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I.IV Das ungrüne Pflanzeninstitut mit dem Drogenhersteller
ОглавлениеEin Professor aus dem Forschungszentrum, wo ich vor Kurzem promovierte, berichtete mir über mein neues Institut, dass es als eines der führendsten Institute auf seinem Forschungsgebiet gilt und von einer dieser in den Forschungseinrichtungen von Zeit zu Zeit auftauchenden Evaluierungskommissionen sehr gut bewertet (evaluiert) worden ist. Dieser ausgezeichnete offizielle Ruf lockte mich an und ließ mich auf einen guten Einstieg in die neu erworbene Postdoc-Stelle hoffen. Großen Stolz verspürte ich damals noch, die aufwändigen Großgerätschaften endlich selbst betreuen zu dürfen, nachdem ich als Doktorandin immer nur das Startmessknöpfchen und den Steuercomputer berühren durfte. Als erstes aber galt es, sich mit neuen Messknöpfen und auf dem Computerbildschirm blinkenden Symbolen der umfangreichen Bedienungsprogramme anzufreunden. Hatte man sich nach einer Weile an die Symbole und deren Anordnung auf dem Bildschirm gewöhnt und damit den Kopf frei geschaufelt für darüber hinausgehende Gedanken, währte das Glück nur kurze Zeit, denn bald flatterte eine von der Gerätefirma aufgedrängte neue Version des Computerprogrammes herein, und es blieb einem nichts weiter übrig, als die Gerätebedienung mittels der neuartigen Software zu aktualisieren und sich auf veränderte Anordnungen und Bildchen umzustellen. Das neue Bedienungsprogramm erbrachte angeblich eine Reihe ganz bedeutsamer neuartiger Optionen, auf die man eigentlich verzichten konnte und die das tägliche Benutzen der Messgeräte nur noch komplizierter und aufwändiger gestaltete.
Als Nachdoktorand (was die deutsche Übersetzung von „Postdoc“ bedeutet) verdiente man endlich auch ein volles Gehalt, nachdem man als Doktorand nur den halben Tag bezahlt worden war. Ein ungeschriebenes Gesetz lautete, dass man trotzdem den vollen Tag arbeitete und weit über eine Vierzigstundenwoche hinaus, damit man mit der Bearbeitung des Promotionsthemas vorankam. Dieser Umstand wurde von den Vorgesetzten gern damit begründet, dass man den halben Tag für die beherbergende Forschungseinrichtung arbeitete, während die zweite Tageshälfte der eigenen Qualifikation diente. Dieses Argument hinkte, denn in nichtnaturwissenschaftlichen, vornehmlich in rein ingenieurtechnischen Bereichen wurden bereits damals auch für Doktoranden volle Stellen bezahlt. Dieser Umstand verstärkte sich in den letzten Jahren, weil Absolventen vieler technischer Studiengänge weitaus besser honorierte Beschäftigungen in Industriebetrieben finden und sich kaum einer mit einer halben Stelle an einem universitären Forschungsinstitut begnügen muss. Um Promovenden in technischen Fachrichtungen anzulocken, muss also volles Gehalt geboten werden. Also bestimmt nicht etwa irgendeine hehre Qualifikationsmoral die Bezahlung von Promovierenden, sondern allein die industrielle Wirtschaft. Gerade solche technischen Zweige wie die Automobilindustrie, welche einige der größten Umweltverschmutzungen verursachen, bieten ihren Ingenieuren die größten Gehälter.
Während meiner Doktorandenzeit dachte ich nie über meine Bezahlung nach. Ich verglich mich nicht mit anderen. Im Nachhinein mutet die halbe Bezahlung jedoch ungerecht an. Man arbeitete in demselben, meist in einem größeren Umfang wie die promovierten Wissenschaftler und wie die technischen Doktoranden. Wo war denn die Grenze zu ziehen zwischen dem, was man für die Forschungseinrichtung erledigte, und dem, was einer persönlichen Weiterbildung diente? Unter dem Gesichtspunkt, was man im späteren Berufsleben von dieser zu erwerbenden Qualifikation an verheerenden Schwierigkeiten und Nachteilen zu erwarten hatte, erscheint jene Begründung umso absonderlicher. Zum grundsätzlichen Berufsbild eines Wissenschaftlers gehört eine immerwährende Weiterbildung, ganz gleich, ob man sich bereits im promovierten Status befindet oder noch als Promovierender agiert. Meine gesamte Tätigkeit gehörte einem Projekt, welches die Universität gemeinsam mit dem außeruniversitären Forschungszentrum abrechnete.
