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I.III Die goldene Zeit
ОглавлениеAls zum Ende meines Studiums die Zeit meiner Diplomarbeit heranrückte, bot der damalige Professor für Allgemeine und Angewandte Botanik ein Thema in Zusammenarbeit mit einer außeruniversitären Forschungseinrichtung an, welches die Arsenaufnahme und die stoffliche Umwandlung der Arsenverbindungen durch Pflanzen auf Altlastenstandorten des Zinnerzbergbaus behandelte. Da die praktische Durchführung der Thematik in der chemisch-analytischen Abteilung des Forschungszentrums geplant war, schien mir diese Kombination ein guter Kompromiss zu sein, Botanik, Ökologie und Chemie zu verbinden. Eine Ansammlung vielfältigster analytischer Messgeräte, die mit elektrischem Strom zu betreiben und von Computern zu bedienen waren, stand im Mittelpunkt des Geschehens. Biologische Proben sollten mittels diverser Analysentechniken hinsichtlich ihrer Gehalte verschiedener chemischer Elemente und Verbindungen analysiert werden. In Bezug darauf galten die aus pflanzlichen Ursprungsmaterialien zu präparierenden Proben wegen ihrer komplexen Zusammensetzung als schwer handhabbare Matrix. Zunächst zog ich Pflanzen verschiedener Art auf von einer Bergbauhalde geholtem Schlamm in einem einfachen, kleinen Gewächshaus. Nach einiger Zeit meinten meine Betreuer, die Bedingungen darin hinsichtlich Luftfeuchtigkeit, Lichtintensität, Beleuchtungsdauer und Temperatur seien zu unkontrolliert. Daraufhin zogen meine Versuchspflanzen in so genannte Phytokammern um, um darinnen unter kontrollierten Bedingungen zu wachsen. Von nun an sahen sie keine Sonne mehr. Die Phytokammern waren licht- und außenluftdichte Schränke, worin die zuvor „unkontrollierten“ Parameter des Gewächshauses auf technischem Wege exakt eingeregelt wurden. Solche Umstände muten zwar unnatürlich an; man benötigt aber laut wissenschaftlichem Konsens einen vergleichbaren Bezugspunkt in Hinsicht auf die Untersuchung der Arsenaufnahme aus dem Boden. Reflektiert dies dann wirklich die natürliche Situation der auf einer Bergbauhalde sich ansiedelnden Pflanzengemeinschaft? In allen Zweigen der Naturwissenschaft herrscht die Mode, sich möglichst physikähnlicher und vor allem mathematischer Methoden zu bedienen, „und zwar gleichgültig, ob diese für die Erforschung des betreffenden Objektes Erfolg versprechen oder nicht.“ [10] Auch zehn Jahre später, nachdem ich viele Stationen der Naturwissenschaft passiert hatte und längst in einer anderen Stadt arbeitete, verwickelte mich einer meiner Kollegen in eine Diskussion über meine Pflanzenanzuchten. Er kritisierte wie dereinst meine Promotionsbetreuer die unkontrollierten Wachstumsbedingungen und schlug vor, die Pflänzlein unter technisch geregelten Licht-, Temperatur- und Feuchtebedingungen zu kultivieren, damit sie immer denselben Stoffwechselstatus aufweisen und folglich auch stets reproduzierbare Metallgehalte akkumulieren. Selbst wenn die Pflanzen dies tun, was ich aus jahrelanger Erfahrung stark bezweifle (man müsste wenigstens noch eine Abschirmung der mit den Mondphasen und dem Sonnenlauf durch den Tierkreis wechselnden kosmischen Einflüsse erfinden), welche Erkenntnis gewinnen wir daraus? Wenn wir die Pflanzen in den gegenüber der Außentemperatur abgeschirmten Phytokammern anzogen, zeigten sie im Winterhalbjahr keinerlei Wachstumsfreude, obwohl sie doch von der draußen herrschenden Jahreszeit eigentlich gar nichts mitkriegen sollten. Mein Kollege untermauerte seine Ansicht mit den schönen roten Tomaten aus holländischen Gewächshäusern, die das ganze Jahr über auf unseren Tellern landen und seiner Meinung nach auch immer dieselben gesunden Inhaltsstoffe beinhalten. Über die Künstlichkeit der holländischen Tomaten im Winterhalbjahr mag man sich streiten. Wohlmöglich war dem armen Mann noch nie in seinem Leben eine Gelegenheit vergönnt, eine reife Sommertomate aus dem eigenen Garten zu kosten.
