Читать книгу Ja. Aber... - Annebärbel Dr. Jungbluth - Страница 2
Das Abenteuer Leben beginnt Als Heiden in Kummerow
ОглавлениеAm Rande der großen Stadt, wo Straßennamen auf Promenade enden, Allee, Weg oder Steg, wo Vögel singen, wo Nachbarn sich kennen und grüßen, hier wurde ich geboren, hier habe ich meinen ersten Atemzug getan.
War jedoch mein erster Schrei ein Freudenschrei?
Plötzlich war es furchtbar kalt und laut und hell.
Atmen sollte ich auch alleine.
Mich hatte niemand gefragt, von wem ich in die Welt
geschickt werden wollte, wann und wohin
und ob überhaupt.
Es konnte nur ein Schrei der Empörung sein.
Enge, kratzende Dinge zog man mir an.
Vor Erschöpfung schlief ich ein, vorsichtshalber
mit geballten Fäusten.
Es dauerte nicht lange, so wurde ich vor Hunger wach.
Auch so ein unangenehmes neues Gefühl. Aber schreien
konnte ich schon und mich bemerkbar machen.
Die ersten Tage verbrachte ich mit Trinken und Schlafen. Die Ruhe täuschte. Mein kleines Gehirn ratterte, funkte und knisterte in allen Furchen und Synapsen. Jetzt musste sich zeigen, ob alles richtig funktionierte, ob alles vorhanden war, um gewappnet zu sein für das große Abenteuer Leben.
Zwar wurde ich nicht in einem Maharadscha-Palast geboren, nicht in einem bitterkalten Iglu, aber auch nicht in einer kargen Hütte in Afrika. Ich konnte mit meinem Häuschen am Rande Berlins ganz zufrieden sein. Nur war der Oktober 1939 nicht der günstigste Zeitpunkt.
Mit jedem neuen Tag konnte ich Interessantes entdecken. Zuerst trauten sich meine Augen, die Helligkeit zu testen. Ich blinzelte und sah Muttis lächelndes Gesicht nah über mir, während ich lustvoll trank und kuschelte.
Eigentlich war es doch ganz schön hier, in dieser grellen, lauten Welt.
Nach und nach beteiligte ich mich selbst an dem Geschehen, konnte lächeln, bald auch plappern und vor Freude juchzen. Vor allen Dingen konnte ich nach Herzenslust strampeln. Nur Traute schaute skeptisch. Ihr Prinzessinnendasein war nicht mehr das alte, jetzt gab es zwei Prinzessinnen. Und mein Vater? Das war der nette Herr, der gelegentlich zu Besuch kam und Geschenke mitbrachte. Die Großen meinten, er sei im Krieg. Was das auch war, ich nahm es hin, kannte es nicht anders.
Mein erstes Abenteuer ließ nicht lange auf sich warten.
Wölfchen, unser kleiner Bruder, war geboren worden und wir Mädel sollten beschäftigt werden. Über Nacht hatte Frau Holle einen weißen Teppich ausgebreitet. Jetzt funkelte er mit vielen kleinen Sternen in der Sonne. Ein netter Junge aus der Nachbarschaft lud uns ein zu einer Schlittenfahrt. Weit und breit gab es keine Berge, nicht einmal kleine Hügel. So setzten wir uns auf den Schlitten und er zog los mit uns. Auch sein Hund freute sich über die fröhliche Gesellschaft. Wir glitten vorbei an weißgepuderten Zäunen, an Briefkästen und Pfählen, die weiße Mützchen aufgesetzt hatten, an Sträuchern und Gräsern, die sich unter der Last zur Seite bogen. Der Schnee knirschte lustig unter den Kufen, gefrorene Pfützen knisterten wieder anders. Wir waren schön warm eingepackt, ich hätte es eine Weile so ausgehalten.
Doch wir kommen an einen Bach. Kleine Wellen kräuseln sich den Lauf entlang, plätschern munter in die Welt. Gerade hatte ich gelernt, im Winter kann man über Wasser fahren, weil es gefroren ist. Jetzt ist immer noch Winter und das Wasser im Bach ist nicht gefroren. Neugierig schaue ich den Wellen nach, wie sie immer weiter unter der Brücke verschwinden. Gerade so groß, dass ich mich auf dem Zwischensteg des Geländers aufstützen kann, kommt es, wie es kommen muss. Ich beuge mich so weit vor, bis ich direkten Kontakt mit ihnen habe.
Huch, ist das kalt.
Pudelnass stehe ich im Bach und verstehe die Welt nicht mehr. Der Hund des Nachbarn ist zuerst bei mir. Ganz erstaunt sehe ich ihn über mir an der Böschung, eben noch war er neben mir auf der Brücke. Meine Rolle durchs Geländer war perfekt, das Wasser nicht tief und mir geht es gut. Meine Bergung ist unproblematisch. Als Eiszapfen zu Hause angekommen, wärmt mich Mutti in ihrem Bett, heißer Holundersaft aus unserem Garten wärmt mich von innen.