Mein erster postdoktoraler Arbeitstag im für mich noch neuen, fremden Institut verpasste mir sogleich einen unerwarteten Kulturschock, da ich nun im immerhin promovierten und unter mehreren Bewerbern ausgewählten Zustand gar keinen Büroarbeitsplatz zugeordnet bekam, obwohl ich es schon seit meiner Diplomandenzeit gewöhnt war, über einen eigenen Schreibtisch und Ablagemöglichkeiten für Ordner, Bücher und dergleichen zu verfügen. Außerdem nahm sich keiner der mir im Bewerbungsgespräch und zum Vorstellungsvortrag begegneten Wissenschaftler Zeit, mir überhaupt konkrete Aufgaben zu erteilen oder fachliche Einweisungen zu vermitteln. Das einzige, was man mir in die Hand drückte, war ein unfertiges Manuskript über einen Teil der vor meiner Ankunft in der Arbeitsgruppe gelaufenen Experimente. Die verschiedenen Arbeitsgruppen, die zum neu zu entdeckenden Forschungszentrum gehörten, bestanden aus einer Vielzahl junger, befristet eingestellter Doktoranden und Postdoktoranden, den ebenfalls hauptsächlich noch jüngeren Arbeitsgruppenleitern vornehmlich westdeutscher Herkunft und etlichen, sich im mittleren Alter befindlichen Laborantinnen. Wie gewohnt stammten die Professoren ausschließlich aus den alten Bundesländern. Sie waren zwar nicht solch bösartige Gestalten, wie sie mir an späteren Orten begegneten, aber sie waren verdammt langweilig. Das Ziel meiner Tätigkeit war ihnen nur mühsam und stückchenweise über Wochen hinweg zu entlocken und blieb letztlich nicht richtig greifbar. Immerhin war ich auf einem bereits drei Jahre gelaufenen Forschungsprojekt eingestellt worden, welches ich nun weiterführen sollte. Daher war ich auf vorangegangene Erfahrungen und Ergebnisse angewiesen. Letztlich bestand das Forschungsziel darin, Reaktionen des pflanzlichen Stoffwechsels auf Schwermetallbelastungen auf molekularer Ebene aufzudecken. Dieser breit gefasste Ansatz bediente sich verschiedener analytischer Techniken: dazu gehörten diverse massenspektrometrische Verfahren zur Strukturanalytik wie auch gelelektrophoretische Proteintrennverfahren. Den Messungen ging eine umfangreiche Prozedur zur Extraktgewinnung aus schwermetallexponierten Pflanzen voraus. Zur Auswertung der komplexen Massenspektren und der zweidimensionalen Elektropherogramme standen computerbasierte Programme zur Verfügung.
Einer der Arbeitsgruppenleiter erzählte mir stolz, dass er direkt aus Kalifornien hier her gekommen war. An fachlichen oder gar menschlichen Inspirationen, die er von dort mitgebracht hätte haben können, ließ er mich leider nicht teilhaben. Ein Auslandsaufenthalt wird im Lebensweg eines Wissenschaftlers sehr hoch gehandelt. Aus diesem Grunde drängte mich auch mein späterer Habilitationsinitiator immerzu zu einem solchen Unterfangen, denn bei Bewerbungen auf Professorenstellen achten die Berufungskommissionen sehr auf die so genannte Auslandserfahrung als nahezu unabdingbares Kriterium der Eignung habilitierter Wissenschaftler für die Besetzung einer Professur. Eine anschließende Arbeitsplatzgarantie gewährt der zumeist über ein Stipendium finanzierte Auslandsaufenthalt nicht. Als ich klagte, mich würde bestimmt starkes Heimweh überkommen, schlug er vor, ich könne doch jedes Wochenende nach Hause fliegen. Was hätte ich damit fleißig zur Atmosphärenvernichtung und zur Lärmgenerierung beigetragen! „Flugreisen verursachen bekanntlich den maximalen Klimaschaden, den ein einzelnes Individuum auf legale Weise erzeugen kann.“ [14] Davon wussten die mich jahrelang umgebenden Naturwissenschaftler und besonders die, die es mit Hilfe eines fünfjährigen Studiums werden wollten, nichts, oder sie wollten es aus Bequemlichkeits- und Statusgründen nicht wissen. Eine Studentin der Angewandten Naturwissenschaft sagte einmal zu mir, als ich das Problem des gewaltigen Flugverkehrs ansprach: „Ich dachte, Fliegen ist umweltfreundlich, weil so viele Leute in ein Flugzeug passen.