Gleichwohl die Technomanie strahlend erblühte, empfinde ich auch im Nachhinein jene Zeit meiner Diplomarbeit und meiner unmittelbar daran anschließenden Promotion als die schönste Epoche meines Wissenschaftlerlebens. Außerordentlich freundlich wurde ich in die mir bisher fremde Arbeitsgruppe aufgenommen. Der Umgang war humorvoll, geprägt von Verständnis, Kollegialität und fachlicher Aufgeschlossenheit. Es gab sogar viel zu lachen. Die Struktur der Arbeitsgruppe war stabil gewachsen und bestand aus einer ausgeglichenen Mischung jüngerer und älterer Laborantinnen, Ingenieure und Wissenschaftler. Ausländische Gäste aus Russland, Mexiko, Polen und anderen Ländern weilten oft für einige Wochen oder Monate in unserer Abteilung. Auch mit ihnen wurde ein kameradschaftlicher und achtungsvoller Umgang gepflegt. Freilich gab es auch ab und an kleine Ärgerlichkeiten und Streitigkeiten zwischen Kollegen, und ich möchte jene vergangene Zeit auch nicht mit rosafarbenen Tüchern umhüllen, aber in der Relation zu den Personen und Umständen, die mir im dann immerhin promovierten, also höher qualifizierten Zustand an anderen Instituten begegneten, strahlt diese Epoche einen hellen Glanz aus. So verwundert es auch nicht, dass ich in den fünf Jahren, in denen ich als Diplomand und Doktorand arbeitete, kaum einen Tag wegen Krankheit fehlte.
Eine meiner Hauptaufgaben bestand darin, die Extraktion der von verschiedenen Pflanzenarten aufgenommenen Arsenverbindungen und ihrer metabolischen Umwandlungsprodukte zu optimieren, um die verschiedenen chemischen Verbindungen in nachfolgenden Analysenschritten qualitativ und quantitativ zu charakterisieren. Als Kontrollwert zur Summe der Konzentrationen der extrahierten und getrennten Arsenverbindungen wurde der Gesamtarsengehalt der Pflanzenextrakte bestimmt. Massenspektrometrische und atomspektrospkopische Detektionsmethoden kamen zum Einsatz. Ein weiterer Schwerpunkt lag in der Untersuchung der Wirkung der Arsenaufnahme auf den pflanzlichen Zellmetabolismus mittels diverser biochemischer Laborverfahren. In diesem Zusammenhang führte ich Stickstoffgehaltsbestimmungen, Proteintrennungen und Toxizitätstests durch. Auch arbeitete ich mit stabilen Isotopen. Meine Laborarbeiten erbrachten eine große Anzahl gut auswertbarer Ergebnisse. Ich arbeitete mit Wissenschaftlern und Laboranten anderer Abteilungen des Forschungszentrums zusammen, so mit der organisch-chemischen Analytik, mit der chemischen Ökotoxikologie und mit einem biotechnologischen Institut, und nutzte deren Laborausrüstung. Dort wie auch in unserer anorganisch-chemischen Abteilung lernte ich sehr viele verschiedene Labor- und Messtechniken, die ich aus meinem Studium noch nicht kannte. Nebenbei absolvierte ich aus freiwilliger Motivation heraus ein berufsbegleitendes Aufbaustudium, wonach ich mich „Fachchemiker für Analytik und Spektroskopie“ nennen durfte und eine Urkunde mit sehr gutem Abschluss erhielt. Im Rahmen dieser in Kurse eingeteilten, zweijährigen Weiterbildung erlangte ich umfangreiche Kenntnisse über chemische und spektroskopische Analytik. Im Verlaufe des wissenschaftlichen Werdeganges gewannen Fremdsprachenkenntnisse, insbesondere Englisch, an Bedeutsamkeit: man benötigte mündlich und schriftlich fließendes Englisch für den Umgang mit ausländischen Studenten und Gastwissenschaftlern, für das Lesen von Fachartikeln, den Besuch von Tagungen, für internationale Korrespondenzen, für das Verfassen eigener forschungsbasierter Veröffentlichungen sowie länderübergreifender Fachgutachten.
