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I.I Das Naturkind
ОглавлениеLange bevor ich den holprigen Weg durch die institutionalisierte Naturwissenschaft antrat, wuchs ich am Rande einer Kleinstadt, beinahe schon auf dem Dorfe, als unverfälschtes Naturkind zu einer zarten Gestalt heran. Eine innige Verbundenheit zu Pflanzen und Tieren prägte mich schon in der Kindheit und Jugendzeit. Für uns Kinder gab es nichts Schöneres als draußen in der Natur herumzustreunen und Streiche zu spielen. Einen Bruder hatte ich auch: er hieß Bello und war ein unserem Nachbarn zugelaufener Mischlingshund, den meine Eltern bei sich aufnahmen. Ich liebte ihn über alle Maßen. Als mein geliebter alter Weidenbaum am Flussufer gegenüber von unserem Haus gefällt wurde, trauerte ich lange. Auch als Bello gestorben war, trauerte ich. Der gute Hund war mir Freund und Lehrer. Das Lernen in der Schule fiel leicht und machte Spaß. Als Kind war mein Berufswunsch klar: als Tierarzt wollte ich meinen leidenden Schwestern und Brüdern helfen. In der frühen Jugendzeit erschien in meinen Träumen ein Zauberwesen, was mich mitnahm in seinen Wald, wo es mit Bäumen und Tieren sprach und mir die Pflanzen erklärte. Sein Gesicht und seine Gestalt strahlten Würde und gütige Strenge aus. Noch heute sehe ich es vor mir und höre seine Worte, die sich viel später bewahrheiteten: `Ich habe immer gewusst, dass Du wieder kommst`. Man kann als naturverbundener Mensch den Weg der heutigen Naturwissenschaften nicht gehen, ohne sich selbst und die Natur zu verraten. Das Zauberwesen sprach von der Heiligkeit der Natur, von der Achtung gegenüber allen Lebewesen, vom Verzicht, von Enthaltsamkeit, und dass man mit den Dingen sprechen kann. Die intensiven Träume begleiteten mich einige Jahre. Viele seiner Worte fand ich später in hinduistischen und buddhistischen Texten wieder, aber auch in alten Naturreligionen. Im späteren Berufsleben in naturwissenschaftlichen Institutionen begegneten mir keine Menschen mit ähnlich weisen Gedanken. Es ist zu bezweifeln, ob unsere heutige Gesellschaftsform und Lebensweise überhaupt noch Weise hervorzubringen vermag. In der späteren Jugendzeit öffnete sich mir eine besonders intensive Beziehung zu Bäumen. Oft fuhr ich stundenlang allein mit dem Fahrrad von Dorf zu Dorf über Landstraßen und Wege, durch Felder und Wiesen. Einem tranceartigen Zustand gleich nahm ich die alten Obstbäume am Wegrand wahr. Jenes losgelöste Schweben trug mich über das Land. Im Garten meiner Eltern arbeitete ich gern in den Blumenbeeten. Von einjährigen Sommerblumen sammelte ich jedes Jahr eigene Samen, die über den Winter in Gläschen im Keller lagerten. So säte ich dann im Frühjahr Bechermalven, Schmuckkörbchen, Jungfern im Grünen, Studentenblumen und Wicken, die dem Garten im Sommer ein buntes heiteres Gesicht schenkten.
Als ältere Schülerin arbeitete ich in den Ferien oft einige Wochen in einer Apotheke in unserer kleinen, damals noch verschlafenen Stadt. Es war tiefe DDR-Zeit. Dort konnte ich noch richtige klassische Apothekerarbeiten verrichten, Salben rühren und Pulver mischen. Diese Tätigkeiten machten viel Freude, und auch die Heilkunde interessierte mich. Aber die nette Leiterin der Apotheke sah ich immer nur am Schreibtisch sitzen. Die schönsten Apothekenarbeiten waren der Hilfskraft vorbehalten. Aus diesem Grunde verwarf ich die Idee, Pharmazie zu studieren, recht bald. Hinzu kam, dass im letzten Jahr meines Apothekenlebens die DDR-Epoche ein Ende fand und die klippsenden Preiszangen aus schwarzer Plaste in meine Hände fielen, mit denen ich von nun an tagein, tagaus acht Stunden lang kleine weiße Preisetiketten auf alle möglichen Tablettenschachtelchen und Fläschchen tackerte. Mit der Handarbeit im Apothekenlabor war es nun vorbei. Die freie Marktwirtschaft war eingezogen in die kleine Mohrenapotheke, mit Preisen wedelnd und bunten Verpackungen schillernd.