“ Mittlerweile sieht die etablierte Wissenschaftsgemeinschaft auch schon Auslandsaufenthalte von Studenten und Doktoranden als besonders wegweisend für deren Entwicklung an. Darum verlagerte sich der statusträchtige Auslandsaufenthalt bis in die Anfänge des Wissenschaftlerlebens, also in das Bachelor-/ Masterstudium hinein. Es gehört zum guten Ton, Teile seines Studiums im Ausland zu absolvieren und man wird fast schon mitleidig angeschaut, wenn man seine ganze Studienzeit im Heimatlande blieb. Der Ökonom Niko Paech vermutet deshalb, dass „die Schöpfer des Bologna-Prozesses mit der Flugindustrie auf gutem Fuß stehen. Das Auslandssemester, das Praktikum in Übersee, die für eine Abschlussarbeit dringend notwendige Feldforschung in Südafrika etc. verwandeln das Bildungssystem allmählich in eine Bildungsindustrie, zumindest gemessen am Kerosininput.“ [14] Was aber lernt man im Ausland, von der Fremdsprache einmal abgesehen, die man möglicherweise auch nicht lernt, weil man sich in den Universitäten und Instituten in der internationalen Wissenschaftssprache Englisch verständigen muss? Naturwissenschaftlich ausgerichtete Labore gleichen einander weltweit in ihrem üblichen giftgetränkten, geräte- und computerbeladenen Bild. Und überall tragen sie zum horrenden Stromverbrauch bei. Um dabei mitzuspielen, muss man nicht weit fahren oder sich gar in die Lüfte erheben. Ungeachtet dessen schätzt die Wissenschaftsgilde ganz besonders hoch einen Lehr- oder Forschungsaufenthalt in den Vereinigten Staaten von Amerika, einem Land, dessen Existenz auf einer beispiellosen Urvölkerausrottung und Naturzerstörung gründet. Vor dem Einfall der Europäer stand das weite Wald-, Prärie- und Wüstenland in einem stabilen ökologischen Gleichgewicht [15]. Das Verdienst des weißen Mannes besteht darin, dieses zerstört zu haben. Die aus Europa stammenden Siedler brachen, getrieben von ihrer Sucht nach Reichtum und Landbesitz, mit unglaublicher Brutalität in die nordamerikanische Natur ein und zerstörten innerhalb von 200 Jahren einen ganzen Kontinent. Innerhalb von nur zehn Jahren schlachteten sie 30 Millionen Bisons ab und entzogen den indianischen Jäger- und Sammlergesellschaften abrupt die Lebensgrundlage [15, 6]. Die absurde Natursicht der heimatlosen Europäer in einer Zeit sich entwickelnder naturwissenschaftlich-industrieller Herrschaftsansprüche bahnte ihnen den Weg. Letztlich schlägt die Zerstörung Nordamerikas durch die europäischen Einwanderer auf ihre europäische Heimat zurück. Was soll man angesichts dieses nie aufgearbeiteten Hintergrundes von den dortigen Wissenschaftlern über die Natur lernen? Um dieses Ziel zu erreichen, müsste man schon zu den verbliebenen Indianern gehen. Es gibt eindrucksvolle Überlieferungen über die Sichtweisen der Indianer hinsichtlich der europäischen Gesinnung und Lebensart [6]. Ein Beispiel greife ich heraus, weil es uns in aufrichtiger Weise demonstriert, woran es uns in unserem technisch überorganisierten Leben so sehr mangelt: „Der Lakota-Indianer war ein echter Sohn der Natur, er liebte sie, die Erde und alles, was auf ihr lebte. Diese Zuneigung steigerte sich im Alter. Alte Leute verehrten den Boden geradezu, und in dem Gefühl, einer mütterlichen Macht nahe zu sein, saßen oder lagen sie auf der Erde, so oft sie konnten... Verwandtschaft mit allen Lebewesen der Erde, des Himmels und des Wassers zu fühlen, war ein aufrichtiger und wichtiger Grundsatz im Leben... Der alte Lakota war weise. Er wusste, dass fern von der Natur das Herz des Menschen verhärtet; und er wusste: wer Pflanzen und Tiere nicht achtet, wird auch bald seine Achtung vor den Menschen verlieren. Deshalb sah er darauf, dass die jungen Leute sich dem besänftigenden Einfluss der lebendigen Natur nicht entzogen“ [16].
