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Ambidextrie: Wie sich das Sowohl-als-auch manifestiert

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Kaum ein Wort kann das, was wir derzeit erleben, besser beschreiben als Ambidextrie. Im ursprünglichen Sinn bedeutet es Beidhändigkeit. Philosophisch betrachtet ist es die Gleichzeitigkeit des Ungleichen, eine Paradoxie. Organisationale Ambidextrie beschreibt die Fähigkeit eines Unternehmens, zugleich effizient und flexibel zu sein. Das bedeutet, nicht im konkurrierenden Entweder-oder zu agieren, sondern im kollaborierenden Sowohl-als-auch das »Beste aus beiden Welten« zusammenzuführen.

Ambidextrie umfasst auch das Wechselspiel von Exploitation, dem Ausschöpfen von Bestehendem, und Exploration, dem Erkunden von Neuem auf unbekanntem Terrain. Ferner geht es um das Geschick, zeitgleich in zwei Welten zu wandeln: im Spannungsfeld zwischen Kurz- und Langfristigkeit, Daten und Intuition, Kontrolle und Autonomie, Tradition und Disruption, Alt und Jung, männlicher und weiblicher Psyche, menschlicher und künstlicher Intelligenz. Brückenbauer, zu denen wir später kommen, sind überaus nützlich, um den jeweiligen Spagat mit Bravour zu meistern.

Im Innovationsvorzeigeland Estland bezeichnet man eine Person als »Sild«, also als Brücke, wenn sie es vermag, zwei unterschiedliche Welten zu verbinden. Das ist dann stets ein Kompliment. Denn eine solche Person versteht beide Perspektiven, so fremd sie auch sein mögen, und schafft Verständnis. Eine estnische Freundin von Alex, Elina, verkörpert genau das. Sie ist einerseits eine knallharte PR-Spezialistin und gut in der estnischen Regierung vernetzt. Außerdem lebt sie ihre Verbindung zur Natur und veranstaltet spirituelle Teezeremonien und Frauen-Workshops. Estlands Wirtschaft hat seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 vor allem durch die frühe Hinwendung zur Digitalisierung eine beeindruckende Erfolgsgeschichte hingelegt. Ambidextrie ist quasi in die Erziehung eingebaut. Analog und digital kommen wie aus einem Guss. »Jeder Este weiß, wie man ein Kartoffelfeld kultiviert, und bedient genauso problemlos die allumfassenden digitalen Bürgerschnittstellen«, so Elina.

Zweigleisigkeit ist also ein möglicher und zugleich beschleunigender Übergangsweg. Viele Unternehmen stecken nämlich in einem Dilemma: Zerschlagen sie ihr etabliertes Geschäftsmodell, bleiben die Gewinne, die erwirtschaftet werden müssen, um ihren vielfältigen Verpflichtungen nachkommen zu können, zunächst aus. Zudem gibt es vielerorts Restriktionen durch Börsenvorschriften, Tarifverträge und geltendes Recht. So hat Bahnbrechendes in tradierten Organisationen oft sehr schlechte Karten. Der Ausweg aus diesem Dilemma: Man gründet aus, dockt an Innovationszentren an und / oder arbeitet mit passenden Start-ups zusammen, was wir in Kapitel sieben ausführlich betrachten. Disruptionen beginnen immer in einer Nische oder an den Rändern einer Organisation. Kleine Einheiten können zudem die Wachstumschancen in zu Beginn meist kleinen Märkten wesentlich besser nutzen.

In seinem wegweisenden Werk The Innovator’s Dilemma hat Clayton M. Christensen, Professor an der Harvard Business School, bereits 1997 darauf hingewiesen, dass klassischen Organisationen disruptive Innovationen nur dann gelingen, wenn sie diese in kleine Einheiten auslagern und nach einer komplett anderen als der üblichen Managementlogik entwickeln.19 John Paul Kotter, weltweit anerkannter Experte für Veränderungsmanagement, schlug 2012 in einem viel beachteten Beitrag für die Harvard Business Review eine temporäre Parallelorganisation vor, die er »duales System« nannte.20 Hierbei entsteht neben der klassischen Aufbauorganisation eine zusätzliche Netzwerkorganisation, die sich ohne die Repressalien einer formellen Hierarchie schnellen, lukrativen Innovationen widmen kann. Im Gegensatz zu einem ähnlichen älteren Konzept von Peter Drucker wird dieses Gebilde nicht abgetrennt, sondern es agiert komplementär zur bestehenden Organisation.

Ambidextrie betrifft die Geschäftsmodelle genauso wie die Arbeitsweisen und das Führungsverhalten. Das Beste aus beiden Welten heißt demnach: Zunächst trennt man sich konsequent von veralteten Produkten, Methoden und Mindsets. Danach sorgt man für ein traditionelles Standbein und ein agiles Spielbein. Man kapitalisiert die derzeitigen Renditebringer und beginnt – abseits des Unternehmenszentrums – vehement mit etwas ganz Neuem. Insofern gilt es einerseits, die Ertragskraft der Kernaktivitäten zu sichern. Das laufende Geschäft muss die Innovationen mitfinanzieren, solange man nicht von Letzteren leben kann. Andererseits geht es darum, Jungunternehmer-Qualitäten und Pioniergeist zu entwickeln, sich also innovativ, rasend schnell und risikoaffin zu bewegen. Organisational gilt das Gleiche: Verschiedene Einheiten agieren noch mehr oder weniger klassisch, andere arbeiten bereits komplett selbstorganisiert.

Eine Trennung zwischen »Core-Business« und »Future-Business« kann sinnvoll sein.

Selbstorganisierte Einheiten orchestrieren sich, ohne in formelle Hierarchien eingebunden zu sein, mithilfe agiler Methoden autonom. Nur so können sie Innovationen schnell entwickeln und in den Markt katapultieren. Hierzu braucht es neue Prozesse, neue Umgangsformen und neue Qualifikationen, wie wir in Kapitel vier, fünf und sechs ausführlich zeigen. Empfehlenswert ist es aus unserer Sicht, zunächst eine kleinere Zahl von Bereichen auf Selbstorganisation umzustellen. Schnell wird der Rest der Organisation allerdings merken: Diese sind sehr viel flotter unterwegs. Zudem macht das Arbeiten dort richtig viel Spaß. Und es ist weit produktiver. Die Ambidextrie ist somit ein Brückenkopf für den Übergang in die Next Economy und ein Zwischenschritt auf dem Sprung in die Next Organisation. Die Kunst dabei? Das Zusammenspiel von klassischen und selbstorganisierten Einheiten sowie von Mutterhaus und ausgelagerten Business-Units zu meistern. So gilt es, im beidhändigen Sowohl-als-auch eine Balance zu finden, sich zu synchronisieren und gegenseitig zu befruchten, anstatt sich in die Quere zu kommen. Bewährte Ordnungsstrukturen sind eben hie und da durchaus noch relevant, vor allem da, wo es gut strukturierbare Aufgaben unter vorhersehbaren Marktbedingungen in einem stabilen Umfeld gibt. Doch je dynamischer das Marktgeschehen wird, desto mehr Selbstorganisation wird gebraucht, um schnelle Anpassungen möglich zu machen. Dabei benötigen auch autonome Einheiten ein Mindestmaß an Struktur und Ordnung, Routinen und Regeln. Was wir hingegen quer durch die gesamte Unternehmenswelt sicher nicht brauchen: einen Rückfall in das alte System aus Dominanz, Befehl und Gehorsam.

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