Читать книгу Ja. Aber... - Annebärbel Dr. Jungbluth - Страница 3
Gen Süden
ОглавлениеUnfreundlich und kalt empfängt uns der Bahnhof in Berlin. Kein Baum, kein Strauch, nur lange, graue Häuserschluchten. Wir steigen viele Stufen hinab in den Untergrund zur S-Bahn. Die Fahrt währt nicht lange, sie endet im Bahnhof Friedrichstraße.
Fliegeralarm!
Mit drei kleinen Kindern und viel Gepäck steht meine Mutter unten auf dem Bahnsteig und kann nur warten. Unser Zuhause noch weit weg.
Ich lasse meinen Blick gelangweilt durch die Halle schweifen.
Was ist das? Das muss ich näher betrachten.
Da kriechen Stufen langsam aus dem Boden, erheben sich und laufen immer höher. Ohne die geringste Anstrengung können die Menschen nach oben gelangen.
Das muss toll sein. Aber was wollen die denn da oben, wo doch Fliegeralarm ist?
Meine Neugierde ist übermächtig. Vorsichtig stelle auch ich meine Füße auf dieses Wunderband. Ich spüre ein angenehm leichtes Gefühl, werde sanft nach oben getragen. Plötzlich höre ich meinen Namen rufen, sehe Muttis erschrockenes Gesicht. Der Zauber ist verflogen. Oben angekommen laufen die Menschen in allen Richtungen auseinander.
Wie komme ich jetzt wieder zurück?
Eine Treppe nach unten kann ich nirgends finden. Alle eilen vorbei, niemand beachtet mich. Sie haben alle ein festes Ziel. Nur ich irre mit meinem schlechten Gewissen suchend hin und her.
„Mensch, du dumme Ziege“, tönt plötzlich hinter mir eine vertraute Stimme. Es klingt wie Engelsglocken. Schuldbewusst stehe ich vor meiner großen Schwester. „Nun komm schon“, ergänzt sie wütend. Sie kennt den Weg nach unten und muss meinen Leichtsinn wieder ausbügeln.
Endlich Entwarnung, es kann weitergehen. Die Bomben haben die Südstrecke beschädigt, wir müssen über den Ring ausweichen. Also wieder mit der Rolltreppe nach oben und diesmal in den Zug nach Ostkreuz steigen. Dicht an dicht drängen sich Menschen in die überfüllte S-Bahn, wir mitten unter ihnen. Sie schleicht sich nur mühsam vorwärts, schiebt sich von einem Haus zum nächsten. Sie stehen zum Greifen nah, direkt an der Bahntrasse.
Aber es sind keine Häuser mehr, die ich da sehe, nur absonderliche Gebilde:
Halbe Wohnzimmer,
manchmal hängt noch ein Bild an der Wand,
Treppen,
die im Nirgendwo enden,
Mauern,
die keinen Sinn mehr haben.
Feuer
knistert in den Abenddunst,
Hitze
spüren wir bis zu uns.
Weit und breit keine Feuerwehr.
Nur stummes, endloses Entsetzen.
Nach mühevollem Umsteigen am Ostkreuz, in Papestraße und langer Fahrt Richtung Süden, können wir endlich zu Hause ausschlafen.
Wie die meisten Menschen in dieser Zeit hatte auch meine Mutter Angst vor den Russen. Sie waren unsere Feinde gewesen in diesem Krieg. Unsere Väter hatten ihre Dörfer und Städte verbrannt und nun überrollten sie uns in unserem eigenen Land.
Was würde geschehen? Wie würden sie Vergeltung üben?
Schon seit einiger Zeit hatte sie den Entschluss gefasst, zu den Amerikanern zu entfliehen. Sie waren inzwischen in Thüringen einmarschiert. In Erfurt, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte, lebten noch Freunde und Bekannte von ihr. Ihnen hatte sie einige Sachen geschickt, wir würden nachkommen. Die Pakete kamen nie an, das erfuhren wir erst später.
Jetzt hatten wir ein festes Ziel. Aber wie sollten wir nach Erfurt gelangen? Die Bahn schied aus. Sie fuhr nicht zuverlässig und wenn sie fuhr, war es gefährlich. Zu oft hatte Mutter von Tieffliegern gehört. Auf freiem Gelände bot die Bahn ein gutes Angriffsziel, war den Fliegern schutzlos ausgeliefert. Dieses Risiko wollte sie nicht eingehen. Autos oder Benzin gab es nicht für Zivilisten. Wir mussten die Strecke von Berlin nach Erfurt zu Fuß bewältigen. Es kam nur eine lange Wanderung infrage. Gemeinsam mit Tante Inge, Muttis Schwester, und einer Bekannten stapften wir los. Die Route gen Süden eingeschlagen, trällerten wir immer mal ein munteres Lied. Manchmal pfiffen die Großen nur so vor sich hin. Ich wollte es ihnen gleichtun, brachte aber nur ein paar krude Töne hervor. Die Wanderung war jedoch lang genug, um es richtig zu lernen. Abends erzählte uns Mutti in irgendeiner Scheune schöne Geschichten. Auch von dem klugen, weitsichtigen Odysseus, der jedes Unglück mutig überwand. Besonders hat mir imponiert, wie er den einäugigen Zyklopen überlistet hatte. Der konnte nur um Hilfe schreien:
„Niemand hat mir ein Leid getan“,
weil Odysseus sich als Niemand ausgegeben hatte.
Nach solchen Geschichten schliefen wir wunderbar ein.
Die Frontlinien näherten sich von beiden Seiten. Um von einem Dorf zum nächsten zu gelangen, benötigten wir einen Passierschein. Zunächst funktionierte das ganz gut, schließlich erhielten wir keinen Schein mehr. Wir liefen auf entlegenen Feldwegen weiter. Eines Tages mussten wir unbedingt über eine größere Brücke. Die war militärstrategisch wichtig und wurde von Soldaten bewacht.
