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Komplex: Was in vernetzten Systemen passiert

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Komplexe Systeme steuern sich in hohem Maß selbst. Nehmen wir als Anschauungsmaterial die komplexesten knapp anderthalb Kilo, die die Natur je erschaffen hat: unser Gehirn. Es ist der beste Beweis für funktionierende Selbstorganisation. Kein Neuronenklumpen sagt so was wie: »Wenn ihr Vorschläge habt, reicht die mal hoch, damit ich entscheiden kann, wie wir diesen Menschen zum Laufen bringen.« Vielmehr passt sich unser Denkapparat ganz ohne Befehl von »oben« in einem permanenten Selbstlernmodus blitzschnell an die sich laufend ändernden Außenbedingungen an. Dazu greift er auf einen Mix aus genetischen Programmen, gespeicherten Erfahrungen, etablierten Routinen und vorherrschenden Mindsets zurück. Seine Verschaltungen laufen nicht linear, sondern über vernetzte Knotenpunkte, etwa 20 an der Zahl. So kann unser Hirn auf mehr als einem Weg zu guten Ergebnissen kommen. Zudem bezieht es eine hohe Zahl heterogener Sinneseindrücke mit ein, bevor es entscheidet. Diese Eindrücke werden auf Relevanz überprüft und dann gewichtet. Schließlich kontrollieren permanente Rückkoppelungsschleifen, ob eine getroffene Entscheidung die richtige war.

Unser Gehirn ist ein Musterbeispiel für funktionierende Selbstorganisation.

Nervenbahnen, die nicht regelmäßig benutzt werden, verwildern wie Trampelpfade im Wald. »Use it or loose it« nennt man dieses Prinzip. Neuronale Baupläne werden andauernd aufgebaut, umgebaut und auch wieder abgebaut. Stockt alles und führt nichts zum Ziel, kennt das Gehirn sogar einen Selbstreinigungsmodus. Nicht mehr dienliche Synapsenverschaltungen werden komplett weggeräumt, um Platz zu schaffen. Es kommt zu einer neuronalen Neuvernetzung. Als die Menschen sesshaft wurden, war das zum Beispiel der Fall. Die Fähigkeit, in freier Natur zu überleben und seinem Jagdglück zu frönen, verkümmerte kläglich. Sicher haben damals Berufspessimisten vor dem kollektiven Verhungern gewarnt. Doch siehe da: Die Sesshaftigkeit hat Zivilisation und damit auch Kooperation in großem Stil überhaupt erst ermöglicht. »Die Steinzeit ist nicht zu Ende gegangen, weil den Menschen die Steine ausgingen, sondern weil sie sich neuen Technologien zuwandten«, so die Archäologen.

Auch die Mutter der Digitalisierung, das Internet, hat keinen Boss. Im Internet vernetzen sich die Menschen zu Schwärmen, die mal in die eine und mal in die andere Richtung ziehen, immer auf der Suche nach Neuem, Anderem, Besserem. Dabei geht es nicht nur um eine Vernetzung von Daten, sondern auch um die Vernetzung von Wissen. Wie das funktioniert? Im Web ist dies ein sich selbst steuernder permanenter Prozess, der über vielerlei Knotenpunkte, also Plattformen, Portale und soziale Netzwerke, läuft.

Wenn die Komplexität zunehmend steigt, sind sich selbst organisierende Strukturen tauglicher als starre Systeme. In Netzwerken gibt es kein Oben und Unten. Weil Netzwerke sich dezentral organisieren, sind sie schnell, anpassungsfähig, robust und flexibel. Sie sind ein Brutkasten für die Kreativität genialer Köpfe, die ideenreich Neues hervorbringen können und wollen. Doch Kreativität ist ein sensibles Gewächs, das die richtigen Umstände braucht. Autonomie und ein teilendes Miteinander gehören dazu. Innovative Energie und damit auch Disruptionen brauchen also eine vernetzungsfreundliche Organisation. Und sie brauchen angstfreie Räume. Deshalb wird in florierenden Jungunternehmen auch so viel Wert auf ein Wohlfühlklima gelegt. Reale Begegnungen, ein angenehmes Umfeld, intensiver Austausch und gute Stimmung gehören dazu. Nur wem es gut geht, der macht gute Arbeit.

Angst tötet Kreativität und innovative Energie.

Überall im Unternehmen müssen »Möglichkeitsräume mit Innovationspflicht« geschaffen werden, in denen eigeninitiatives Handeln den Vorzug vor Direktiven erhält. Um dabei gut voranzukommen, sind umfangreiche Freiheitsgrade, Vertrauen, kurze Entscheidungswege, ein Höchstmaß an Flexibilität und eine kollaborative Vernetzung vonnöten. Analog den Knotenpunkten werden Brückenbauer gebraucht, die als flinke Weichensteller für optimale Verschaltungen sorgen. So kann es gelingen, die kollektive Intelligenz der besten Ratgeber zu mobilisieren, die es da draußen gibt: der eigenen Mitarbeiter und der sozial vernetzten Kunden. Pyramidale Strukturen sind dazu nicht geeignet. Weil diese nur in eine Richtung zeigen, nämlich von oben nach unten, verbauen sie den Blick auf andere, womöglich weitaus bessere Wege zum Ziel.

Ein wichtiger Aspekt an dieser Stelle: Selbstorganisation ist eine Wahl. Das hat mit dem inzwischen vielfach üblichen »Empowern« der Mitarbeiter, also der »gnädigen« Abgabe von Macht, nichts zu tun. Ermächtigung wird von oben gewährt, insofern ist sie nur eine abgemilderte Spielart des alten Systems. »Enablen« hingegen, also das Möglichmachen, geschieht auf Augenhöhe mit dem Ziel einer zunehmenden Autonomie.

Selbstorganisation bedeutet natürlich nicht, dass alles sich komplett selbst überlassen bleibt und nach dem Prinzip »irgendwie« funktioniert. Ein grundlegender Rahmen ist unumgänglich, damit nicht alles im Chaos versinkt. Unbestreitbar braucht es in manchen Fällen auch strikte Ablaufpläne, wie etwa im Flugverkehr und bei der Feuerwehr. Doch grundsätzlich dürfen Ordnungssysteme nie so einengend sein, dass dadurch Anpassung verlangsamt und Fortentwicklung ausgebremst wird.

Auch die Wikipedia, eines der eindrücklichsten Beispiele für Selbstorganisation, hat ein klares Regelset, das Wildwuchs verhindert und die Webgemeinde vor Fake News bewahrt. Was wenig bekannt ist: Nupedia, die Vorläuferin der Wikipedia, ist mit Pauken und Trompeten gescheitert. Und warum? Zunächst durften nur ausgewiesene Experten Enzyklopädie-Einträge schreiben. Hierzu wurde ein siebenstufiger Prozess mit Zuweisung, Doppelgutachten, Zwischen- und Endkontrolle definiert. Nach 18 Monaten und 250 000 ausgegebenen US-Dollar hatte die Nupedia 12 fertige Artikel und 150 im Entwurfsstadium.15 Anfang 2001 stellten Jimmy Wales und Larry Sanger dann auf eine offene Verfahrensweise um, sodass jeder seitdem unter Beachtung einiger weniger Vorgaben Einträge verfassen und redigieren kann. So begann der überwältigende Siegeslauf eines Disruptors. Ende 2017 stand das universell zugängliche Onlinelexikon mit 47 Millionen Artikeln in 295 Sprachversionen unter den meistaufgerufenen Webseiten der Welt nach Google, YouTube, Facebook und Baidu auf Platz fünf.16

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