Doch während jener goldenen Anfangsjahre spürte ich einen ersten kalten Befristungshauch, der von den in kurze Abschnitte von ein- bis zweijähriger Dauer eingeteilten Beschäftigungsverhältnissen auf Projektbasis und der damit verbundenen hilflosen Abhängigkeit herüber wehte und mich mit meiner eigenen Unbedeutendheit in einem kühlen Luftzug umhüllte. Die Bezahlung meiner Arbeit als Doktorandin erfolgte über Projektmittel, die jeweils nur für kurze Zeiträume von ein oder zwei Jahren gewährt wurden. Darum musste ich bereits während meiner Doktorandenzeit einen dreißigseitigen Zwischenbericht samt Fortsetzungsantrag für das Weiterlaufen meiner Promotionsfinanzierung zusammenschreiben, was viel Zeit und Kraft kostete, zumal ich auch ein unerfahrener Antragsneuling war. Nachdem ich die Pamphlete endlich fertiggebastelt hatte und bei der zuständigen Stelle am Forschungszentrum einreichte, wartete ich viele Wochen lang auf eine Antwort. Ich befand mich während dieser Zeit mitten in einer mühseligen, aufwändigen und kräftezehrenden Forschungsarbeit und verfügte über keine zusätzlichen Reserven hinsichtlich des Erstellens von Fortführungsanträgen. Mehrmals fragte ich bei unserem Abteilungsleiter nach, was denn aus meinem Antrag geworden war. Immerhin ging es um die Weiterfinanzierung meiner Arbeitsstelle und damit auch um den Fortgang meiner Promotion. Es schien mir, als machte es dem Abteilungsleiter richtig Spaß, mich in meiner Hilflosigkeit zappeln zu sehen. Irgendwann, als mein Arbeitsvertrag sich schon fast seinem Ende zuneigte, erreichte mich eine Meldung, dass es weiterginge mit dem Projekt. Die sich einstellende Erleichterung schaffte es nicht, die über Wochen bis Monate aufgebaute Anspannung aufzulösen, so sehr hatten sich meine Nerven verkrampft. Endlich rückte der auf unbefristetem Posten sitzende Abteilungsleiter mit dem Grund für die lange Dauer der Entscheidung über meinen Fortsetzungsantrag heraus: die Papiere hätten inmitten eines großen Stapels auf dem Schreibtisch eines ebenfalls durch einen unbefristeten Arbeitsvertrag ausgezeichneten Gutachters und wichtigen Verantwortlichen der Projektleitung gelegen und wären ihm dadurch aus den Augen entschwunden. Eine große Enttäuschung befiel mich. Gleichzeitig bemerkte ich zum ersten Mal in meiner berufsmäßigen wissenschaftlichen Tätigkeit, dass man als junger, hochmotivierter und fleißiger Wissenschaftler nicht gebraucht wurde, sondern sich in einem ständigen Kampf ums Weitermachendürfen befindet. Allzu deutlich spürte ich, wie unwichtig man als befristeter Mitarbeiter in den Augen der Vorgesetzten galt, die das große Glück hatten, zu einer Zeit am Forschungszentrum eingestellt worden zu sein, als noch unbefristete Arbeitsverträge ausgestellt worden waren. Mein Pech, zu spät für diesen Luxus geboren worden zu sein, ließ mich in all den späteren Jahren nie mehr los.