Auf mysteriöse Weise soll der hoch gelobte Auslandsaufenthalt Wissenschaftler in ihrer persönlichen und fachlichen Entwicklung befördern. Eine Zeitspanne des Rückzuges und der Askese in einer einsamen, komfortlosen Waldhütte würde den nervösen Wissenschaftlern besser bekommen als ein labortechnisch aufgepeppter Auslandsaufenthalt, ihre Sicht weiten, ihre verlorene Sensibilität hervorlocken, ganz sicher ihren charakterlichen Status verbessern und ihr Verhältnis zur Natur und zu ihren Mitmenschen bereinigen. Wohlmöglich schlüge dann die Naturwissenschaft eine andere Richtung ein, wenn ihre Verfechter wieder selbst zur Natur zurückfänden. In diesem Zusammenhang sollte man sich längst vergangener Kulturen entsinnen. Die Anwärter der geistigen Würdenträger unserer keltischen Vorfahren, Druiden genannt und heutzutage gern in Zauberergeschichten entweiht, lebten viele Jahre in entbehrungsreicher Weise im Walde [17], in den heiligen Hainen, bevor sie ihre Aufgaben für die Gemeinschaft übernehmen durften. Man weiß nicht mehr viel davon. Eine solche spartanische innere Einkehr mutet man keinem modernen Wissenschaftler mehr zu, obwohl sie zur Wiedererweckung seiner natürlichen Empfindungen und damit zu seiner Naturerkenntnis einen enormen Beitrag leisten würde. Lassen wir H.A. Pestalozzi zu Wort kommen: „Nur wer spürt, was da im Boden, in den Wurzeln, im Baum drin überall geschieht, also nur, wer die Zwerge spürt, kann Gott spüren, nur wer Zwerge erfährt, sinnlich erfährt, kann Gott erfahren. Oder wem der Begriff Gott nicht passt: Nur wer die Zwerge spürt, kann spüren, dass es da im Baum etwas Unerklärliches gibt, dass es in den Wurzeln etwas Unerklärliches gibt, im Boden etwas Unerklärliches gibt.“ [1] Man muss nicht von Zwergen reden, weil damit gleich wieder Gelächter und Verachtung losbrechen. Doch nur wer das Unerklärliche spürt, zu spüren in der Lage ist, gewinnt Achtung und Demut vor der Natur. „Nur die Seele kann diese Seelen erfassen, den Blütenstaub in der Glückseligkeit der Baumkronen ahnen und die Rufe und das Schweigen vernehmen, darin das göttliche Unbekannte sich vollzieht.“ [18]
Weil mich meine unnütze, stagnierende Situation im neuen Institut als frisch gebackener Postdoktorand sehr aufregte, fand ich nachts nur sehr schwer in den Schlaf und schaute bis weit nach Mitternacht Videokassetten an, die harmlose Märchenfilme spielten, um mich irgendwie zu beruhigen. Die Arbeitsgruppenseminare, in welchen Doktoranden und ausdoktorierte Wissenschaftler Vorträge über den Stand ihrer Arbeiten oder über neueste technische Errungenschaften und Geräteausstattungen hielten, fanden am Abend statt, das heißt zur Feierabendzeit um 17 Uhr, wenn man am Morgen zwischen 8 und 9 Uhr das Institut betrat. Von Begeisterungs- und Konzentrationsfähigkeit spürte man in diesen Veranstaltungen daher bei sich und bei anderen nicht mehr viel. Aber ein Wissenschaftler muss zu jeder Tages- und Nachtzeit funktionieren, geradeso wie die Pflanzen unter ihren auf die Kommastelle vorgeschriebenen, kontrollierten Lebensbedingungen in ihren geschlossenen Wachstumsschränken. Einmal erlaubte ich mir, eine solche Gähnveranstaltung zwanzig Minuten eher zu verlassen, weil sich in mir langsam Unmut ausbreitete, wieso sich den ganzen Tag über niemand um meine Einweisung in die neuen Arbeitsaufgaben kümmerte und ich dann am Abend nicht gehen durfte. Dadurch handelte ich mir am nächsten Tag eine böse Kritik des Arbeitsgruppenleiters ein.