In mein Tagebuch trug ich damals empört ein, wie viele Autos plötzlich auf der Straße durch unsere kleine Stadt brausten, wo ich es gewohnt war, mit meiner Schulfreundin Silke am Abend Tennis über die Straße zu spielen. Ich positionierte mich auf dem Fußweg vor dem Haus meiner Freundin. Sie stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die wenigen Male, wenn ein Auto auftauchte, machten wir uns den Spaß, den Tennisball über das Autodach zu schießen. Wir brauchten keinen eingezäunten, mit Kunststoffbelag ausgelegten und mit Trinkwasser gespülten Tennisplatz, erst recht keinen überdachten. Jene historischen Tennisspiele fanden noch in den späten achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts statt, etwa 50 m vor einer heute gewichtigen Ampelkreuzung der Bundesstraße B 87, um die es tags und nachts herumbraust, von sich in alle vier Winde aufstauenden Autoschlangen bei Rotphasen unterbrochen. Der Verkehrsfluss, der unser fröhliches Tennisspielen ablöste, erzeugt auch keine freundlichen Mienen, weder bei in den Fahrzeugen hockenden Personen noch bei an der Ampelkreuzung auf das ersehnte grüne Leuchten wartenden, gar zu Fuß einher schreitenden Zeitgenossen. Zu den überwiegenden Zeiten befinden sich im Umkreis der Ampelkreuzung auch deutlich mehr und zumeist einsam in beräderten Metallkästen eingeschlossene Personen als außerhalb und nur von nach den Absonderungen der Metallkästen stinkenden und wegen ihrer Geräusche dröhnenden Luft umhüllt. Der Tennisplatz von einst hat sich verwandelt. Er ist dem übertechnisierten, industriellen Weltbild zum Opfer gefallen. Ebenso die Gemüter der Menschen, welche die Kreuzung passieren. Wir leben „in einer Gesellschaft, wo mir der Mensch nur noch in Form einer Blechkiste entgegenkommt, der mich mit zwei bösen Augen tödlich bedroht, dem ich ausweichen muss, statt dass ich ihm begegnen kann.“ [1] Die rollenden Maschinen dominieren unser Leben schon so sehr, dass „die Geographie eines Landes für die Bedürfnisse der Fahrzeuge und nicht für die der Menschen eingerichtet wird.“ [2] Von den fernen Zeiten, in welchen die Anwohner ihre Wäsche in dem durch das Städtchen fließenden glasklaren Fluss wuschen, weiß auch ich als in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts geborenes Menschenkind nur mehr vom Hörensagen. Eine braune Suppe ergießt sich durch das Flussbett. Auf dem Grunde wabert ein dichtes Geflecht aus Plastikfetzen.