In der ostdeutschen DDR-Vergangenheit gab es im Gegensatz zu heute weder befristet angestellte noch arbeitslose Naturwissenschaftler, deren fundierte Ausbildung nicht gebraucht wurde. Zur Sicherung sowohl einer soliden Studentenbetreuung als auch eines kontinuierlichen Forschungsfortganges gab es den sogenannten akademischen Mittelbau. Dieser setzte sich aus promovierten Wissenschaftlern zusammen, die keine Professur innehatten, aber einer solchen zugeordnet waren. Nach der Wiedervereinigung fiel dieser Berufsstand nach und nach komplett weg, während die jahrelange Ausbildung dafür bestehen blieb. Hinsichtlich der Aufnahme eines Hochschulstudiums existierte in der DDR eine wesentlich strengere Auswahl geeigneter Kandidaten, wodurch von vornherein weniger Personen in eine Wissenschaftlerlaufbahn eintraten. Dagegen quillt aus dem heute vorherrschenden Massenbetrieb an den Universitäten eine alljährliche Absolventenschwemme mit ausnivelliertem Notendurchschnitt hervor. Die letzten unbefristeten Wissenschaftleranstellungen an staatlichen Einrichtungen erfolgten in den ersten Nachwendejahren. In jener Zeit waren allerdings auch sehr viele wissenschaftliche Mitarbeiter aus ihren DDR-Arbeitsverhältnissen gekündigt und in die Arbeitslosigkeit entlassen worden.
Während meiner im Verhältnis zu den später folgenden Erlebnissen als promovierter Wissenschaftler als beinahe rosig einzuschätzenden Promotionszeit erlebte ich auch bereits den ersten großen Einbruch meiner naturwissenschaftlichen Arbeitsmotivation. Ein zweiwöchiger Sommerurlaub im einsamen Hochschwarzwald hatte mich unverhofft in die mystischen Erlebnisse meiner Jugendzeit zurückversetzt. Wochenlang fand ich nicht in die gerätebesetzte Arbeitswelt zurück. Ich schleppte mich durch Flure und Labore. Meine Seele war auf den spätsommerlichen Hochflächen des Gebirges zurück geblieben. Sie folgte mir nicht an die Computer und Geräte. Dort brauchte ich sie auch nicht, wohl aber zum Leben. Plötzlich schlichen sich seltsame Angstgefühle in meinen Alltag ein, die ich zuvor als Schüler und Student nie gekannt hatte. Auf dem Heimweg von der Arbeit im Forschungszentrum zitterte ich so stark, dass ich mein Fahrrad schieben musste. Regelmäßige, beinahe täglich auftretende, von starkem Zittern begleitete Schwindelanfälle hinderten mich fortan am Autofahren.
Als sich meine Promotionszeit ihrem Ende neigte und ich nach neuen, verheißungsvollen Ufern Ausschau hielt, glaubte ich, die wissenschaftliche Welt würde überall in einer gewissen Ordnung ruhen. Auch die anderen Abteilungen im Forschungszentrum, in denen ich während meiner Doktorandenzeit zwecks fachlicher Zusammenarbeit und Gerätenutzung oft verweilte, vermittelten eine ähnliche gesunde Harmonie, weshalb man auch nicht schlussfolgern kann, dass die aus heutiger Sicht so hoch geschätzte Arbeitsatmosphäre eine glückliche Ausnahme im Heimatinstitut meiner Diplom- und Promotionszeit darstellte. Da ich auch als Studentin, wie zuvor schon erwähnt, als Hilfskraft im Physikalisch-chemischen Institut eine ähnlich warme, beinahe herzliche Umgebung erlebte, wage ich die Behauptung aufzustellen, dass es einen direkten Zusammenhang gibt, der zum Einen in einer Generationenfrage und zum Anderen in einer Herkunftsfrage gründet. Natürlich gab und gibt es Ausnahmen davon, positive wie meinen herzensguten, stillen