In den üblichen Großraumbüros des Institutes saßen Doktoranden und Nachdoktoranden dicht gedrängt vor ihren Bildschirmen. Auch in den Großraumlabors ging es eng zu. Nach einiger Zeit des Herumvagabundierens eroberte ich aufgrund mehrfachen Drängens endlich einen Schreibtischplatz in einem Dreimannbüro. Nun kehrte etwas Ruhe ein in den unsteten Beginn. Ich hospitierte bei verschiedenen Kollegen und eignete mir einige zusätzliche experimentelle Arbeitsweisen an. Das Schönste an dieser Zeit aber waren die abendlichen Spaziergänge am nahe gelegenen Fluss. Das Institut lag wunderbar im Grünen. Davon blieb allerdings innerhalb der Institutsmauern nicht viel, mit Ausnahme von ein paar Zimmerpflanzen, auch wenn die gesamte Forschungseinrichtung das Wort „Pflanze“ als wesentlichen Teil ihres Namens trug. Das Innere des Gebäudes glich der Ausstattung der Räumlichkeiten meiner Doktorandenzeit: Labore voll getürmt mit kleinen und großen technischen, natürlich strombetriebenen Gerätschaften, Chemikalienflaschen, Dosen und Gläsern; und was gar nicht fehlen darf: Computer über Computer. Selbige bevölkern auch die Büros in Scharen. Ohne sie keine Wissenschaft! 1983 stellte Konrad Lorenz fest, dass der Computer und die Benutzung eines solchen zum wissenschaftlichen Statussymbol geworden sind [12]. Heute, das heißt 30 Jahre später, ist berufsmäßig ausgeübtes wissenschaftliches Arbeiten ohne Computer nicht mehr möglich, von unbezahlter, privater Forschung abgesehen. Kaum ein modernes Messgerät lässt sich ohne Computer steuern. Messdatenauswertungen funktionieren ohne Computer nicht mehr.
In einem unserer Labore stand ein altes Gerät, welches noch für einen Praktikumsversuch eingesetzt werden durfte. Für aktuelle Forschungsaufgaben wurde dieses noch funktionstüchtige System aufgrund seiner veralteten Beschaffenheit nicht mehr benutzt. Was dem betagten Analysengerät nämlich fehlte, um modernen Ansprüchen zu genügen, war ein Steuerungscomputer. Stattdessen gab es Knöpfe, die man mit der Hand drehen musste, um Gasströme und ähnliches einzustellen. Die auf das Klicken von Bildschirmsymbolen degradierte Bedienung moderner Gerätschaften existierte hier nicht. Auch der zum alten Gerät gehörende Praktikumsversuch war anschaulich und praktisch angelegt und umfasste solch klassische Arbeiten wie Einwägen, Lösungsmittelmischen, Destillieren, wobei alle Schritte elektroniklos funktionierten. Mittlerweile ist auch dieser Praktikumsversuch wegen altmodischer Technik abgeschafft worden.
Manchmal wird noch zur Verteidigung der Nützlichkeit der massenhaft eingesetzten Computer eine geglaubte Einsparung von Papier angeführt. Leider habe ich auch in Bezug darauf die Ansicht gewonnen, dass gerade aufgrund des Internets und von computerisierten Auswertungs- und Darstellungsmöglichkeiten auch auf Papierseiten auszudruckende Bilder, Texte, Graphiken und Tabellen ins Unermessliche gestiegen sind. Fast jeder Haushalt verfügt mittlerweile über einen Drucker. Wer druckte vor dem massenhaften Einzug von Computern auch in den privaten Bereich wohl zu Hause auf Papier? Und „gerade Innovationen in der Informationstechnologie sind zum Schrittmacher materieller Expansion geworden. Hardware-Erfordernisse, Energieverbräuche, Elektroschrottgebirge türmen sich zu sagenhafter Höhe auf.“ [14] Lassen wir einen anderen Autor zu Wort kommen, der sich eingehender mit der Angelegenheit auseinandersetzte: „Gut zwei Prozent des globalen Strombedarfs werden allein von den Rechenzentren dieser Welt verbraucht, die nötig sind für Computer, Datennetze, Internetserver und Telefonanlagen. So verursacht beispielsweise die Unterhaltungsindustrie mit ihren neuen Geräten wie Plasmafernsehern und MP3-Spielern einen zunehmenden Energieverbrauch. Das Internet ist ein weiterer Klimakiller, eine einzige Google-Anfrage verbraucht so viel Strom wie eine Elf-Watt-Energiesparlampe pro Stunde. Durch die Internetnutzung entstehen allein in Deutschland vier Millionen Tonnen CO2 jährlich, was zwei bis drei Prozent des gesamten Ausstoßes entspricht.“ [19]
Doch wo waren nur die Pflanzen geblieben, um die es laut Namensgebung des Institutes hier gehen sollte? Natürlich gab es die schon bekannten Phytokammern, um die „kontrollierten Wachstumsbedingungen“ zu gewährleisten. In diesen abgeschlossenen, abgedichteten Schränken kümmerten ein paar Pflänzlein dahin – winzige Exemplare auf sterilen Lösungen. Wenn man sehnsüchtig aus dem Fenster schaute, erblickte man das viele Grün der Büsche und Bäume. Doch niemand ging nach draußen, um etwas davon herein zu holen. Man hatte sich wieder einmal abgeschirmt von der Natur. Draußen herrschten ja der Wissenschaft feindlich gesinnte, weil unkontrollierte Bedingungen. Und die Molekularbiologie war angetreten, alle Lebewesen auf ihre chemischen Minimalbausteine zu zerpflücken und zu beschränken. Nukleinsäuren, Proteine, Fette, Kohlenhydrate und das Heer der sekundären Pflanzeninhaltsstoffe erkennt man nur mit Hilfe stromverbrauchender Laborgerätschaften und nach Behandlung mit einer Herde zumeist umweltschädigender Chemikalien.