Der Krieg rückte näher und näher. Ein kleiner Flughafen war nicht weit und Wünsdorf, das Hauptquartier des Heeres. Wie leicht konnte eine Bombe ihr Ziel verfehlen und uns treffen. Immer öfter saßen wir im engen Keller, fröstelnd, eng beieinander und verfolgten das bedrohliche Pfeifen. Wo wird sie wohl niedergehen? Wen wird es diesmal treffen?
Rechtzeitig hatten wir einen Notausstieg geprobt. Vor dem kleinen Fenster lag ein Sandsack. Würden wir Kinder es notfalls schaffen, ihn wegzuschieben und würden wir dann auch durchpassen? Wo der Kopf Platz fand, hatte auch unser kleiner Körper kein Problem. Wir passten durch. Das war ein ganz amüsantes Spiel. Noch jahrelang probierte ich jedes Gitter aus, ob ich auch durchpassen würde.
Bald bot sich die Chance, den schrecklichen Bombennächten zu entfliehen. Die Dorfschule in Biesenbrow war verwaist, der Lehrer in den Krieg beordert. Diese Nachricht erreichte auch
meine Mutter. Als Studienrätin mit den Fächern Deutsch
und Mathematik war sie gut gerüstet. Sie musste nicht
lange überlegen. Ohne zu zögern nahm sie die Stelle an.
Wir sollten also Ehm Welks Kummerow kennen lernen,
Kummerow im Bruch hinterm Berge, wo im Sommer
die Wolken weißer, die Farben kräftiger scheinen als anderswo.
Der Weg vom Bahnhof war ganz schön lang für meine kurzen Beine. Müde erreichte unser kleiner Trupp, Traute, Wölfi und ich im Schlepp meiner Mutter, endlich das Dorf, neugierig beäugt von den Bäuerinnen.
Das war also die neue Lehrerin.
Aber wie sprachen die denn? Ich verstand kein Wort. Mutti versuchte uns etwas Unverständliches zu erklären. Die Frauen machten jedoch keinen bösen Eindruck und leiteten uns gerne in das Pfarrhaus. Es sollte für die nächste Zeit unser Zuhause sein.
Der Krieg war nun weit weg, die Erwachsenen verschonten uns vor schlimmen Nachrichten. Männer gab es kaum im Dorf, das waren wir gewohnt.
Vor der Kirche, die das Pfarrhaus von der Schule trennt, breitete sich ein kleiner Teich aus. Der war insofern interessant, als ein riesiger Felsbrocken sich darin erhob, und majestätisch über allem Treiben wachte. Nur wer Mut hatte, konnte ihn mit zwei Sprüngen über einen anderen Stein erreichen. Wer dies geschafft hatte, thronte wie ein König vor dem kleinen Dorfplatz.
In den Schulpausen erfüllte ein vielstimmiges fröhliches Lachen die klare Luft. Ich mischte mich gerne unter die Schulkinder, sie ließen mich auch mitspielen. Wenn aber die Pause zu Ende ging, war es plötzlich einsam und still.
Einmal kommen die großen Jungs auf eine Idee:
„Komm doch einfach mit.“
„Ja, das wäre doch was“, ergänzt ein anderer.
„Meint ihr wirklich?“
„Das wird ein Riesengaudi.“
„Ich weiß nicht.“
„Na, deine Mutter wird Augen machen.“
Diesen Gedanken finde ich gut und muss unwillkürlich schmunzeln:
„Ja, prima.“
Nun sitze ich in dem einzigen Klassenraum zwischen den Großen in der letzten Reihe. Mit den Bänken kann man nicht einmal kippeln. Sie sind fest und stabil mit den Tischen verbunden
Hier mussten einst Martin Grambauer und Ulrike Breithaupt gesessen haben, die Heiden von Kummerow.
Ich kann alles gut überblicken. Die Kleinen sitzen vorne, haben artig ihre Schiefertafeln auf den Tisch gelegt und warten gespannt, was gleich passieren würde. Die etwas Größeren dahinter nehmen es lockerer, freuen sich diebisch auf die kommenden Ereignisse und ich throne stolz hier hinten bei den Großen. Die feixen über das ganze Gesicht.
Mein Hochgefühl, wie ein Schulkind hier zu sitzen, verliert sich schnell, als Mutti in die Klasse tritt. Ruhig und bestimmt bemerkt sie:
„Bärbel, du bist noch etwas klein für die Schule.“
Artig verlasse ich den Klassenraum.
Ich bin wohl wirklich noch zu klein.
Noch aufgewühlt von dem eben Erlebten, erobere ich mir den großen Stein im Teich und habe die ganze Welt für mich. Ich spüre den Wind auf meiner Haut, atme tief den Duft von frisch gemähtem Heu und schaue den weißen Wolken nach. Im matten Grün des Wassers spiegelt sich die Sonne wider, von Ferne schallt Hundegebell herüber. Ungestört kann ich träumen von der fremden Welt der Großen.
Im Winter kannten die Schulanfänger alle Buchstaben, sie konnten nun lesen. Einigen fiel es schwerer, sie hatten noch ihre Mühe mit den Texten. So jedoch nicht Traute. Sie hatte kein Verständnis dafür und prahlte laut:
„Pah, das kann ja meine kleine Schwester besser!“
„Du spinnst doch, das glaubst du doch selber nicht.