„Nicht lange überlegen“, berieten die Großen, „sie beobachten uns bereits.“
Beherzt gehen wir auf den Posten zu. Mutti und Tante Inge vertrauen auf die geographische Unkenntnis der fremden Soldaten. Sie ziehen den letzten, jetzt ungültigen Schein hervor, weisen temperamentvoll auf imaginäre Orte in der Ferne, reden, gestikulieren und reden auf sie ein, bis sie uns nur loswerden wollen. Mit der uns möglichen Eile rauschen wir den nächsten Feldweg entlang, im Nacken die Angst, sie könnten unseren Bluff noch entdecken.
Einige Tage später trafen wir auf gut gelaunte französische Soldaten, die nach Hause wollten. Der Krieg war zu Ende.
Deutschland existierte nicht mehr, nur noch Besatzungszonen. Wir wollten in die amerikanische, hatten also den gleichen Weg wie die Soldaten. Uns Kinder setzten sie auf ihren Wagen und flott ging es voran gen Westen. Eine vortreffliche Aussicht hatte ich auf ihrer Bagage. Die Elbe war schnell erreicht, doch hier war Stopp. Die Brücke war gesprengt worden.
Die Amerikaner hatten einen Fährverkehr eingerichtet. Die Franzosen konnten gleich in ihr Schnellboot einsteigen, wir sollten mit der nächsten Tour nachkommen. Unser Gepäck nahmen sie gleich mit und trösteten uns Kinder mit Blockschokolade aus ihrer Eisernen Reserve. Zum größten Teil wanderte diese Schokolade nun ihrerseits in unsere Eiserne Reserve. Jedes von uns Kindern besaß ein Köfferchen mit wichtigen Papieren, etwas Geld und Essbarem. Das war selbstverständlich. Niemand konnte wissen, ob wir nicht in irgendeinem Chaos getrennt würden und uns mutterseelenallein durchschlagen müssten. Jetzt landete auch leckere Schokolade in diesen Köfferchen.
Immer mehr heimkehrende Franzosen strebten in ihre Heimat, das Boot der Amerikaner wurde schnell voll. Für uns fand sich kein Platz mehr.
Immer mehr Zivilisten treffen ein, campieren wie wir neben der Straße und schauen sehnsuchtsvoll zum anderen Ufer. Von Ferne sehen wir, wie unsere Sachen neue Besitzer finden. Besonders traurig ist Mutter, als ein Soldat ihr schönes rotes Samtkleid prüfend in die Höhe hält, es für gut befindet und einsteckt. Es leuchtet wie eine Flagge zu uns herüber.
Ein findiger Einheimischer nutzt die Gelegenheit und macht sein Boot flott. Die Ersten steigen ein und fahren über den Fluss, ein breiter Frühlingsstrom zu dieser Zeit. Mit Sorge verfolgen wir die Fahrt, beobachten, wie das kleine Boot mit der starken Strömung kämpft. Wieder an unserem Ufer gelandet, ist es weit von uns entfernt. Auf dem unwegsamen Gelände gelangen wir erst zum Boot, als es bereits wieder voll ist.
„Das schaffen wir nie“, klagt Mutti „wir müssen uns etwas einfallen lassen.“
„Ja, ich denke auch “, meint Tante Inge, „ich werde vorlaufen und den Käp´ten überreden, auf uns zu warten.“ Gesagt, getan. Bei der nächsten Tour können wir als Erste einsteigen.
Aber was für ein Boot?! Alt und morsch. Gewiss war es bereits abgewrackt gewesen. Es gibt kein Zurück mehr. Mutti hält mit bloßen Händen ein Loch im Boden zu, andere schöpfen das eindringende Wasser wieder raus. Mutti ist keine gute Schwimmerin, Tante Inge vielleicht. Trübe, schmutzigbraune Brühe strudelt Richtung Norden, schlägt wuchtig gegen die Bordwand. Mühsam kämpft der Motor dagegen an. Trotzdem erreichen wir trockenen, festen Boden auf der anderen Seite.
Wir hatten wohl einen Schutzengel.
Noch heute lege ich regelmäßig eine Gedenkminute ein, wenn ich auf einer sicheren Brücke über die Elbe fahre.
Meine Mutter schien nun etwas entspannter auszuschreiten, wir befanden uns bereits im amerikanischen Sektor. Einige Kilometer vor unserem Ziel konnten wir auf die Ladefläche eines kleinen dreirädrigen Transporters steigen und rollten so der Stadt entgegen.
Voller Hoffnung und gesund, nach vier Wochen Wanderschaft, hatten wir Erfurt erreicht. Als Erstes überraschte mich eine Frau, die ihren Garten umgrub. Die Erde war so ganz anders, schwarz und fest, nicht so leicht und sandig, wie ich es von zu Hause aus kannte. Sie hatte ordentlich Mühe, die schwere Arbeit zu bewältigen, aber sie wollte anbauen und pflanzen. Der Krieg war wirklich zu Ende.
Wie erwartet stand in Berlin die Rote Armee. Keiner der westlichen Alliierten wollte auf die Reichshauptstadt verzichten. Sie wurde zerschnitten und aufgeteilt wie ein Kuchen, lieber verzichteten die Amerikaner auf Thüringen. Berlin wurde ein halbes Jahrhundert lang zur Frontstadt, zum Brennpunkt des Kalten Krieges zwischen Ost und West.
Wir sahen die Amerikaner noch in Erfurt, wie sie auf ihre LKWs sprangen und abfuhren. Der Sinn unserer Flucht war an der Realität zerplatzt. Weiter wollten wir nicht mehr.