Zur Beendigung meiner Probezeit, die ein halbes Jahr währen sollte und in der ich meine Eignung für das ungrüne Institut im Grünen unter Beweis stellen sollte, fehlte noch knapp ein Monat, als plötzlich eine große Unruhe ausbrach. Eine Abteilungsversammlung wurde einberufen. Was war geschehen? Auf dem Hauptbahnhof der Stadt war eine Drogenhändlerbande aufgeflogen. Der wissenschaftliche Leiter des Projektes, auf welchem ich und ein weiterer Mitarbeiter eingestellt waren, war auf irgendeine Weise in die Drogengeschäfte involviert. Es hieß damals, dass er diese Bande mit eigenständig hergestellten Drogen beliefert hatte. Obwohl er eigentlich mein unmittelbarer Vorgesetzter war, hatte ich diesen Kollegen nur ein einziges Mal in der Mensa vorgestellt bekommen. Von meinen übrigen Kollegen wurde er als Fachmann für Bioinformatik, einen besonders computerabhängigen Wissenschaftszweig, hoch gelobt. Auf mich machte dieser vielleicht 45-jährige Mann einen sehr zurückhaltenden, desinteressierten bis verwirrten Eindruck. Ein Gespräch mit mir kam nie zu Stande, obwohl wir auf demselben Forschungsprojekt arbeiteten. Einmal begegnete er mir mit dem Fahrrad in der Stadt, wobei er mit verschwommenem, geistesabwesendem Blick direkt an mir vorüber fuhr, ohne meinen Gruß zu erwidern. Über diese Begegnung wunderte ich mich damals sehr. Im Nachhinein brauchte man sich nicht mehr zu wundern. Die überschwengliche Charakterisierung des kurz darauf wegen eines Drogendeliktes Angeklagten durch Mitarbeiter unserem Institut benachbarter Einrichtungen in der Mitteldeutschen Zeitung vom 24.10.2003 „als hochqualifiziertes, beliebtes und hilfsbereites Multitalent“ [20] bleibt mir unbegreiflich. Gegenüber seinen unmittelbaren Projektmitarbeitern entfaltete er keine der genannten Eigenschaften. Im Einfamilienhaus des gepriesenen Wissenschaftlerkollegen hob die Polizei ein komplett ausgestattetes Drogenlabor aus. Laut einem Zeitungsbericht soll das gesamte Haus sowie die Gartenlaube mit unterschiedlichen Chemikalien zugestellt gewesen sein. Es wurde gemunkelt, dass diese Chemikalien wie auch Laborutensilien und Messgeräte zur Prüfung von Zusammensetzung und Reinheit der synthetisierten Drogen zum Teil aus unserem Institut stammten. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), welches das Forschungsprojekt finanzierte, auf dem besagter Drogenhersteller, ein Informatiker und ich eingestellt waren, zog sofort seine Mittelzuwendung an das Institut zurück. Damit war die finanzielle Grundlage meines Beschäftigungsverhältnisses entzogen, denn meine projektfinanzierte Aufgabe wäre es gewesen, die Messdaten für die computergestützten Auswertungen der beiden Informatiker zu produzieren. Die drittmittelbezogene Anstellung am Institut machte es möglich bzw. sogar erforderlich, meinen Arbeitsvertrag trotz meiner vollkommenen Nichtbeteiligung am kriminellen Geschehen zu kündigen. Da meine arbeitsvertraglich geregelte Probezeit noch nicht beendet war, musste das Institut nicht nach anderen Geldquellen für die Sicherung meines Arbeitsplatzes suchen, sondern befand sich in der glücklichen Lage, mich ohne Angabe von Gründen entlassen zu dürfen. Mein Vorsprechen beim administrativen Leiter der Forschungseinrichtung endete mit einer Schimpfsalve, die er über mich ergoss: „Dem Institut ist ein hoher finanzieller Schaden geschehen!