Botanikprofessor oder eine hilfsbereite Nachwuchsgruppenleiterin aus meiner Postdoktorandenphase, welche sich aus weiter westlich gelegenen Gefilden in eine sächsische Großstadt verirrten, aber auch negative, wie den aus einer ostdeutschen Großstadt entstammenden Initiator meiner Habilitation und einige seiner Untergebenen. Ich gewinne auch immer mehr den Eindruck, dass das Herkunftskriterium mehr und mehr verwischt, weil die Jüngeren in die verdorbene Atmosphäre hineinwachsen, wodurch allein das Generationenkriterium aufrechtzuerhalten ist. Erst kürzlich klagte einer meiner gleichaltrigen Leidensgenossen über den Verlust der älteren Generation von Wissenschaftlern, vor denen man noch Respekt und Achtung empfand, und mit denen man einen menschlichen Umgang pflegen durfte. Ich selbst hatte das große Glück, eine ganze Reihe dieser älteren Wissenschaftler als Hochschullehrer während meines Studiums und als Betreuer während meiner Promotion erlebt haben zu dürfen. Mein soeben erwähnter gleichaltriger Kollege äußerte sich im persönlichen Gespräch ganz emotionell: „Die meisten der heutigen Professoren sind menschliche Totalversager und Sozialkrüppel.“ Diese Einschätzung, der ich aus erschreckender eigener Erfahrung nicht widersprechen konnte, wirft die Frage auf, wieso und warum die Schere zwischen fachlicher Eignung und menschlichen Qualitäten so weit auseinander klafft. Es liegt sehr nahe, einen Zusammenhang zu ziehen zur inhaltlichen Entwicklung der Naturwissenschaften. Der zwischenmenschliche Umgang in den naturwissenschaftlichen Instituten spiegelt die wissenschaftliche Methodik und ihre gnadenlose Respektlosigkeit vor der Natur und allem Lebendigen wider. „Wie wir mit der Mitwelt umgehen, so auch mit den Mitmenschen; es hat alles seine Logik.“ [5] „Am Ort der Zerstörung der inneren Natur des Menschen ist zugleich der Ursprung auch für die Verwüstung der äußeren Natur zu bemerken.“ [6] „Umweltvernichtung und `Dekadenz` der Kultur gehen Hand in Hand.“ [12] Und so spiegeln die sozialen Strukturen im Inneren der naturwissenschaftlichen Maschinerie die durch sie bedingte Zerstörung und Ignoranz im Äußeren, der „Um“-Welt, wieder. Außerdem bleibt in diesem Zusammenhang nach wie vor auffällig, dass alle Positionen emeritierter Professoren an den Chemischen und Biologischen Fakultäten der drei ostdeutschen Universitäten, an denen ich als Student oder Mitarbeiter wirkte, ausnahmslos von jüngeren Professoren westlicher Herkunft besetzt worden sind. Mittlerweile sind alle älteren Professoren im Ruhestand gelandet, weshalb die mir bekannte Zahl westdeutscher Nachfolger groß ist. Nun gibt es die liebenswürdigsten, offensten und zugänglichsten Mitmenschen in den westlichen Teilen Deutschlands und ich durfte etliche von ihnen dort kennen lernen und Freundschaften mit ihnen schließen. Findet also im Zuge der Wanderungsbewegung gen Osten eine ominöse, sich im Verhalten niederschlagende Selektion statt? Aus den westlichen Teilen Deutschlands stammende Professoren, welche die Lehrstühle im Osten besetzten, trugen eine uns Ostdeutschen fremdartige Mentalität in die Institute herein, als deren herausstechendste Merkmale häufig eine ungewohnte Unnahbarkeit und eine vorgespielte Exklusivität zu nennen wären. Es gab, wie bereits erwähnt, Ausnahmen davon, ebenso umgekehrt; das heißt, es gab selbstverständlich auch Professoren