre). Die schwache Psychologie, die seine Charakterisierung bestimmt, liegt auf einer Ebene mit der Darstellungsweise, die auch die Schwestern Anne Brontës ihren männlichen Helden zuteilwerden lassen. Allerdings ist seine Hauptfunktion im Roman eher als die einer moralischen Kraft zu sehen. Für Agnes, deren anfängliche Unschuld und Naivität mittlerweile einem Gefühl ständiger Bedrückung und zunehmender Vereinsamung gewichen ist, bedeutet die Existenz Westons einen Hoffnungsstrahl am Horizont. Die Tag für Tag aufs Neue erlebte Erfahrung, nur negativen Einflüssen ausgesetzt und von allen Menschen abgeschnitten zu sein, die ebenso empfinden, denken und handeln wie sie selbst, mündet schließlich in die Befürchtung, auf Dauer geistig und seelisch zu verkümmern. Ihre Mutlosigkeit wächst, auch wenn ihr absoluter Wille zur Pflichterfüllung sie dazu zwingt, sich mit dem grauen, eintönigen Leben einer Gouvernante abzufinden. Westons Erscheinen, die Möglichkeit des Gedankenaustauschs mit einem Menschen von gleicher Denkweise und gleichen Prinzipien bewahren sie vor Resignation und bringen ihr die glückliche Erkenntnis, dass die Welt eben doch nicht nur aus Bloomfields, Murrays oder Hatfields besteht. Dieses Gefühl der Errettung aus tiefster Trostlosigkeit erklärt auch die mitunter etwas exaltierte Bildersprache mit religiösen Untertönen, die Agnes gebraucht, wenn von ihrer Liebe zu Weston die Rede ist.

In Agnes Grey besitzt die Liebe keinen leidenschaftlichen Aspekt wie in den Romanen Emily und Charlotte Brontës. Das Happyend stellt sich vielmehr als ein Triumph der Hoffnung über die Verzweiflung dar, ist Teil von Anne Brontës moralischer Absicht, didaktischer Fingerzeig an ihr Lesepublikum: Für denjenigen, der auch in Zeiten großer Bedrängnis unbeirrt seinen Weg geht und niemals aufhört zu hoffen und zu glauben, besteht die Aussicht auf Glück. Das ständige sanfte Moralisieren, bei dem sich der heutige Leser bisweilen etwas unbehaglich fühlen mag, wird aufgewogen durch den wohltuenden Mangel an Sentimentalität. Das Happyend ist nicht von der Art, auf einen immerwährenden Honigmond hinzuweisen. Auch Mr. Weston, so heißt es im sachlichen Resümee der Tagebuchschreiberin, ist keineswegs vollkommen und unfehlbar, sondern ein Mensch mit Stärken und Schwächen wie andere auch.

Das Vorurteil vieler Kritiker, Anne Brontë verdanke ihre Unsterblichkeit allein ihren Schwestern, ist noch längst nicht ausgeräumt, und tatsächlich verhinderte der berechtigte Ruhm Emily und Charlotte Brontës lange Zeit eine objektive Bewertung ihres literarischen Schaffens. Eine angemessene Einschätzung wurde von Beginn an zusätzlich durch den Umstand erschwert, dass die meisten Aussagen über Charakter und Werk Annes aus der Feder ihrer Schwester Charlotte stammen. Da von Emily und Anne kaum schriftliche Zeugnisse erhalten sind, sind es vorwiegend die Briefe und Aufzeichnungen Charlottes, auf die sich die Vorstellungen von Annes Persönlichkeit stützen. Sie verhalfen dem Leser zu dem Bild einer unauffälligen, schwachen Person (»little, gentle, sweet, delicate, resigned, pious, quiet, reserved« sind die Adjektive, mit denen sie apostrophiert wird) und einer Autorin, deren Werk der Erläuterungen der älteren Schwester bedarf, um es beim Publikum ins rechte Licht zu rücken. So entschuldigt sie sich in gewissem Sinne im Vorwort zur 2. Auflage von Wuthering Heights und Agnes Grey (»Biographical Notice of Ellis and Acton Bell«) für den zweiten Roman Annes, The Tenant of Wildfell Hall, bezeichnet die Wahl des Themas als Missgriff, betont, dass der Gegenstand des Buches dem Wesen ihrer Schwester völlig fremd sei und sie es nur aus Pflichtgefühl und als Warnung für andere geschrieben habe. Mit keinem Wort erwähnt sie die positiven Aspekte, und der Gedanke, dass sie damit manchen Kritikern den Weg wies, scheint nicht weit hergeholt. Gewiss wäre es übertrieben, in Agnes Grey oder in The Tenant of Wildfell Hall Meisterwerke viktorianischer Romankunst zu sehen; doch besitzen beide Romane eigene literarische Qualitäten, aufgrund derer Anne Brontë es verdient hätte, in einer Reihe mit ihren Schwestern genannt zu werden und nicht nur als deren blasses Abbild zu gelten. Ihr Stil, unsentimental und ohne jeden Hang zum Dramatischen, die Charakterdarstellung und die strenge Moral weisen eher ins 18. Jahrhundert; vermutlich hat sich der jahrelange Aufenthalt bei einer so weltlich eingestellten, geselligen Familie wie den Robinsons auf ihre Persönlichkeit ausgewirkt und auch die Art ihres Schreibens beeinflusst. Anklänge an die novels of manners Austen’scher Prägung sind nicht zu übersehen.