“ Wie ich mir da zu erlauben wagte, mich über meinen Rausschmiss zu beschweren! Der Personalrat half mir auch nicht und vermutete, dass auch Wissenschaftler aus anderen, benachbarten Instituten in die berauschenden Drogengeschäfte verwickelt seien. Ich erfuhr nie, ob dies stimmte oder bloß einem aufgescheuchten Buschfunk entstammte. An die Öffentlichkeit gelangte jedenfalls nichts Weiteres. So musste ich mich fügen und akzeptieren, dass meine ganze fünfmonatige, mühsam erkämpfte Einarbeitung in verschiedenste Techniken und Gerätebedienungen umsonst gewesen war. Obwohl ich mich freiwillig über mehrere Wochen in eine weitere bioanalytische Technik in Kombination mit einer komplizierten, unendliche Optionen bietenden Auswertesoftware eingearbeitet hatte, wurde mir keine Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung angeboten. Projektgelder weg, alles weg. Wenigstens schrieb mir der Institutsleiter eine sehr gute Beurteilung ins Arbeitszeugnis und erklärte schriftlich meine unverschuldete Entlassung. Viele Kollegen schimpften und stellten sich auf meine Seite. Eine Laborantin schlug vor, dass ich mich an die Öffentlichkeit wenden sollte, zum Beispiel an die Bildzeitung. Ich fühlte mich aber so verraten und erschlagen, dass ich keine Kraft dafür aufbringen konnte. Also meldete ich mich arbeitslos. Wochenlang kämpfte ich mit Übelkeit und Magenschmerzen. Nicht einmal Sommerurlaub hatte ich aufgrund der Probezeit genehmigt bekommen, und jetzt im November sollte ich noch den gesamten Halbjahresurlaub verbrauchen. Im Dezember befand ich mich im institutslosen Leerlauf, aber nicht im aktivitätslosen. Selbstverständlich und stets dienstbereit nutzte ich die Zeit, um „auf mein Profil passende“ Stellenangebote zu suchen. Aufgrund einer abgeschickten Bewerbung wurde ich in ein außeruniversitäres Forschungsinstitut zum Bewerbungsgespräch mit anschließendem Vortrag eingeladen. Der Arbeitsgruppenleiter erwartete mich in der großen Eingangshalle des modernistischen Stahl-Glas-Gebäudes. In diesem weitläufigen Raum herrschte eine ungeheuerliche Unruhe: viele Leute stürzten scheinbar kopflos hin und her; an einem Empfangsstand durfte man inmitten des tiefsten Sachsenlandes nur auf Englisch seine Fragen vortragen. Überhaupt dominierte das Englische als Institutssprache. Ich fragte mich, wie angesichts des grellen, lauten, hektischen Treibens ein konzentriertes wissenschaftliches Arbeiten in diesem Hause möglich sein konnte. Der bereits genannte Arbeitsgruppenleiter, in dessen Bereich die wiederum auf ein Jahr befristete Postdocstelle ausgeschrieben war und über den eine Kollegin aus dem ungrünen Pflanzeninstitut wegen seiner fachlichen Genialität schwärmte, erzählte mir in wenigen, knappen, englischen Sätzen mit wichtiger, aber eingefrorener Miene, welch anregende Atmosphäre in diesem Hause herrsche. Den ganzen Tag über verzog er sein erstarrtes Gesicht nicht ein einziges Mal zu einem Lächeln. Später offenbarte mir im Labor seine stark geschminkte Frau mit ebenfalls hoch bedeutsamem, aber schmunzellosem Mienenspiel, dass hier alle Mitarbeiter „Fighters“ (zu deutsch Kämpfer) seien, weil sie unablässig um ihre Messergebnisse kämpfen und sie dann vor jedem verteidigen. Zum Schluss sah sie mich mitleidig an, wohl ahnend, dass ich kein Kämpfertyp bin. Mit einem der zur Arbeitsgruppe gehörenden Doktoranden begab ich mich zum Mittagessen in die ebenso laute, unruhige Kantine. Dabei äußerte sich der junge Mann nicht gerade wohlwollend über die anderen Doktoranden der Arbeitsgruppe, die seiner Ansicht nach keine Ahnung hätten, aber trotzdem auch mal gern etwas sagen würden. Um mich von der eigenartigen Atmosphäre in diesem Institut zu erholen, brauchte ich im Anschluss einen zweistündigen Spaziergang durch einen nahe gelegenen Schlosspark. Einen ganz ähnlichen Eindruck von einer Forschungsgruppe und besonders von ihrem Leiter gewann ich in einer anderen Forschungseinrichtung, wo ich ebenfalls zu einem Bewerbungsgespräch erscheinen durfte. In diesem Fall handelte es sich um eine auf zwei Jahre befristete postdoktorale Anstellung. Dem ebenfalls relativ jungen