Читать книгу Der Hundertjährige Krieg - Anne Curry - Страница 7
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Die Bezeichnung ‚Hundertjähriger Krieg‘ für den in Wirklichkeit 116 Jahre – von 1337 bis 1453 – andauernden spätmittelalterlichen Konflikt zwischen England und Frankreich ist eine vergleichsweise junge Erfindung; sie datiert aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Auch vor 1337 hatten die beiden Monarchien bereits Krieg gegeneinander geführt. Der Grund dieser Auseinandersetzungen – in einem zutiefst wörtlichen Sinn – hatte jeweils in den Landbesitz- beziehungsweise Lehnsverhältnissen bestanden, durch deren Verflechtungen die Herrscher beider Länder verbunden waren. Die Könige von England waren zugleich Herzöge von Aquitanien, einem strategisch wie wirtschaftlich bedeutsamen Landstrich Südwestfrankreichs (und Hauptquelle des englischen Weinimports), aber sie hatten dort nicht die Hoheitsrechte inne, über die sie in ihrem englischen Königreich verfügten: Das Herzogtum Aquitanien war ein Lehen des französischen Königs. Was den Krieg von 1337 von den vorherigen Konflikten unterschied, war, dass nun englische Könige Anspruch auf die französische Krone erhoben.
Schon seit langem diskutieren Historiker darüber, ob es dem englischen König Eduard III. wirklich ernst war, als er sich 1340 in Gent zum König von Frankreich erklärte. Hatte er tatsächlich vor, seiner englischen Krone die französische hinzuzufügen? Oder wollte er vielmehr – mit Blick auf die ärgerlichen Landstreitigkeiten, die ihn und seine Vorgänger als Herzöge von Aquitanien schon so lange belasteten – das Druckmittel seines plausibel vertretbaren Erbanspruchs auf den französischen Thron ausspielen, um endlich eine Einigung zu erzielen? Diese zweite Möglichkeit leuchtet ein, wenn wir den 1360 geschlossenen Frieden von Brétigny in Betracht ziehen. In diesem Vertrag verzichtete Eduard auf seinen Titel ‚König von Frankreich‘ – und im Gegenzug erfolgte eine neue Grenzziehung zu seinen Gunsten. Auch stellt sich die Frage, ob wir Eduards 1369 erneut erhobenen Anspruch ernst nehmen können – Karl V. von Frankreich hatte damals den Krieg unter Ausnutzung von Schlupflöchern im Friedensvertrag wieder aufgenommen –, angesichts der Bereitwilligkeit, mit der Eduard seinen früheren Anspruch neun Jahre zuvor aufgegeben hatte. Im Verlauf der nächsten dreißig Jahre schlugen sich die Engländer so schlecht, dass es wirklich schwer fällt, den Thronanspruch anders denn als leere Drohung aufzufassen.
Dennoch nannten sich Eduards Nachfolger Richard II., Heinrich IV. und Heinrich V. ausnahmslos ‚König von Frankreich’, und alle führten sie Krieg gegen die französische Krone. War es ihr vorrangiges Kriegsziel, diese Krone für sich zu erringen? War dies die Motivation für die berühmte Invasion Heinrichs V. im Jahr 1415? Wie wäre es unter dieser Prämisse nachzuvollziehen, dass er den Titel im Vertrag von Troyes 1420 so bereitwillig wieder aufgab? Und warum waren, andererseits, die Franzosen bereit, Heinrich zum gleichen Zeitpunkt als Erben und Regenten für ihren bisherigen Herrscher Karl VI. einzusetzen, wodurch Karls eigener Sohn (der spätere Karl VII.) enterbt wurde? Dieser Schachzug, der den Weg zu einer englisch-französischen Doppelmonarchie bereiten sollte, erschien den Zeitgenossen wohl nicht weniger außergewöhnlich als uns heutzutage.
Wie es sich allerdings ergab, starb Heinrich V. im Jahr 1422, nur wenige Wochen vor Karl VI. Also war es sein neun Monate alter Sohn, der als Heinrich VI. König beider Reiche werden sollte. Im November 1429 wurde er in der Abtei von Westminster zum König von England gekrönt; die Krönung zum König von Frankreich fand im Dezember 1431 in der Kathedrale von Notre Dame zu Paris statt. Heinrichs zweite Krönung legt die Einschätzung nahe, die Engländer hätten zu diesem Zeitpunkt den Hundertjährigen Krieg endgültig gewonnen gehabt – doch ihr Triumph war nur von kurzer Dauer. Weder ein Friedensvertrag noch eine Königskrönung konnte die Franzosen dazu bewegen, einen Herrscher zu akzeptieren, der zugleich König ihrer ärgsten Feinde war.
Im Jahr 1429 begann das Blatt sich zu wenden, nicht zuletzt durch die Erfolge Johannas von Orléans, die dieses Stadium des Hundertjährigen Krieges um eine wunderliche, noch immer nicht restlos erklärte Dimension bereichern. Bis 1450 waren die Engländer auch aus ihrer letzten Hochburg in der Normandie vertrieben; die Gascogne fiel drei Jahre später, 1453. Nur Calais, das Eduard III. 1347 im Anschluss an seinen Vorjahressieg bei Crécy erobert hatte, blieb fest in englischer Hand – wohl kaum ein reeller Gegenwert für das Führen des Titels ‚König von Frankreich‘! Und doch beharrten die englischen Monarchen bis 1801 auf ihm, zweieinhalb Jahrhunderte nachdem selbst Calais, dieser letzte Brückenkopf auf französischem Boden, im Jahre 1558 verloren gegangen war.