Die Gemeinsamkeiten mit den Schwestern sind unverkennbar: Wie diese schreibt sie eine einfache, ausdrucksstarke Prosa ohne überflüssige Schnörkel, betont Tugenden wie Seelenstärke und Gefühlskraft, Mut und Energie, dokumentiert Freiheits- und Wahrheitsliebe und ihre Aversion gegen unwürdige Abhängigkeit. Offen und unkonventionell beschreibt sie, was auch im Mittelpunkt der Romane ihrer Schwestern steht: den Missbrauch des Menschen durch den Menschen.

Anne besaß nicht die Visionskraft ihrer Schwester Emily, die, weltabgewandt, ein mystisches Universum der Phantasie ohne direkten Bezug zur Außenwelt schuf. Anders als Charlotte, die ihre eigene Wirklichkeit idealisiert und romantisch verfremdet darstellte, beschränkte sie sich auf die unsentimentale Schilderung der Realität, die ihr vertraut war, auf die erinnerte Erfahrung. Agnes Grey ist kein sozialkritischer Roman im eigentlichen Sinne wie die zeitgenössischen Werke etwa von Dickens (Hard Times), Disraeli (Sybil) oder Elizabeth Gaskell (Mary Barton), die sich in konkreter Form mit den sozialen und ökonomischen Missständen ihrer Zeit befassen. Anne Brontë entwickelt ihre Kritik an menschlichem Fehlverhalten und den daraus entstehenden Konsequenzen am Mikrokosmos von Ehe und Familie. Ihre Gouvernante in Agnes Grey erreicht nicht die lyrische Dimension einer Jane Eyre, doch gelingt es der Autorin durch die direkte, ehrliche, meist unkommentierte Darstellung der Denk- und Handlungsweise der Heldin und ihres personalen Umfelds, dem Leser ihre eigenen Wertmaßstäbe nahezubringen. Anne Brontë, die Radikalste der Schwestern in ihren Ansichten über Religion, Gleichberechtigung und Erziehung, vermittelt ihre Botschaft auf eindeutige, leicht verständliche Weise. Schwarz und Weiß, Gut und Böse, Falsch und Richtig: Grauzonen gibt es, ungeachtet des Namens der Titelheldin, nicht in Agnes Grey.

Der vielzitierten enthusiastischen Einschätzung George Moores (Conversations in Ebury Street), es handele sich bei diesem Roman um das »vollkommenste Stück Prosa der englischen Literatur«, wird wohl kaum jemand zustimmen wollen; der ebenfalls von ihm stammende Vergleich mit einem »schlichten, hübschen Musselinkleid« geriet ihm da schon überzeugender. Unzweifelhaft besitzt der Roman seinen eigenen Rang und ist kein unwesentlicher Bestandteil im Gesamtwerk der Brontës.

Stefanie Kuhn-Werner

Die großen Romane der Schwestern Brontë

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