Arbeitsgruppenleiter mangelte es an jeglichem Humor. Dafür hob er umso mehr seine Bedeutsamkeit und seine Verdienste bezüglich des Einwerbens von Finanzmitteln hervor. Als Mitarbeiter einstellen wollte mich keiner der beiden wichtigen Wissenschaftsleuchttürme. Schließlich nahm ich Kontakt zu einem jungen Professor auf, welcher kürzlich an meine Herkunftsuniversität, wo ich studiert hatte, neu berufen worden war. Gegen Ende meiner Promotionszeit hatte ich ihn schon einmal besucht, weil mich seine fachliche Ausrichtung interessierte. Zwar war mir dieser aus westlicher Himmelsrichtung einmarschierte Professor von der ersten Minute an unsympathisch gewesen, aber für einen Wissenschaftler wie mich zählte nur das objektive Lehr- und Forschungsgebiet, was er vertrat. Gefühle und subjektive Empfindungen hatten in der Arbeitswelt nichts zu suchen; so meinte ich damals angesichts des allgegenwärtigen Druckes, bloß nicht in die Arbeitslosigkeit zu schlittern. In innerbetrieblichen Organisationsstrukturen gelten Gefühle als wichtigster Störfaktor und sind zu beseitigen [1].
Der neu berufene Professor befasste sich mit einem Fachgebiet, das geradezu ideal auf meine Ausbildung und Berufserfahrung passte. Kenntnisse aus dem Biologiestudium, dem Analytikaufbaustudium und meine angehäuften praktischen Erfahrungen als Doktorand und abgehackter Nachdoktorand in verschiedenen Zweigen der Chemie könnte ich bei ihm in Zukunft vereinen! Welch hoffnungsvolle Aussichten! Der junge Professor hatte auch gerade die Anstellung eines anderen Postdocs nicht verlängert, dessen Nachfolge ich wie in einer Ironie des Schicksals bereits im ungrünen Pflanzeninstitut angetreten hatte. An beiden Orten wurde munter über diesen verflossenen Postdoc gelästert und geschimpft. Darum drängte sich mir zunächst der Eindruck auf, dass dieser junge Mann ein ziemlicher Trottel gewesen sein muss. Erst später, als ich ihn persönlich kennen lernte, erkannte ich die Boshaftigkeit und Gemeinheit der über ihn her ziehenden Kollegen. Welch unmenschlicher, unkollegialer Umgang doch unter „gebildeten“ Wissenschaftlern herrschte! Doch das war erst der Anfang! Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz ordnete seinerzeit das „Mobbing“ den inhumansten Verhaltensweisen zu, zu denen normale Menschen gebracht werden können. Es liegt vielen der Sozialpsychologie bekannten Projektionsphänomenen zu Grunde, zum Beispiel der typischen Suche nach einem „Sündenbock“ für eigenes Versagen [10]. Und hochgebildete, hochbezahlte Universitätsprofessoren fördern und unterstützen Mobbing gegen Minderheiten oder ihnen unpässliche Mitarbeiter, betreiben es gar selbst, wie ich im Folgenden noch berichten werde.
Ein zwei Jahre nach dem Drogenvorfall erschienener Spiegel-Online-Artikel [21] verriet dann, dass der Projektleiter aus dem ungrünen Institut seine zu Hause hergestellten Drogen an Freunden und Bekannten testete und dabei deren Puls und Blutdruck kontrollierte. Das absonderliche Vorgehen wird in besagtem Zeitungsartikel als Forscherdrang bezeichnet. Vor Gericht behauptete der Verteidiger, „sein Mandant habe nur seine wissenschaftlichen Ambitionen verfolgt“ und mein einstmaliger Projektleiter fügte hinzu, dass er probierte, wie die Substanzen der Designerdroge Ecstasy für psychotherapeutische Zwecke nutzbar wären. Letztendlich wurde er lediglich zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe und einer Geldstrafe von 5000 Euro verurteilt, obwohl in älteren Zeitungsartikeln, die unmittelbar nach seiner Verhaftung erschienen waren, mit einer Haftstrafe von bis zu 15 Jahren gerechnet worden war. Immerhin hatte er die Drogen wenigstens zum Teil über Zwischenhändler an Drogenabhängige verkauft, so hieß es damals [22].