und andere Kollegen ostdeutscher Herkunft, mit denen sich der tägliche Umgang schwierig gestaltete. Gegenüber den ausschließlich aus ostdeutschen Wissenschaftlern und Technikern zusammengesetzten Arbeitsgruppen, von deren Art während meiner Studentenzeit wie auch zu Beginn meiner wissenschaftlichen Berufslaufbahn noch Restbestände existierten, zerstörten die westdeutschen Kollegen, insbesondere die Professoren und Arbeitsgruppenleiter, und die von ihnen importierten Arbeitsstrukturen in erster Linie den Zusammenhalt, die Lockerheit und die offene Diskussionsbereitschaft zwischen den Kollegen. Weiterhin beobachtete ich einen Einbruch des Mitgefühls, der Kameradschaft und des Humors zugunsten von Selbstdarstellung, Konkurrenzgebahren und einem ausgeprägten, oftmals hintergrundlosen „Wichtigtuen“. Individualistisches Konkurrenzstreben schlug fortan den Takt der immer eintöniger werdenden Institutsmelodien. Hinzu gesellte sich der Umstand, dass bald die Kurzzeitbefristungen der Arbeitsverträge in den Wissenschaftsbetrieb Einzug hielten, was die Konkurrenzsituation weiter verschärfte und letzte Funken von Solidarität und Zusammenhalt in der erkalteten Asche der DDR-Vergangenheit erstickte. Wie bereits erwähnt, kannte die Organisation der Universitäten und Forschungszentren des gestürzten Staates befristete Arbeitsverträge nicht. Der sogenannte akademische Mittelbau, wozu in erster Linie promovierte Wissenschaftler gehörten, die in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis standen, ohne den Professorenstand erreicht zu haben, und Lehr-, Forschungs- und Verwaltungsaufgaben übernahmen, wurde nach dem Untergang der DDR nach und nach abgeschafft. Und es waren nicht die menschlichen und fachlichen Spitzenreiter, die ihre Chance wahrnahmen, eine gute Position im Osten Deutschlands zu besetzen, sondern Wissenschaftler „zweiter und dritter Klasse“, wie einer meiner älteren Kollegen die Lage charakterisierte.
Eine weitere Erklärung für die Besetzung von Professorenstellen durch peinliche Charaktere liest man bei H.A. Pestalozzi: „In hierarchischen Strukturen können nur jene nach oben kommen, die 100prozentig konform sind. Wer neue Ideen hat, wer sich etwas anderes vorstellen kann als gerade das, was ist, kann gar keine Karriere machen. Er eckt mit seinen neuen Ideen unverzüglich an. Er ist für die Vorgesetzten unbequem. Er wird stillgelegt. Nur wer sich kritiklos in die bestehenden Strukturen einfügt, und nur wer mit der vorherrschenden Meinung und Konzeption restlos einig geht, kann die Erfolgsleiter hochklettern. Mit dem Resultat, dass in dem Moment, wo er selber oben ist, ihm nichts anderes übrigbleibt, als die Strukturen noch mehr abzuschotten, weil sonst er sich durch Mitarbeiter mit neuen Ideen gefährdet fühlen würde.“ [1]
Nach, wie man sagt, „Auslaufen“ meiner über ein zeitlich befristetes Projekt bezahlten Promotionsstelle wollte einer der Arbeitsgruppenleiter mich gern behalten, aber es existierte keine Anstellungsmöglichkeit mehr für mich. Auch ich wäre gern geblieben, aber es blieb mir genau wie ganzen Generationen von Doktoranden nichts weiter übrig als das Heimatinstitut trotz aller in einer harten fachlich-experimentellen Arbeit erworbenen Erfahrungen und Ideen zu verlassen. Ich verfügte sowohl über einen sehr guten Diplom- als auch Promotionsabschluss, hatte meine ersten Fachveröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften herausgebracht und war gegenüber andersartig ausgerichteten Arbeitsgebieten aufgeschlossen, so dass nur zwei Bewerbungen auf im Internet entdeckte Stellenausschreibungen für Einladungen zu Vorstellungsvorträgen genügten, um zwei Stellenzusagen zu erhalten. Somit war ich einem Bewerbungsmarathon entgangen und musste mich auch nur für einen Monat arbeitslos melden. Wie schrecklich erging es dagegen meiner Studienfreundin, die mit einem Stipendium promoviert hatte und als junge Doktorin mit Ende 20 ein ganzes Jahr daheim bei ihren Eltern ohne Arbeitslosengeld (was einem nach einem Stipendium nicht zustand, weil man keine Arbeitslosenversicherung bezahlte) verbrachte. Ich konnte mich nun zwischen zwei, wie es im Ausschreibungstext hieß, „zunächst auf zwei bzw. drei Jahre befristeten“ sogenannten Postdoc-Stellen entscheiden. Die Bezeichnung „Postdoc“ stammt aus dem englischen Sprachraum und bedeutet „Nachdoktorand“, meint also die sich an die Promotion, mit deren erfolgreichen Beendigung man den Doktorgrad erwirbt, anschließende berufliche Epoche einer wissenschaftlichen Laufbahn. Zum damaligen Zeitpunkt begriff ich längst noch nicht, dass unter dem Begriff „Postdoktorand“ all jene jungen Wissenschaftler zusammengefasst wurden, die den Doktorgrad erworben hatten und fortan von einer Einjahres- zur nächsten und übernächsten Halbjahres- oder Zweijahresbefristung purzelten, bis sie schließlich ganz aus dem System entsorgt wurden. Im Gegenteil: ich war stolz darauf, nach dem Abschluss meiner Promotion zwischen zwei solchen Postdoc-Stellen entscheiden zu dürfen. Diese Wahlmöglichkeit genügte mir völlig, da mich die beiden damit verknüpften Forschungsvorhaben thematisch ansprachen. Pflanzen waren wieder dabei und chemische Analytik. Letztlich entschied ich mich für die näher an meinem Heimatort gelegene Arbeitsstelle, für welche ich zwar eine einstündige tägliche Fahrtzeit für eine Strecke in Kauf nehmen musste, aber ein komplettes Umsiedeln vermeiden konnte. Schließlich lebte ich seit vielen Jahren in einer festen Partnerschaft. Da mir mein Freund und unsere gemeinsame Lebensgestaltung sehr viel bedeuteten, hätte ich wohl eine räumliche Trennung, die nur in sechs- bis siebenstündiger Fahrzeit zu überwinden gewesen wäre, nicht lange ausgehalten. Aber eine solche Einstellung ist nicht erwünscht für einen jungen Naturwissenschaftler, der sich möglichst weltweit auf karrierefördernde Stellenausschreibungen bewerben soll. Eine ehemalige Kollegin beispielsweise, welche sich ebenso wie ich während der Promotion in einem Spezialthema verfitzen musste, zog jahrelang befristeten Stellen in ganz Deutschland hinterher, bis sie auf einer unbefristeten Position in einem Amt landete, allerdings in einer Gegend, die ihr aufgrund extremer Überindustrialisierung überhaupt nicht behagte. Der Lebensweg junger und mittlerweile auch älterer Wissenschaftler folgt stets dem gleichen Muster: das fachliche, hochspezifische Thema der Promotion zwingt zur Festlegung der weiteren Arbeits- und Forschungsmöglichkeiten; irgendwann und irgendwo und wenn überhaupt ist dann mal eine Stelle ausgeschrieben, die auf das „eigene Profil“ (wie es so schön heißt) passt. Da muss man dann hin, egal, woher man kommt, wohin man möchte und wo man sich vielleicht wohl fühlen könnte.