„Nee, wirklich, die kann das.“
Mit der kleinen Schwester war ich gemeint. Ich hatte meiner großen Schwester zwar manchmal bei den Schularbeiten zugesehen, interessierte mich auch für die einzelnen Buchstaben. Mein Lesen beschränkte sich jedoch auf die Straßennamen des Dorfes. Die anderen wollten es genau wissen. Sie zückten eilfertig die Fibel, schlugen ganz hinten den letzten Text auf. Ich sollte lesen. Ihre großen, verschwitzten Körper beugten sich von allen Seiten über mich. Mir wurde ganz schwummerig zumute. Alle wollten das Spektakel ganz nah erleben. Und ich las, las halbwegs flüssig die kleine Geschichte von einer Schmiede. Nur das „ Zischen“ wollte nicht richtig über meine Lippen. Die Großen staunten nicht schlecht und nahmen mich gleich auf in ihren Kreis, den Kreis der Schulkinder.
So wurde ich auch zum Kindergeburtstag ins Schloss eingeladen, sollte es nun von innen kennen lernen. Staunend betrat ich einen großen Saal und sah einen riesigen, bunt gedeckten Tisch, so groß, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Mit meiner Schwester saß ich ziemlich weit entfernt vom
Geburtstagskind, der Kuchen schmeckte trotzdem. Als Höhepunkt war eine Schlittenfahrt versprochen worden. Auch hier gab es keine Berge, nur weites, flaches Land. Dafür aber Pferde, die man vor die Schlitten spannen konnte, vor eine lange, fröhliche Schlittenschlange. Auf den Feldern hatte der Schnee alle Furchen und Hügel zugedeckt, mühelos trabte das Pferd über die weite Ebene. Ich fand es nicht lustig. Zusammen mit Traute hing ich am Ende der Schlittenschlange. Das Tempo war enorm. Ängstlich klammerte ich mich an den Schlitten, in ständiger Sorge, bei den forschen Schlenkern böse in den Schnee geschleudert zu werden. Erst als unser Schlitten weiter vorne vertaut wurde, genoss auch ich diese winterliche Fahrt.
Meine Mutter begann in Biesenbrow wieder zu malen. Mein Porträt blieb leider unvollendet. Die rote Schleife in meinem Haar strahlte schon deutlich aus dem Bild hervor. Auch schrieb sie Märchen und kleine Geschichten. Einst hatte sie ihre Kindheitserinnerungen aus dem 1. Weltkrieg niedergeschrieben und erfolgreich veröffentlicht. Jetzt hatte sie endlich wieder Muße zu schreiben. Später wird sie sagen, dass es ihre glücklichste Zeit gewesen sei.
Der Krieg machte auch um Biesenbrow keinen Bogen, die Erwachsenen wurden unruhig, konnten ihre Sorgen nicht mehr verbergen. Für uns Kinder wurden sichere Verstecke gesucht. Zwischen dem Ende des ausladenden Daches und der Decke fand sich ein kleiner Hohlraum, in den wir gerade reinpassten. Von hier oben konnte ich den gesamten Raum überblicken. Es machte mir Angst, wie eindringlich wir belehrt wurden, im Ernstfall, wenn die Soldaten kämen, absolut still zu sein, was auch passieren würde.
Die Großen sprachen immer öfter geheimnisvoll miteinander.
Ich bekam immer größere Ohren, lief zu meiner Freundin: „Hast du gehört, dort steht ein Zug mit Verwundeten?“
„Ja, am Bahnhof, wollen wir hin?“
„Wollen wir wirklich?“
„Ein Gleis soll kaputt sein, es werden nur Züge an die Front durchgelassen.“
Mutti hatte mein Lauschen bemerkt und mich davor gewarnt, dort hinzugehen. Nun erst richtig neugierig geworden, stahl ich mich mit meiner Freundin zum Bahnhof.
So also sah der Krieg aus:
Müde Männer in Uniform, leere traurige Augen.
Rauchend standen sie vor dem Zug,
kauerten wie verloren an der Böschung,
saßen oder lagen in den Abteilen.
Überall Verbände, schmutziggelb verkrustete Verbände.
Manchen fehlte ein Arm oder ein Bein.
Verschämt schlichen wir uns zurück ins Dorf.
Von Tag zu Tag wurde es unruhiger in Biesenbrow, viele wollten weg. Auch wir packten unsere Sachen, wollten wieder nach Berlin.
Auf dem Bahnhof angekommen, lärmte uns eine aufgeregte Menschenmenge entgegen. Schweißgetränkte Luft machte uns das Atmen schwer. Vorne standen Uniformierte und ließen niemand auf den Bahnsteig. Niemand sollte fliehen.
Wir waren nicht als Einheimische registriert, sie konnten uns nicht verwehren nach Hause zu fahren. Durch ein Spalier finster blickender Menschen folgten wir Mutter auf den Bahnsteig und in den Zug nach Berlin.