Die Beschäftigung mit dem Hundertjährigen Krieg wirft viele Fragen auf: einerseits nach den Kriegszielen der englischen Könige, andererseits nach den französischen Reaktionen auf diese. Auch aus militärgeschichtlicher Sicht handelt es sich um einen überaus aufschlussreichen Konflikt, nicht zuletzt wegen seiner Schlüsselrolle bei der Herausbildung und Weiterentwicklung von Infanterie und Artillerie, die gemeinsam zu einer regelrechten Revolution des Kriegswesens geführt haben. Die Kriegführung im Hundertjährigen Krieg nahm eine ganze Reihe von Gestalten an: man kämpfte zu Wasser und an Land; es gab weit ausgreifende Überraschungsangriffe berittener Kontingente (chevauchées) und hochsystematische Eroberungs- und Besatzungsstrategien; Schlachten und Belagerungen ‚wie aus dem Lehrbuch‘ standen neben kurzen Perioden heftigen Blitzkriegs, kleineren Scharmützeln, inoffiziellen‘ Rollkommandos und Piraterie. Obwohl der Konflikt sich in der Hauptsache auf französischem Boden abspielte, wurde auch England zum Schauplatz von Kriegshandlungen: durch Überfälle der Franzosen auf die englische Südküste sowie im Norden durch Vorstöße der Schotten, die mit Frankreich verbündet waren.
Auch in der Herausbildung Englands wie Frankreichs als moderne Nationalstaaten spielte der Hundertjährige Krieg zweifellos eine entscheidende Rolle. Um den Krieg finanzieren zu können, wurden bestehende Besteuerungssysteme ausgebaut und neue entwickelt. Die Notwendigkeit effektiver militärischer Organisation befeuerte die Herausbildung komplexer Verwaltungsstrukturen sowie, in der Tendenz, die Einrichtung stehender Heere. Wenige Erfahrungen erzeugen ein solch ausgeprägtes nationales Zusammengehörigkeitsgefühl, wie es durch einen Krieg hervorgerufen wird – insbesondere, wenn dieser Krieg lang andauert. Die englische Obrigkeit wurde nicht müde, ihren Untertanen die drohende Gefahr einer französischen Invasion auszumalen, die nicht zuletzt den Untergang der englischen Sprache bedeuten würde. Es kann also nicht verwundern, dass diese Sprache – mit ihr auch das Gefühl von englishness, für das sie stand – im Hundertjährigen Krieg große Beförderung erfuhr. Obwohl Kriege in jener Zeit, im Grunde genommen, noch immer um der Rechte einzelner Monarchen willen geführt wurden, entspann sich der Hundertjährige Krieg doch, wie man mit einiger Berechtigung sagen kann, zwischen den beteiligten Nationen und ihren Bevölkerungen – auch und gerade, weil deren Herrscher es genau darauf anlegten.
Hundert Jahre sind eine lange Zeit. Dies galt selbst im Mittelalter, als Ereignisse und Neuigkeiten sich – im Vergleich mit unseren heutigen Kommunikationsmitteln – nur ausgesprochen langsam verbreiten konnten. Während wir durchaus in der Lage sind, bestimmte Leitmotive des gesamten Kriegsverlaufes und seiner langfristigen Konsequenzen zu identifizieren, sollten wir doch die verschiedenen Phasen des Konflikts voneinander abgrenzen. Selbst diese feinere Gliederung kann nur schwerlich die tiefgreifenden, eine ganze Nation betreffenden Veränderungen abbilden, wie sie bisweilen von einem einzigen Ereignis hervorgerufen werden: von einer kurzen Zeitspanne wie jenen Stunden am 19. September 1356, in denen sich bei Poitiers die Gefangennahme Johanns II. von Frankreich ereignete, und die letztlich der Grundstein waren für den englischen Triumph im Frieden von Brétigny 1360; oder von einem Vorfall wie dem Mord an Johann Ohnefurcht, dem Herzog von Burgund, am 10. September 1419, der, begangen von Anhängern des Dauphins, 1420 zur im Vertrag von Troyes vollzogenen Annahme Heinrichs V. als Thronerbe und Regent von Frankreich führen sollte.
Auf der lokalen Ebene einer ‚Mikrogeschichte‘ einzelner französischer Dörfer wird man sicher den wohl kurzen, doch oft genug verheerenden Durchzug englischer Truppen oder plündernder routiers (und die Verwüstungen vor Ort) als den Scheitelpunkt des Hundertjährigen Krieges ansehen – diese Art mikroskopischer Detailtreue jedoch muss in einem Buch von dem Umfang des vorliegenden Bandes notgedrungen verloren gehen. Vielmehr soll es das Ziel der folgenden Ausführungen sein, einen Überblick über den Verlauf des Hundertjährigen Krieges als ganzem zu vermitteln.