Wehe, man empfinde eine gewisse Heimatverbundenheit. Muss man ja auch nicht, denn die Naturwissenschaft mit ihrer heiß geliebten Schwester Technik zermalmt ohnehin all das, was Heimat einmal bedeutet hat. Das fängt bei der natürlichen Umgebung an, womit ich Bäume, Wiesen, wilde Tiere, aber auch alte, sich in die Landschaft einfügende Häuser und Dörfer meine, und hört bei der Unterhaltungselektronik auf, welche die Menschen an Bildschirme aller Art und Größe fesselt. Fernsehen, Computer-, Handy- und Smartphone-„Tippsen“, mit scheppernden Stöpseln in den Ohren, kann der moderne Mensch überall. Dazu braucht er keine Heimat. Schöne Landschaften kann er sich auf seinen diversen Bildschirmen anschauen – wozu braucht er sie dann vor der Tür? „Je mehr es einen Rückzug der Menschen in eine minderwertige geistige Unterhaltungsdimension gibt, umso weniger wird man noch die verbliebenen Reste der Natur beachten.“ [3] In ländlichen Gegenden, in denen noch einige alte Bauwerke erhalten geblieben sind, fällt jedem aufmerksamen Betrachter auf, wie sich alte Höfe harmonisch in die Landschaft einfügen, wogegen in jüngerer Zeit oder ganz neu erbaute Wohnhäuser wie aufgesetzt wirken, ohne Beziehung zum Untergrund und zum Umland. Dieser Eindruck spiegelt die verloren gegangene Naturverbundenheit vergangener kleinbäuerlich geprägter Lebensformen wider. Auch an der Architektur und Bauweise moderner Häuser erkennt man den Geist der naturwissenschaftlich-technischen Epoche. Die neuzeitlichen Massenbehausungen dienen bestenfalls als „Ställe für Batterien von Nutzmenschen.“ [10]
Meine alte Kindheits- und Jugendheimat ist längst von der Industriewalze zermalmt worden. Wiesen, auf denen die schönsten Sommerblumen blühten und Schafe weideten, mussten einem gewaltigen Betonplattenbauwerk weichen. Auf einem der Schafe pflegte ich zu reiten, bis es mich kopfüber abwarf. Die alten Weiden, unter denen wir Indianer spielten, stehen noch. Aber die Straße braust dahinter vorbei, so dass man nur mit zugehaltenen Ohren und zugehaltener Nase der Indianerzeit gedenken kann. Weg- und Straßenränder als allerletzte Refugien für wunderschöne Blütenpflanzen werden überregelmäßigst von dröhnenden, stinkenden Maschinen platt gemäht. Schmetterlinge, Bienen und Käfer können ja auf die riesigen Rapsfelder ausweichen, wo Millionen gelbe Blüten blühen, auch wenn sie mehr Chemiegift als Nektar enthalten. Ich mag jetzt nicht daran denken, dass das tonnenweise verspritzte Gift von klugen Chemikern (welche auch Naturwissenschaftler sind) erfunden worden ist. Wunderschön gewachsene Bäume werden im Zuge maßloser Verschneidungswut durch ohrenbetäubend dröhnende Motorsägen verstümmelt. Kein Feldheckenrain, kein Wald- oder Wegesrand darf seine Ästchen herausstrecken. Man muss nur einmal eines der einstmals herrlichen großen Alpentäler besuchen, um vor den Leistungen von Wissenschaft und Technik zu erschaudern: aufgrund der Hochgebirgsumgebung ballen sich neben den großen Flüssen in dichter Aneinanderdrängung Hochspannungsmasten und –leitungen, Straßen und Eisenbahnschienen, um die gesamten breiten Täler Österreichs in nur als Transitstrecke zu ertragende Landstriche zu verwandeln. Alles, was der moderne Wohlstandsmensch zu seinem unglücklichen Dasein benötigt, verunstaltet hier in geballter Form die Landschaft. Die überall flehentlich herbei geschriene Verbesserung der Infrastruktur führt nur noch zu noch mehr Umweltzerstörung. „Unser Wohlstand beruht auf ökologischer Plünderung.“ [14] Die Unverantwortbarkeit all der ein bequemes, wohlstandsüberfülltes Leben ermöglichenden wissenschaftlich-technischen Errungenschaften „wurde über Jahrzehnte hinweg mit Vorstellungen von Fortschritt und Freiheit übertüncht“ [14]. Konrad Lorenz spricht vom „Irrglauben an den sogenannten Fortschritt“ [12]. „Im blinden Fortschrittswahn hat die Nachkriegsgeneration versagt. Wir haben die Natur vergewaltigt, statt uns ihr weise einzuordnen; wir sind Sklaven statt Meister unseres Schicksals geworden.“ [13]