Welche beruflichen Perspektiven eröffneten sich nun einem naturverbundenen jungen Menschen? Im Gymnasium erhielten wir keine Orientierung in Hinsicht auf unsere Berufswahl. Ich ließ mich auf dem Arbeitsamt beraten. Überall hieß es: Wenn jemand exzellente Abiturnoten vorweist, stehen ihm alle Studiengänge offen. Wählt entsprechend Eurer Talente und Interessen aus! Den Tierarzt von einst hatte ich aufgegeben. Auch den Apotheker. Schließlich entschloss ich mich für ein Studium der Biologie. Ein Lebensziel war damit verbunden: die Prinzipien und Zusammenhänge des Lebens begreifen zu lernen, den Wesen der Tier- und Pflanzenwelt tiefer zu begegnen, die Natur als unsere Herkunft und Heimat zu verstehen und zu schützen und die Lebensweise der Menschen mit der Natur in Einklang zu führen. Man erkennt aus meinen Idealen, dass mir pragmatisches Denken fremd war. Wie ich später jedoch schmerzlich bemerken musste, ist die beruflich betriebene Naturwissenschaft von pragmatischem Denken durchzogen wie von einem dichten Adernetz. In den Adern fließt ein eiskaltes, zahlengieriges Blut, das seine Nährstoffe aus Messgeräten und Computern bezieht. Die Grenze zwischen Naturwissenschaft und Technik existiert nicht, und beide Disziplinen durchdringen und bedingen einander. Eine neue Technik verschafft neue „Einblicke“ in die Natur in Form neuer Messdaten. Umgekehrt generieren neue Entdeckungen in Physik, Chemie und Biologie neue technische Entwicklungen. Eine Endlosschraube wird kreiert, welche in mechanischer Gier alles auffrisst, was sich ihr in den Weg stellt. Auf der Strecke aber bleibt die Natur. An dieser Stelle greife ich auf die alte, beinahe abgedroschene Mahnung zurück: `Bitte niemals vergessen, dass auch der Mensch zur Natur dazu gehört.`
Ein Bezug zu den intensiven, naturverbundenen Erlebnissen meiner Jugend war in meiner späteren naturwissenschaftlichen Laufbahn nirgendwo zu finden. Nicht einmal einen Hauch davon fand ich in den zugehörenden Berufen wieder. Was ist uns hier verloren gegangen? Naturverbundenheit hat im naturwissenschaftlichen Berufsleben keinen Platz. „Die Übersetzung in das Nützlich-Stoffliche unterwirft die Wissenschaft dem Zwang der Sache, und hier entstehen die Sachzwänge, die alle beschreiben, wenn sie von den Denkenden den Pragmatismus des Handelns verlangen.“ [3] Das im heutigen Berufsalltag wie auch im Privatleben ständig präsente „Etwas-Erledigen-Müssen“ trägt sein Übriges bei zur kompletten Zerstörung mystischen Naturerlebens. Dem beruflich tätigen Naturwissenschaftler fehlt es an der Muße, überhaupt mit der Natur in Kontakt zu treten. Denn würde er sich tatsächlich auf das Wagnis einlassen, mit ihr eine echte Verbindung aufzubauen, liefe er große Gefahr, sein ihm so wichtiges künstliches Gedankengebäude einstürzen zu sehen. Doch immer weiter flieht die Natur vor dem Wissenschaftler, der mit immer größerem Geschütz auffährt, sie zu beherrschen und auszubeuten. Und so wird sich auch die Heilkraft einer Pflanze niemals im Labor und am Messgerät offenbaren, sondern durch mystische Schau, wie sie sich den Ureinwohnern aller Kontinente eröffnete [4]. Gregory Fuller spricht von der Unwiederbringbarkeit mystischer Erfahrung [5]. Mystische Erfahrungen sind untrennbar mit einem naturnahen Leben verbunden, welches eine ausreichende Empfindungs- und Wahrnehmungstiefe vermittelt. Unsere zeitgenössischen Naturwissenschaftler leugnen wohl jegliche Formen mystischer Erfahrung, weil sie selbst aufgrund ihrer vollständigen Naturentfremdung und Vercomputerisierung ihre Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeiten verloren haben. Wenn aber der Wissenschaftler das Lebendige und das Mystische nicht mehr spürt und erfährt, begegnet er der Natur als totem Objekt. Genau hier, wo der Verlust von Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen geschah, liegt der Ursprung für die allüberall um sich greifende Naturzerstörung, welche Naturwissenschaftler Hand in Hand mit Technikern, Industriellen, Politikern und den sogenannten Konsumenten all der wissenschaftlich-technischen Erfindungen letztlich zu verantworten haben.